historischer Zeit durch die schwankenden Angaben der Sage zu verwirren. Streichen wir einfach seine Erzählung von der kretischen Wanderung des Endoeos, so ist alle und jede Schwierigkeit gelöst. Der Künstler nimmt seinen festen Platz um Ol. 70 ein, und danach ist es nicht unmöglich, dass der- jenige Kallias, welcher das eine Werk des Endoeos weihte, der zweite des bekannten Geschlechtes war, der durch die Er- werbung seiner Schätze nach der Schlacht von Marathon be- rühmte und berüchtigte Lakkoploutos, derselbe vielleicht, dem später Kalamis ein Bild der Aphrodite machte.
Die Werke des Endoeos waren vorzugsweise Götterbilder. Bedenken wir nun, wie streng die Religion vor Phidias an althergebrachten Formen festhielt, so lässt sich auch hierin ein Grund dafür finden, dass Endoeos mehr, als ein anderer, Daedalide genannt werden konnte. Wir nehmen einmal einen Augenblick als gesichert an, was zunächst nur als eine Mög- lichkeit zuzugeben ist, dass die oben erwähnte noch erhaltene Pallas wirklich ein Werk des Endoeos sei: was wird ein un- kritischer Beschauer von ihr urtheilen? Dass sie ein steifes höchst alterthümliches Werk sei, weit abstehend von der Ent- wickelung der Zeit des Phidias. Und doch steht sie derselben nahe genug, wie z. B. Schöll sehr richtig gefühlt hat. Da- durch mögen wir uns zur Vorsicht mahnen lassen, dass wir nicht einer vereinzelten Angabe zum Opfer bringen, was sich aus dem Einklange äusserer und innerer Gründe als ge- sichertes Ergebniss herausstellt.
Hegias oder Hegesias, Kritios und Nesiotes.
Plinius1) führt Kritios, Nesiotes und Hegias als Zeitgenossen unter Ol. 84 an. Pausanias2) nennt Hegias dem Ageladas und Onatas gleichzeitig. Bei Lucian3) aber finden wir als Künst- ler der alten Schule in derselben Verbindung mit Kritios und Nesiotes den Hegesias, und Quintilian4) stellt Hegesias auf die gleiche Stufe der Kunst mit Kallon und vor Kalamis. Alle diese Nachrichten stimmen in Betreff der Zeit, des Charakters, der Genossenschaft so überein, dass Thiersch's5) Ansicht von der Identität der Namen des Hegias und Hegesias sich gewiss allgemeiner Anerkennung erfreut haben würde, bildete nicht
1) 34, 49.
2) VIII, 42, 5.
3) Rhet. praec. 9.
4) XII, 10, 7.
5) Ep. Not. S. 36.
historischer Zeit durch die schwankenden Angaben der Sage zu verwirren. Streichen wir einfach seine Erzählung von der kretischen Wanderung des Endoeos, so ist alle und jede Schwierigkeit gelöst. Der Künstler nimmt seinen festen Platz um Ol. 70 ein, und danach ist es nicht unmöglich, dass der- jenige Kallias, welcher das eine Werk des Endoeos weihte, der zweite des bekannten Geschlechtes war, der durch die Er- werbung seiner Schätze nach der Schlacht von Marathon be- rühmte und berüchtigte Λακκόπλουτος, derselbe vielleicht, dem später Kalamis ein Bild der Aphrodite machte.
Die Werke des Endoeos waren vorzugsweise Götterbilder. Bedenken wir nun, wie streng die Religion vor Phidias an althergebrachten Formen festhielt, so lässt sich auch hierin ein Grund dafür finden, dass Endoeos mehr, als ein anderer, Daedalide genannt werden konnte. Wir nehmen einmal einen Augenblick als gesichert an, was zunächst nur als eine Mög- lichkeit zuzugeben ist, dass die oben erwähnte noch erhaltene Pallas wirklich ein Werk des Endoeos sei: was wird ein un- kritischer Beschauer von ihr urtheilen? Dass sie ein steifes höchst alterthümliches Werk sei, weit abstehend von der Ent- wickelung der Zeit des Phidias. Und doch steht sie derselben nahe genug, wie z. B. Schöll sehr richtig gefühlt hat. Da- durch mögen wir uns zur Vorsicht mahnen lassen, dass wir nicht einer vereinzelten Angabe zum Opfer bringen, was sich aus dem Einklange äusserer und innerer Gründe als ge- sichertes Ergebniss herausstellt.
Hegias oder Hegesias, Kritios und Nesiotes.
Plinius1) führt Kritios, Nesiotes und Hegias als Zeitgenossen unter Ol. 84 an. Pausanias2) nennt Hegias dem Ageladas und Onatas gleichzeitig. Bei Lucian3) aber finden wir als Künst- ler der alten Schule in derselben Verbindung mit Kritios und Nesiotes den Hegesias, und Quintilian4) stellt Hegesias auf die gleiche Stufe der Kunst mit Kallon und vor Kalamis. Alle diese Nachrichten stimmen in Betreff der Zeit, des Charakters, der Genossenschaft so überein, dass Thiersch’s5) Ansicht von der Identität der Namen des Hegias und Hegesias sich gewiss allgemeiner Anerkennung erfreut haben würde, bildete nicht
1) 34, 49.
2) VIII, 42, 5.
3) Rhet. praec. 9.
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5) Ep. Not. S. 36.
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um Ol. 70 ein, und danach ist es nicht unmöglich, dass der-
jenige Kallias, welcher das eine Werk des Endoeos weihte,
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werbung seiner Schätze nach der Schlacht von Marathon be-
rühmte und berüchtigte Λακκόπλουτος, derselbe vielleicht, dem
später Kalamis ein Bild der Aphrodite machte.
Die Werke des Endoeos waren vorzugsweise Götterbilder.
Bedenken wir nun, wie streng die Religion vor Phidias an
althergebrachten Formen festhielt, so lässt sich auch hierin
ein Grund dafür finden, dass Endoeos mehr, als ein anderer,
Daedalide genannt werden konnte. Wir nehmen einmal einen
Augenblick als gesichert an, was zunächst nur als eine Mög-
lichkeit zuzugeben ist, dass die oben erwähnte noch erhaltene
Pallas wirklich ein Werk des Endoeos sei: was wird ein un-
kritischer Beschauer von ihr urtheilen? Dass sie ein steifes
höchst alterthümliches Werk sei, weit abstehend von der Ent-
wickelung der Zeit des Phidias. Und doch steht sie derselben
nahe genug, wie z. B. Schöll sehr richtig gefühlt hat. Da-
durch mögen wir uns zur Vorsicht mahnen lassen, dass wir
nicht einer vereinzelten Angabe zum Opfer bringen, was
sich aus dem Einklange äusserer und innerer Gründe als ge-
sichertes Ergebniss herausstellt.
Hegias oder Hegesias, Kritios und Nesiotes.
Plinius 1) führt Kritios, Nesiotes und Hegias als Zeitgenossen
unter Ol. 84 an. Pausanias 2) nennt Hegias dem Ageladas und
Onatas gleichzeitig. Bei Lucian 3) aber finden wir als Künst-
ler der alten Schule in derselben Verbindung mit Kritios und
Nesiotes den Hegesias, und Quintilian 4) stellt Hegesias auf
die gleiche Stufe der Kunst mit Kallon und vor Kalamis. Alle
diese Nachrichten stimmen in Betreff der Zeit, des Charakters,
der Genossenschaft so überein, dass Thiersch’s 5) Ansicht von
der Identität der Namen des Hegias und Hegesias sich gewiss
allgemeiner Anerkennung erfreut haben würde, bildete nicht
1) 34, 49.
2) VIII, 42, 5.
3) Rhet. praec. 9.
4) XII, 10, 7.
5) Ep.
Not. S. 36.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/114>, abgerufen am 09.11.2024.
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