Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.Muthwillige Blindheit. Ach, laßt uns, da wir ja in andern Sachen Nicht schläfrig sind, doch auch zu GOttes Ehren wachen! Weil für sein Werck, das er so wunderbar geschaffen, Die Seele leider scheint beständig fort zu schlaffen. Denn weniger, als wir von GOttes Wundern sehn Jm Wachen, kann es fast im Schlaffen nicht geschehn. Bey den Gedancken fällt mir ein, Was unlängst soll von Philopotamus Geschehen und gesprochen seyn: Nachdem derselbe sich fast gäntzlich blind gesoffen, Sagt ihm sein Artzt: wofern er nicht Sein meist bereits verlohrenes Gesicht Wollt' überall verliehren; müste Wein Durchaus nicht mehr von ihm getruncken seyn. Nun was geschicht? Er sieht ein grosses Glaß voll Wein von ungefehr, Ergreift es alsobald, schlägt hin und her Mit seiner dürren Zung', und spricht: Zu guter Nacht, geliebtes Augen-Licht! Mit diesem setzt ers an und macht das Wein-Glas leer. Fast jeder wird ob dieser That erschrecken; Doch muß ich vielen dies, zur höchsten Scham, ent- decken: Es machte Philopotamus Durch die Begier sich leiblich blind; Allein wie manches Menschen-Kind Spricht
Muthwillige Blindheit. Ach, laßt uns, da wir ja in andern Sachen Nicht ſchlaͤfrig ſind, doch auch zu GOttes Ehren wachen! Weil fuͤr ſein Werck, das er ſo wunderbar geſchaffen, Die Seele leider ſcheint beſtaͤndig fort zu ſchlaffen. Denn weniger, als wir von GOttes Wundern ſehn Jm Wachen, kann es faſt im Schlaffen nicht geſchehn. Bey den Gedancken faͤllt mir ein, Was unlaͤngſt ſoll von Philopotamus Geſchehen und geſprochen ſeyn: Nachdem derſelbe ſich faſt gaͤntzlich blind geſoffen, Sagt ihm ſein Artzt: wofern er nicht Sein meiſt bereits verlohrenes Geſicht Wollt’ uͤberall verliehren; muͤſte Wein Durchaus nicht mehr von ihm getruncken ſeyn. Nun was geſchicht? Er ſieht ein groſſes Glaß voll Wein von ungefehr, Ergreift es alſobald, ſchlaͤgt hin und her Mit ſeiner duͤrren Zung’, und ſpricht: Zu guter Nacht, geliebtes Augen-Licht! Mit dieſem ſetzt ers an und macht das Wein-Glas leer. Faſt jeder wird ob dieſer That erſchrecken; Doch muß ich vielen dies, zur hoͤchſten Scham, ent- decken: Es machte Philopotamus Durch die Begier ſich leiblich blind; Allein wie manches Menſchen-Kind Spricht
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Muthwillige Blindheit.
Ach, laßt uns, da wir ja in andern Sachen
Nicht ſchlaͤfrig ſind, doch auch zu GOttes Ehren
wachen!
Weil fuͤr ſein Werck, das er ſo wunderbar geſchaffen,
Die Seele leider ſcheint beſtaͤndig fort zu ſchlaffen.
Denn weniger, als wir von GOttes Wundern ſehn
Jm Wachen, kann es faſt im Schlaffen nicht geſchehn.
Bey den Gedancken faͤllt mir ein,
Was unlaͤngſt ſoll von Philopotamus
Geſchehen und geſprochen ſeyn:
Nachdem derſelbe ſich faſt gaͤntzlich blind geſoffen,
Sagt ihm ſein Artzt: wofern er nicht
Sein meiſt bereits verlohrenes Geſicht
Wollt’ uͤberall verliehren; muͤſte Wein
Durchaus nicht mehr von ihm getruncken ſeyn.
Nun was geſchicht?
Er ſieht ein groſſes Glaß voll Wein von ungefehr,
Ergreift es alſobald, ſchlaͤgt hin und her
Mit ſeiner duͤrren Zung’, und ſpricht:
Zu guter Nacht, geliebtes Augen-Licht!
Mit dieſem ſetzt ers an und macht das Wein-Glas
leer.
Faſt jeder wird ob dieſer That erſchrecken;
Doch muß ich vielen dies, zur hoͤchſten Scham, ent-
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