Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 4. 2. Aufl. Hamburg, 1735.

Bild:
<< vorherige Seite
bey dem 1729. Jahres-Wechsel, etc.
Was ist es eigentlich, was wir vergangen nennen?
Ein Etwas, so wir nicht mehr hören, sehn,
Empfinden, riechen, schmecken können.
Die Tage, die dahin, die Zeiten, die vergehn,
Sind Sachen ebenfalls, wovon man glaubt zu fassen,
Daß sie nicht mehr, und daß sie uns verlassen.
Von Cörpern, wann sie sich verändern, sprechen wir,
Daß, da sie aufgelös't, ihr Wesen sich verlier.
Wenn Regiment' und Reiche, die entstanden,
Durch Zufäll' untergehn; sie sind nicht mehr verhanden,
Spricht ieder, sie sind fort. Was Menschen ie gethan,
Erzeuget, ausgewirckt, zerstört, erbaut, erdacht,
Gefüget und getrennt, begonnen und vollbracht,
Sieht man, wann es vorbey, nicht anders an,
Als zeigte sich davon, im Schoosse der Natur,
Nicht die geringste Spur.
Allein, wie wär es doch, wenn etwa blos der Schein,
Der uns so oft getäuscht, uns auch in diesem täuschte?
Und wenn die Würdigkeit der Sachen nicht allein,
Auch unser eignes Wol, auch andre Schlüss' erheischte?
Es wirft der Mensch sich selbst zu einem Richter auf,
Er misset, was er sieht, nach seinem eignen Leiste:
Mit seinem irrenden und ungewissen Geiste
Beurtheilt er die Welt, und aller Himmel Lauff.
Ob die Vernunft uns gleich, nebst der Erfahrung, lehret;
Daß wenig, ja fast nichts, vor seinen Stuhl gehöret.
Uns deucht: Ein Ding ist weg: weg ist es, hört man dich
Gleich sprechen; und du kennst nicht, was denn eigentlich
Zu-
E e 5
bey dem 1729. Jahres-Wechſel, ꝛc.
Was iſt es eigentlich, was wir vergangen nennen?
Ein Etwas, ſo wir nicht mehr hoͤren, ſehn,
Empfinden, riechen, ſchmecken koͤnnen.
Die Tage, die dahin, die Zeiten, die vergehn,
Sind Sachen ebenfalls, wovon man glaubt zu faſſen,
Daß ſie nicht mehr, und daß ſie uns verlaſſen.
Von Coͤrpern, wann ſie ſich veraͤndern, ſprechen wir,
Daß, da ſie aufgeloͤſ’t, ihr Weſen ſich verlier.
Wenn Regiment’ und Reiche, die entſtanden,
Durch Zufaͤll’ untergehn; ſie ſind nicht mehr verhanden,
Spricht ieder, ſie ſind fort. Was Menſchen ie gethan,
Erzeuget, ausgewirckt, zerſtoͤrt, erbaut, erdacht,
Gefuͤget und getrennt, begonnen und vollbracht,
Sieht man, wann es vorbey, nicht anders an,
Als zeigte ſich davon, im Schooſſe der Natur,
Nicht die geringſte Spur.
Allein, wie waͤr es doch, wenn etwa blos der Schein,
Der uns ſo oft getaͤuſcht, uns auch in dieſem taͤuſchte?
Und wenn die Wuͤrdigkeit der Sachen nicht allein,
Auch unſer eignes Wol, auch andre Schluͤſſ’ erheiſchte?
Es wirft der Menſch ſich ſelbſt zu einem Richter auf,
Er miſſet, was er ſieht, nach ſeinem eignen Leiſte:
Mit ſeinem irrenden und ungewiſſen Geiſte
Beurtheilt er die Welt, und aller Himmel Lauff.
Ob die Vernunft uns gleich, nebſt der Erfahrung, lehret;
Daß wenig, ja faſt nichts, vor ſeinen Stuhl gehoͤret.
Uns deucht: Ein Ding iſt weg: weg iſt es, hoͤrt man dich
Gleich ſprechen; und du kennſt nicht, was denn eigentlich
Zu-
E e 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0473" n="441"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">bey dem 1729. Jahres-Wech&#x017F;el, &#xA75B;c.</hi> </fw><lb/>
            <lg n="14">
              <l>Was i&#x017F;t es eigentlich, was wir vergangen nennen?</l><lb/>
              <l>Ein Etwas, &#x017F;o wir nicht mehr ho&#x0364;ren, &#x017F;ehn,</l><lb/>
              <l>Empfinden, riechen, &#x017F;chmecken ko&#x0364;nnen.</l><lb/>
              <l>Die Tage, die dahin, die Zeiten, die vergehn,</l><lb/>
              <l>Sind Sachen ebenfalls, wovon man glaubt zu fa&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Daß &#x017F;ie nicht mehr, und daß &#x017F;ie uns verla&#x017F;&#x017F;en.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="15">
              <l>Von Co&#x0364;rpern, wann &#x017F;ie &#x017F;ich vera&#x0364;ndern, &#x017F;prechen wir,</l><lb/>
              <l>Daß, da &#x017F;ie aufgelo&#x0364;&#x017F;&#x2019;t, ihr We&#x017F;en &#x017F;ich verlier.</l><lb/>
              <l>Wenn Regiment&#x2019; und Reiche, die ent&#x017F;tanden,</l><lb/>
              <l>Durch Zufa&#x0364;ll&#x2019; untergehn; &#x017F;ie &#x017F;ind nicht mehr verhanden,</l><lb/>
              <l>Spricht ieder, &#x017F;ie &#x017F;ind fort. Was Men&#x017F;chen ie gethan,</l><lb/>
              <l>Erzeuget, ausgewirckt, zer&#x017F;to&#x0364;rt, erbaut, erdacht,</l><lb/>
              <l>Gefu&#x0364;get und getrennt, begonnen und vollbracht,</l><lb/>
              <l>Sieht man, wann es vorbey, nicht anders an,</l><lb/>
              <l>Als zeigte &#x017F;ich davon, im Schoo&#x017F;&#x017F;e der Natur,</l><lb/>
              <l>Nicht die gering&#x017F;te Spur.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="16">
              <l>Allein, wie wa&#x0364;r es doch, wenn etwa blos der Schein,</l><lb/>
              <l>Der uns &#x017F;o oft geta&#x0364;u&#x017F;cht, uns auch in die&#x017F;em ta&#x0364;u&#x017F;chte?</l><lb/>
              <l>Und wenn die Wu&#x0364;rdigkeit der Sachen nicht allein,</l><lb/>
              <l>Auch un&#x017F;er eignes Wol, auch andre Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;&#x2019; erhei&#x017F;chte?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="17">
              <l>Es wirft der Men&#x017F;ch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu einem Richter auf,</l><lb/>
              <l>Er mi&#x017F;&#x017F;et, was er &#x017F;ieht, nach &#x017F;einem eignen Lei&#x017F;te:</l><lb/>
              <l>Mit &#x017F;einem irrenden und ungewi&#x017F;&#x017F;en Gei&#x017F;te</l><lb/>
              <l>Beurtheilt er die Welt, und aller Himmel Lauff.</l><lb/>
              <l>Ob die Vernunft uns gleich, neb&#x017F;t der Erfahrung, lehret;</l><lb/>
              <l>Daß wenig, ja fa&#x017F;t nichts, vor &#x017F;einen Stuhl geho&#x0364;ret.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="18">
              <l>Uns deucht: Ein Ding i&#x017F;t weg: weg i&#x017F;t es, ho&#x0364;rt man dich</l><lb/>
              <l>Gleich &#x017F;prechen; und du kenn&#x017F;t nicht, was denn eigentlich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Zu-</fw><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[441/0473] bey dem 1729. Jahres-Wechſel, ꝛc. Was iſt es eigentlich, was wir vergangen nennen? Ein Etwas, ſo wir nicht mehr hoͤren, ſehn, Empfinden, riechen, ſchmecken koͤnnen. Die Tage, die dahin, die Zeiten, die vergehn, Sind Sachen ebenfalls, wovon man glaubt zu faſſen, Daß ſie nicht mehr, und daß ſie uns verlaſſen. Von Coͤrpern, wann ſie ſich veraͤndern, ſprechen wir, Daß, da ſie aufgeloͤſ’t, ihr Weſen ſich verlier. Wenn Regiment’ und Reiche, die entſtanden, Durch Zufaͤll’ untergehn; ſie ſind nicht mehr verhanden, Spricht ieder, ſie ſind fort. Was Menſchen ie gethan, Erzeuget, ausgewirckt, zerſtoͤrt, erbaut, erdacht, Gefuͤget und getrennt, begonnen und vollbracht, Sieht man, wann es vorbey, nicht anders an, Als zeigte ſich davon, im Schooſſe der Natur, Nicht die geringſte Spur. Allein, wie waͤr es doch, wenn etwa blos der Schein, Der uns ſo oft getaͤuſcht, uns auch in dieſem taͤuſchte? Und wenn die Wuͤrdigkeit der Sachen nicht allein, Auch unſer eignes Wol, auch andre Schluͤſſ’ erheiſchte? Es wirft der Menſch ſich ſelbſt zu einem Richter auf, Er miſſet, was er ſieht, nach ſeinem eignen Leiſte: Mit ſeinem irrenden und ungewiſſen Geiſte Beurtheilt er die Welt, und aller Himmel Lauff. Ob die Vernunft uns gleich, nebſt der Erfahrung, lehret; Daß wenig, ja faſt nichts, vor ſeinen Stuhl gehoͤret. Uns deucht: Ein Ding iſt weg: weg iſt es, hoͤrt man dich Gleich ſprechen; und du kennſt nicht, was denn eigentlich Zu- E e 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735/473
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 4. 2. Aufl. Hamburg, 1735, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735/473>, abgerufen am 20.05.2024.