tet nichts auf ein Vorwiegen jugendlich schöner, mehr zarter und weicher Bildungen; und dass ihm, wie Schorn1) meint, in seinem Dionysos "der Charakter des schwelgenden Sinnen- lebens, wo Geist und Seele sich nur betäubt und verschwom- men in höchster Sinnenlust offenbart", gelungen sei, muss schon um deswillen bezweifelt werden, weil diese Schilderung nur auf eine Darstellung des jugendlichen Gottes anwendbar ist, wie sie erst nach der Zeit des Myron durch Praxiteles ihre Ausbildung erhielt. Bei den Apollobildern dieser Epoche ist gleichfalls die strengere, mehr mannhafte Auffassung die überwiegende. Noch mehr aber lenken die kräftigen Heroen- gestalten eines Herakles und Perseus unsere Aufmerksamkeit auf den Ruhm, den sich Myron in athletischen Darstellungen erwarb. Mit besonderem Glanze treten aus dieser Klasse der Läufer Ladas und der Diskobol hervor. Endlich ist das Alter- thum voll von Bewunderung über die Thiere des Myron: Pli- nius findet einen Hund einer namentlichen Erwähnung würdig, Properz preist die vier Stiere in Rom; gleichsam das Symbol seines Ruhmes aber war die Kuh. Auf Athleten und Thier- bildungen müssen wir also bei der Beurtheilung des Künstlers unser Hauptaugenmerk richten. Aber auch Pythagoras war berühmt durch seine Athletenfiguren, so dass er sogar den Myron durch eine derselben übertroffen haben soll. Kalamis glänzte wenigstens in der Bildung eines Thieres, des Pferdes. Fand sich also vielleicht in der Person des Myron das Ver- dienst seiner beiden Zeitgenossen vereinigt? Eine genauere Prüfung der Nachrichten über einzelne Werke, in Verbindung mit den Urtheilen über seine Richtung im Allgemeinen, wird uns zeigen, dass wir es bei Myron mit einer neuen, we- sentlich verschiedenen Individualität zu thun haben, die, von andern Grundanschauungen ausgehend, auch zu andern Resul- taten gelangen musste.
Sechsunddreissig Epigramme sind uns erhalten, welche sämmtlich die Verherrlichung der myronischen Kuh zur Auf- gabe haben. Ueber die Stellung und die Bewegung erfahren wir freilich durch dieselben so gut wie nichts. Aber alle "prei- sen durchaus an ihr Wahrheit und Natürlichkeit, und wissen
1) Studien S. 269.
10 *
tet nichts auf ein Vorwiegen jugendlich schöner, mehr zarter und weicher Bildungen; und dass ihm, wie Schorn1) meint, in seinem Dionysos „der Charakter des schwelgenden Sinnen- lebens, wo Geist und Seele sich nur betäubt und verschwom- men in höchster Sinnenlust offenbart”, gelungen sei, muss schon um deswillen bezweifelt werden, weil diese Schilderung nur auf eine Darstellung des jugendlichen Gottes anwendbar ist, wie sie erst nach der Zeit des Myron durch Praxiteles ihre Ausbildung erhielt. Bei den Apollobildern dieser Epoche ist gleichfalls die strengere, mehr mannhafte Auffassung die überwiegende. Noch mehr aber lenken die kräftigen Heroen- gestalten eines Herakles und Perseus unsere Aufmerksamkeit auf den Ruhm, den sich Myron in athletischen Darstellungen erwarb. Mit besonderem Glanze treten aus dieser Klasse der Läufer Ladas und der Diskobol hervor. Endlich ist das Alter- thum voll von Bewunderung über die Thiere des Myron: Pli- nius findet einen Hund einer namentlichen Erwähnung würdig, Properz preist die vier Stiere in Rom; gleichsam das Symbol seines Ruhmes aber war die Kuh. Auf Athleten und Thier- bildungen müssen wir also bei der Beurtheilung des Künstlers unser Hauptaugenmerk richten. Aber auch Pythagoras war berühmt durch seine Athletenfiguren, so dass er sogar den Myron durch eine derselben übertroffen haben soll. Kalamis glänzte wenigstens in der Bildung eines Thieres, des Pferdes. Fand sich also vielleicht in der Person des Myron das Ver- dienst seiner beiden Zeitgenossen vereinigt? Eine genauere Prüfung der Nachrichten über einzelne Werke, in Verbindung mit den Urtheilen über seine Richtung im Allgemeinen, wird uns zeigen, dass wir es bei Myron mit einer neuen, we- sentlich verschiedenen Individualität zu thun haben, die, von andern Grundanschauungen ausgehend, auch zu andern Resul- taten gelangen musste.
Sechsunddreissig Epigramme sind uns erhalten, welche sämmtlich die Verherrlichung der myronischen Kuh zur Auf- gabe haben. Ueber die Stellung und die Bewegung erfahren wir freilich durch dieselben so gut wie nichts. Aber alle „prei- sen durchaus an ihr Wahrheit und Natürlichkeit, und wissen
1) Studien S. 269.
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tet nichts auf ein Vorwiegen jugendlich schöner, mehr zarter
und weicher Bildungen; und dass ihm, wie Schorn 1) meint,
in seinem Dionysos „der Charakter des schwelgenden Sinnen-
lebens, wo Geist und Seele sich nur betäubt und verschwom-
men in höchster Sinnenlust offenbart”, gelungen sei, muss
schon um deswillen bezweifelt werden, weil diese Schilderung
nur auf eine Darstellung des jugendlichen Gottes anwendbar
ist, wie sie erst nach der Zeit des Myron durch Praxiteles
ihre Ausbildung erhielt. Bei den Apollobildern dieser Epoche
ist gleichfalls die strengere, mehr mannhafte Auffassung die
überwiegende. Noch mehr aber lenken die kräftigen Heroen-
gestalten eines Herakles und Perseus unsere Aufmerksamkeit
auf den Ruhm, den sich Myron in athletischen Darstellungen
erwarb. Mit besonderem Glanze treten aus dieser Klasse der
Läufer Ladas und der Diskobol hervor. Endlich ist das Alter-
thum voll von Bewunderung über die Thiere des Myron: Pli-
nius findet einen Hund einer namentlichen Erwähnung würdig,
Properz preist die vier Stiere in Rom; gleichsam das Symbol
seines Ruhmes aber war die Kuh. Auf Athleten und Thier-
bildungen müssen wir also bei der Beurtheilung des Künstlers
unser Hauptaugenmerk richten. Aber auch Pythagoras war
berühmt durch seine Athletenfiguren, so dass er sogar den
Myron durch eine derselben übertroffen haben soll. Kalamis
glänzte wenigstens in der Bildung eines Thieres, des Pferdes.
Fand sich also vielleicht in der Person des Myron das Ver-
dienst seiner beiden Zeitgenossen vereinigt? Eine genauere
Prüfung der Nachrichten über einzelne Werke, in Verbindung
mit den Urtheilen über seine Richtung im Allgemeinen, wird
uns zeigen, dass wir es bei Myron mit einer neuen, we-
sentlich verschiedenen Individualität zu thun haben, die, von
andern Grundanschauungen ausgehend, auch zu andern Resul-
taten gelangen musste.
Sechsunddreissig Epigramme sind uns erhalten, welche
sämmtlich die Verherrlichung der myronischen Kuh zur Auf-
gabe haben. Ueber die Stellung und die Bewegung erfahren
wir freilich durch dieselben so gut wie nichts. Aber alle „prei-
sen durchaus an ihr Wahrheit und Natürlichkeit, und wissen
1) Studien S. 269.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/160>, abgerufen am 25.11.2024.
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