Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.

Bild:
<< vorherige Seite
Muthwillige Blindheit.
Ach, laßt uns, da wir ja in andern Sachen
Nicht schläfrig sind, doch auch zu GOttes Ehren
wachen!

Weil für sein Werck, das er so wunderbar geschaffen,
Die Seele leider scheint beständig fort zu schlaffen.
Denn weniger, als wir von GOttes Wundern sehn
Jm Wachen, kann es fast im Schlaffen nicht geschehn.
Bey den Gedancken fällt mir ein,
Was unlängst soll von Philopotamus
Geschehen und gesprochen seyn:
Nachdem derselbe sich fast gäntzlich blind gesoffen,
Sagt ihm sein Artzt: wofern er nicht
Sein meist bereits verlohrenes Gesicht
Wollt' überall verliehren; müste Wein
Durchaus nicht mehr von ihm getruncken seyn.
Nun was geschicht?
Er sieht ein grosses Glaß voll Wein von ungefehr,
Ergreift es alsobald, schlägt hin und her
Mit seiner dürren Zung', und spricht:
Zu guter Nacht, geliebtes Augen-Licht!
Mit diesem setzt ers an und macht das Wein-Glas
leer.

Fast jeder wird ob dieser That erschrecken;
Doch muß ich vielen dies, zur höchsten Scham, ent-
decken:

Es machte Philopotamus
Durch die Begier sich leiblich blind;
Allein wie manches Menschen-Kind
Spricht
Muthwillige Blindheit.
Ach, laßt uns, da wir ja in andern Sachen
Nicht ſchlaͤfrig ſind, doch auch zu GOttes Ehren
wachen!

Weil fuͤr ſein Werck, das er ſo wunderbar geſchaffen,
Die Seele leider ſcheint beſtaͤndig fort zu ſchlaffen.
Denn weniger, als wir von GOttes Wundern ſehn
Jm Wachen, kann es faſt im Schlaffen nicht geſchehn.
Bey den Gedancken faͤllt mir ein,
Was unlaͤngſt ſoll von Philopotamus
Geſchehen und geſprochen ſeyn:
Nachdem derſelbe ſich faſt gaͤntzlich blind geſoffen,
Sagt ihm ſein Artzt: wofern er nicht
Sein meiſt bereits verlohrenes Geſicht
Wollt’ uͤberall verliehren; muͤſte Wein
Durchaus nicht mehr von ihm getruncken ſeyn.
Nun was geſchicht?
Er ſieht ein groſſes Glaß voll Wein von ungefehr,
Ergreift es alſobald, ſchlaͤgt hin und her
Mit ſeiner duͤrren Zung’, und ſpricht:
Zu guter Nacht, geliebtes Augen-Licht!
Mit dieſem ſetzt ers an und macht das Wein-Glas
leer.

Faſt jeder wird ob dieſer That erſchrecken;
Doch muß ich vielen dies, zur hoͤchſten Scham, ent-
decken:

Es machte Philopotamus
Durch die Begier ſich leiblich blind;
Allein wie manches Menſchen-Kind
Spricht
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0196" n="180"/>
        <lg type="poem">
          <head> <hi rendition="#b">Muthwillige Blindheit.</hi> </head><lb/>
          <lg n="1">
            <l><hi rendition="#in">A</hi>ch, laßt uns, da wir ja in andern Sachen</l><lb/>
            <l>Nicht &#x017F;chla&#x0364;frig &#x017F;ind, doch auch zu GOttes Ehren<lb/><hi rendition="#et">wachen!</hi></l><lb/>
            <l>Weil fu&#x0364;r &#x017F;ein Werck, das er &#x017F;o wunderbar ge&#x017F;chaffen,</l><lb/>
            <l>Die Seele leider &#x017F;cheint be&#x017F;ta&#x0364;ndig fort zu &#x017F;chlaffen.</l><lb/>
            <l>Denn weniger, als wir von GOttes Wundern &#x017F;ehn</l><lb/>
            <l>Jm Wachen, kann es fa&#x017F;t im Schlaffen nicht ge&#x017F;chehn.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="2">
            <l>Bey den Gedancken fa&#x0364;llt mir ein,</l><lb/>
            <l>Was unla&#x0364;ng&#x017F;t &#x017F;oll von Philopotamus</l><lb/>
            <l>Ge&#x017F;chehen und ge&#x017F;prochen &#x017F;eyn:</l><lb/>
            <l>Nachdem der&#x017F;elbe &#x017F;ich fa&#x017F;t ga&#x0364;ntzlich blind ge&#x017F;offen,</l><lb/>
            <l>Sagt ihm &#x017F;ein Artzt: wofern er nicht</l><lb/>
            <l>Sein mei&#x017F;t bereits verlohrenes Ge&#x017F;icht</l><lb/>
            <l>Wollt&#x2019; u&#x0364;berall verliehren; mu&#x0364;&#x017F;te Wein</l><lb/>
            <l>Durchaus nicht mehr von ihm getruncken &#x017F;eyn.</l><lb/>
            <l>Nun was ge&#x017F;chicht?</l><lb/>
            <l>Er &#x017F;ieht ein gro&#x017F;&#x017F;es Glaß voll Wein von ungefehr,</l><lb/>
            <l>Ergreift es al&#x017F;obald, &#x017F;chla&#x0364;gt hin und her</l><lb/>
            <l>Mit &#x017F;einer du&#x0364;rren Zung&#x2019;, und &#x017F;pricht:</l><lb/>
            <l>Zu guter Nacht, geliebtes Augen-Licht!</l><lb/>
            <l>Mit die&#x017F;em &#x017F;etzt ers an und macht das Wein-Glas<lb/><hi rendition="#et">leer.</hi></l><lb/>
            <l>Fa&#x017F;t jeder wird ob die&#x017F;er That er&#x017F;chrecken;</l><lb/>
            <l>Doch muß ich vielen dies, zur ho&#x0364;ch&#x017F;ten Scham, ent-<lb/><hi rendition="#et">decken:</hi></l><lb/>
            <l>Es machte Philopotamus</l><lb/>
            <l>Durch die Begier &#x017F;ich leiblich blind;</l><lb/>
            <l>Allein wie manches Men&#x017F;chen-Kind</l>
          </lg><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Spricht</fw><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0196] Muthwillige Blindheit. Ach, laßt uns, da wir ja in andern Sachen Nicht ſchlaͤfrig ſind, doch auch zu GOttes Ehren wachen! Weil fuͤr ſein Werck, das er ſo wunderbar geſchaffen, Die Seele leider ſcheint beſtaͤndig fort zu ſchlaffen. Denn weniger, als wir von GOttes Wundern ſehn Jm Wachen, kann es faſt im Schlaffen nicht geſchehn. Bey den Gedancken faͤllt mir ein, Was unlaͤngſt ſoll von Philopotamus Geſchehen und geſprochen ſeyn: Nachdem derſelbe ſich faſt gaͤntzlich blind geſoffen, Sagt ihm ſein Artzt: wofern er nicht Sein meiſt bereits verlohrenes Geſicht Wollt’ uͤberall verliehren; muͤſte Wein Durchaus nicht mehr von ihm getruncken ſeyn. Nun was geſchicht? Er ſieht ein groſſes Glaß voll Wein von ungefehr, Ergreift es alſobald, ſchlaͤgt hin und her Mit ſeiner duͤrren Zung’, und ſpricht: Zu guter Nacht, geliebtes Augen-Licht! Mit dieſem ſetzt ers an und macht das Wein-Glas leer. Faſt jeder wird ob dieſer That erſchrecken; Doch muß ich vielen dies, zur hoͤchſten Scham, ent- decken: Es machte Philopotamus Durch die Begier ſich leiblich blind; Allein wie manches Menſchen-Kind Spricht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/196
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/196>, abgerufen am 02.05.2024.