[Ob die von Ross (Kunstblatt 1840 n. 17) und Stephani (S. 7) publicirte Inschrift
[Abbildung]
sich auf ein Werk des Nesiotes bezieht, wie Bergk (a. a. O. S. 975) behauptet, muss ungewiss bleiben, da epoiesen nach Nesiotes fehlt, obwohl die Inschrift vollständig ist.
Noch weniger kann ich Bergk beistimmen, wenn er (Ztschr. f. Altw. 1847 S. 176) den Namen des Nesiotes mit den Wer- ken des Parthenon in Verbindung bringen will. Göttling hat nemlich an der Gruppe der Demeter und Persephone aus dem östlichen Giebel folgende Buchstaben gelesen ... E[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]E[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]INE ..., welche Bergk so ergänzen will: [o deina]..es epi Ne[siotou epoiesen]. Ein Schüler des Nesiotes soll demnach unter der Anweisung und Leitung dieses Meisters jene Gruppe gearbei- tet haben. Allein die Inschrift wäre in der vorgeschlagenen Fassung ganz ohne Beispiel. Dürfen wir überhaupt aus den wenigen Buchstaben etwas schliessen, so liegt die Deutung näher: epi, zur Zeit, als der und der die Aufsicht hatte oder die Rechnungen führte, sei die Gruppe abgeliefert oder auf- gestellt worden.]
Die Urtheile der Alten über den Styl dieser Künstler be- ziehen sich mehr auf den Gegensatz zwischen einer älteren un- vollendeten und einer neueren durchgebildeten Kunstübung, als dass sie uns das Unterscheidende zwischen den verschiedenen Schulen der früheren Zeit kennen lehrten. Quintilian1) nennt die Werke des Kallon und Hegesias härter und den tuscani- schen näher stehend im Verhältniss zu denen des Kalamis. Ausführlicher ist Lucian2). Er nennt die Werke des Hegias, Kritios und Nesiotes apesphigmena, zugeschnürt, knapp, also ohne Freiheit und Bewegung, neurode kai sklera, sehnig und trocken oder hart in Bezug auf die Ausführung, akribos apo- tetamena tais grammais, scharf abgeschnitten in der Zeichnung, den Umrissen, wohl in so fern als die einzelnen Theile sich scharf, ohne mildernde Uebergänge von einander absonderten.
1) XII, 10, 7.
2) Rhet. praec. 9.
[Ob die von Ross (Kunstblatt 1840 n. 17) und Stephani (S. 7) publicirte Inschrift
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sich auf ein Werk des Nesiotes bezieht, wie Bergk (a. a. O. S. 975) behauptet, muss ungewiss bleiben, da ἐποίησεν nach Νησιώτης fehlt, obwohl die Inschrift vollständig ist.
Noch weniger kann ich Bergk beistimmen, wenn er (Ztschr. f. Altw. 1847 S. 176) den Namen des Nesiotes mit den Wer- ken des Parthenon in Verbindung bringen will. Göttling hat nemlich an der Gruppe der Demeter und Persephone aus dem östlichen Giebel folgende Buchstaben gelesen ... Ε[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]Ε[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]ΙΝΕ ..., welche Bergk so ergänzen will: [ὁ δεῖνα]..ης ἐπὶ Νη[σιώτου ἐποίησεν]. Ein Schüler des Nesiotes soll demnach unter der Anweisung und Leitung dieses Meisters jene Gruppe gearbei- tet haben. Allein die Inschrift wäre in der vorgeschlagenen Fassung ganz ohne Beispiel. Dürfen wir überhaupt aus den wenigen Buchstaben etwas schliessen, so liegt die Deutung näher: ἐπὶ, zur Zeit, als der und der die Aufsicht hatte oder die Rechnungen führte, sei die Gruppe abgeliefert oder auf- gestellt worden.]
Die Urtheile der Alten über den Styl dieser Künstler be- ziehen sich mehr auf den Gegensatz zwischen einer älteren un- vollendeten und einer neueren durchgebildeten Kunstübung, als dass sie uns das Unterscheidende zwischen den verschiedenen Schulen der früheren Zeit kennen lehrten. Quintilian1) nennt die Werke des Kallon und Hegesias härter und den tuscani- schen näher stehend im Verhältniss zu denen des Kalamis. Ausführlicher ist Lucian2). Er nennt die Werke des Hegias, Kritios und Nesiotes ἀπεσφιγμένα, zugeschnürt, knapp, also ohne Freiheit und Bewegung, νευρώδη καὶ σκληρὰ, sehnig und trocken oder hart in Bezug auf die Ausführung, ἀκριβῶς ἀπο- τεταμένα ταῖς γραμμαῖς, scharf abgeschnitten in der Zeichnung, den Umrissen, wohl in so fern als die einzelnen Theile sich scharf, ohne mildernde Uebergänge von einander absonderten.
1) XII, 10, 7.
2) Rhet. praec. 9.
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[Ob die von Ross (Kunstblatt 1840 n. 17) und Stephani
(S. 7) publicirte Inschrift
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sich auf ein Werk des Nesiotes bezieht, wie Bergk (a. a. O.
S. 975) behauptet, muss ungewiss bleiben, da ἐποίησεν nach
Νησιώτης fehlt, obwohl die Inschrift vollständig ist.
Noch weniger kann ich Bergk beistimmen, wenn er (Ztschr.
f. Altw. 1847 S. 176) den Namen des Nesiotes mit den Wer-
ken des Parthenon in Verbindung bringen will. Göttling hat
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Anweisung und Leitung dieses Meisters jene Gruppe gearbei-
tet haben. Allein die Inschrift wäre in der vorgeschlagenen
Fassung ganz ohne Beispiel. Dürfen wir überhaupt aus den
wenigen Buchstaben etwas schliessen, so liegt die Deutung
näher: ἐπὶ, zur Zeit, als der und der die Aufsicht hatte oder
die Rechnungen führte, sei die Gruppe abgeliefert oder auf-
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Die Urtheile der Alten über den Styl dieser Künstler be-
ziehen sich mehr auf den Gegensatz zwischen einer älteren un-
vollendeten und einer neueren durchgebildeten Kunstübung, als
dass sie uns das Unterscheidende zwischen den verschiedenen
Schulen der früheren Zeit kennen lehrten. Quintilian 1) nennt
die Werke des Kallon und Hegesias härter und den tuscani-
schen näher stehend im Verhältniss zu denen des Kalamis.
Ausführlicher ist Lucian 2). Er nennt die Werke des Hegias,
Kritios und Nesiotes ἀπεσφιγμένα, zugeschnürt, knapp, also
ohne Freiheit und Bewegung, νευρώδη καὶ σκληρὰ, sehnig und
trocken oder hart in Bezug auf die Ausführung, ἀκριβῶς ἀπο-
τεταμένα ταῖς γραμμαῖς, scharf abgeschnitten in der Zeichnung,
den Umrissen, wohl in so fern als die einzelnen Theile sich
scharf, ohne mildernde Uebergänge von einander absonderten.
1) XII, 10, 7.
2) Rhet. praec. 9.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/117>, abgerufen am 22.11.2024.
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