Flieht sie; eilet man ihr nach: fällt sie; hänget man ihr an. Oefters hat die Welt durch Lust uns vom Schöpfer ab- gezogen, Jtzt ist sie so voller Leid, daß man von ihr sagen kann, Sie schick' uns dem Schöpfer zu. Laßt uns denn, da- durch bewogen, Gehn, da wir gesendet werden! gehen, da man gehen muß! Da der Kerker sich eröffnet, warum faßt man nicht den Schluß, Jhn mit Freuden zu verlassen? warum lassen wir uns doch Wider Willen aus ihm reißen? weil wir, leider! unser Joch, Unsre Plag- und Ketten lieben: und, durch Meynungen verführt, Deren Falschheit wir doch kennen, man sich mehrentheils vergnüget, Daß wir andere betriegen, oder daß man uns betrieget. Es wird, wie wir es erfahren, solche Lieb' in uns ver- spürt Auch zum jämmerlichsten Leben, daß man vor der Ar- zeney Selbst erschrickt, und nicht verlangt, daß uns ausgeholfen sey. Möchte man mit Seneca sich entschließen, so zu sagen: "O wie wenig kennen die ihren Jammer, ihre Plagen, "Die den Tod, wodurch wir uns von so vielem Kummer trennen, "Als die herrlichste Erfindung der Natur, nicht aner- kennen!
Dieses
Anleitung
Flieht ſie; eilet man ihr nach: faͤllt ſie; haͤnget man ihr an. Oefters hat die Welt durch Luſt uns vom Schoͤpfer ab- gezogen, Jtzt iſt ſie ſo voller Leid, daß man von ihr ſagen kann, Sie ſchick’ uns dem Schoͤpfer zu. Laßt uns denn, da- durch bewogen, Gehn, da wir geſendet werden! gehen, da man gehen muß! Da der Kerker ſich eroͤffnet, warum faßt man nicht den Schluß, Jhn mit Freuden zu verlaſſen? warum laſſen wir uns doch Wider Willen aus ihm reißen? weil wir, leider! unſer Joch, Unſre Plag- und Ketten lieben: und, durch Meynungen verfuͤhrt, Deren Falſchheit wir doch kennen, man ſich mehrentheils vergnuͤget, Daß wir andere betriegen, oder daß man uns betrieget. Es wird, wie wir es erfahren, ſolche Lieb’ in uns ver- ſpuͤrt Auch zum jaͤmmerlichſten Leben, daß man vor der Ar- zeney Selbſt erſchrickt, und nicht verlangt, daß uns ausgeholfen ſey. Moͤchte man mit Seneca ſich entſchließen, ſo zu ſagen: „O wie wenig kennen die ihren Jammer, ihre Plagen, „Die den Tod, wodurch wir uns von ſo vielem Kummer trennen, „Als die herrlichſte Erfindung der Natur, nicht aner- kennen!
Dieſes
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Anleitung
Flieht ſie; eilet man ihr nach: faͤllt ſie; haͤnget man
ihr an.
Oefters hat die Welt durch Luſt uns vom Schoͤpfer ab-
gezogen,
Jtzt iſt ſie ſo voller Leid, daß man von ihr ſagen kann,
Sie ſchick’ uns dem Schoͤpfer zu. Laßt uns denn, da-
durch bewogen,
Gehn, da wir geſendet werden! gehen, da man gehen
muß!
Da der Kerker ſich eroͤffnet, warum faßt man nicht den
Schluß,
Jhn mit Freuden zu verlaſſen? warum laſſen wir uns
doch
Wider Willen aus ihm reißen? weil wir, leider! unſer
Joch,
Unſre Plag- und Ketten lieben: und, durch Meynungen
verfuͤhrt,
Deren Falſchheit wir doch kennen, man ſich mehrentheils
vergnuͤget,
Daß wir andere betriegen, oder daß man uns betrieget.
Es wird, wie wir es erfahren, ſolche Lieb’ in uns ver-
ſpuͤrt
Auch zum jaͤmmerlichſten Leben, daß man vor der Ar-
zeney
Selbſt erſchrickt, und nicht verlangt, daß uns ausgeholfen
ſey.
Moͤchte man mit Seneca ſich entſchließen, ſo zu ſagen:
„O wie wenig kennen die ihren Jammer, ihre Plagen,
„Die den Tod, wodurch wir uns von ſo vielem Kummer
trennen,
„Als die herrlichſte Erfindung der Natur, nicht aner-
kennen!
Dieſes
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Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/598>, abgerufen am 22.11.2024.
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