Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 4. 2. Aufl. Hamburg, 1735.

Bild:
<< vorherige Seite

über entferntes Unglück.
Wann in den gantz verschrumpften Magen,
Für Hunger schwartz, verdorrt und wild,
Die Menschen Mäus' und Ratzen jagen,
Ja man sich gar mit Unrath füllt:
Wann sie, für Hunger, Aeser fressen,
Ja gar für Angst, für Pein und Wuht
Fast selbst der Menschlichkeit vergessen,
Und wüten in ihr eigen Blut:
Da Weiber eigne Kinder schlachten,
Und durch ihr eigen Eingeweid
Jhr Eingeweid zu füllen trachten:
Das heisst wol recht ein Hertzeleid!
Ja wie wir aus Geschichten wissen,
Daß sie aus ihrem eignen Arm'
Jhr eigen Fleisch heraus gerissen,
Zu füllen ihren leeren Darm.
Wann solch ein Jammer uns verletzet,

Wie wird das Glück zur selben Zeit,
Wann man sein Brodt hat, nicht geschätzet!
Deß man sich, im Genuß, nicht freut.
Sollt ieder, der von solchen Plagen,
Durch GOttes Huld, nichts fühlt, nichts weiß,
Nicht offt mit froher Seele sagen:
Mein GOTT! Dir sey Lob, Ehr und Preis?

Ach! wenn wir auch erwogen hätten,
Wie jämmerlich die Selaverey,
Wie unerträglich Band' und Ketten,
Und der Verlust der Freyheit, sey!
Wann
T 3

uͤber entferntes Ungluͤck.
Wann in den gantz verſchrumpften Magen,
Fuͤr Hunger ſchwartz, verdorrt und wild,
Die Menſchen Maͤuſ’ und Ratzen jagen,
Ja man ſich gar mit Unrath fuͤllt:
Wann ſie, fuͤr Hunger, Aeſer freſſen,
Ja gar fuͤr Angſt, fuͤr Pein und Wuht
Faſt ſelbſt der Menſchlichkeit vergeſſen,
Und wuͤten in ihr eigen Blut:
Da Weiber eigne Kinder ſchlachten,
Und durch ihr eigen Eingeweid
Jhr Eingeweid zu fuͤllen trachten:
Das heiſſt wol recht ein Hertzeleid!
Ja wie wir aus Geſchichten wiſſen,
Daß ſie aus ihrem eignen Arm’
Jhr eigen Fleiſch heraus geriſſen,
Zu fuͤllen ihren leeren Darm.
Wann ſolch ein Jammer uns verletzet,

Wie wird das Gluͤck zur ſelben Zeit,
Wann man ſein Brodt hat, nicht geſchaͤtzet!
Deß man ſich, im Genuß, nicht freut.
Sollt ieder, der von ſolchen Plagen,
Durch GOttes Huld, nichts fuͤhlt, nichts weiß,
Nicht offt mit froher Seele ſagen:
Mein GOTT! Dir ſey Lob, Ehr und Preis?

Ach! wenn wir auch erwogen haͤtten,
Wie jaͤmmerlich die Selaverey,
Wie unertraͤglich Band’ und Ketten,
Und der Verluſt der Freyheit, ſey!
Wann
T 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="3">
              <pb facs="#f0325" n="293"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">u&#x0364;ber entferntes Unglu&#x0364;ck.</hi> </fw><lb/>
              <l>Wann in den gantz ver&#x017F;chrumpften Magen,</l><lb/>
              <l>Fu&#x0364;r Hunger &#x017F;chwartz, verdorrt und wild,</l><lb/>
              <l>Die Men&#x017F;chen Ma&#x0364;u&#x017F;&#x2019; und Ratzen jagen,</l><lb/>
              <l>Ja man &#x017F;ich gar mit Unrath fu&#x0364;llt:</l><lb/>
              <l>Wann &#x017F;ie, fu&#x0364;r Hunger, Ae&#x017F;er fre&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Ja gar fu&#x0364;r Ang&#x017F;t, fu&#x0364;r Pein und Wuht</l><lb/>
              <l>Fa&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t der Men&#x017F;chlichkeit verge&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Und wu&#x0364;ten in ihr eigen Blut:</l><lb/>
              <l>Da Weiber eigne Kinder &#x017F;chlachten,</l><lb/>
              <l>Und durch ihr eigen Eingeweid</l><lb/>
              <l>Jhr Eingeweid zu fu&#x0364;llen trachten:</l><lb/>
              <l>Das hei&#x017F;&#x017F;t wol recht ein Hertzeleid!</l><lb/>
              <l>Ja wie wir aus Ge&#x017F;chichten wi&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Daß &#x017F;ie aus ihrem eignen Arm&#x2019;</l><lb/>
              <l>Jhr eigen Flei&#x017F;ch heraus geri&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Zu fu&#x0364;llen ihren leeren Darm.<lb/><hi rendition="#fr">Wann &#x017F;olch ein Jammer uns verletzet,</hi></l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Wie wird das Glu&#x0364;ck zur &#x017F;elben Zeit,</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Wann man &#x017F;ein Brodt hat, nicht ge&#x017F;cha&#x0364;tzet!</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Deß man &#x017F;ich, im Genuß, nicht freut.</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Sollt ieder, der von &#x017F;olchen Plagen,</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Durch GOttes Huld, nichts fu&#x0364;hlt, nichts weiß,</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Nicht offt mit froher Seele &#x017F;agen:</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Mein GOTT! Dir &#x017F;ey Lob, Ehr und Preis?</hi> </l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>Ach! wenn wir auch erwogen ha&#x0364;tten,</l><lb/>
              <l>Wie ja&#x0364;mmerlich die Selaverey,</l><lb/>
              <l>Wie unertra&#x0364;glich Band&#x2019; und Ketten,</l><lb/>
              <l>Und der Verlu&#x017F;t der Freyheit, &#x017F;ey!<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">T 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Wann</fw><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0325] uͤber entferntes Ungluͤck. Wann in den gantz verſchrumpften Magen, Fuͤr Hunger ſchwartz, verdorrt und wild, Die Menſchen Maͤuſ’ und Ratzen jagen, Ja man ſich gar mit Unrath fuͤllt: Wann ſie, fuͤr Hunger, Aeſer freſſen, Ja gar fuͤr Angſt, fuͤr Pein und Wuht Faſt ſelbſt der Menſchlichkeit vergeſſen, Und wuͤten in ihr eigen Blut: Da Weiber eigne Kinder ſchlachten, Und durch ihr eigen Eingeweid Jhr Eingeweid zu fuͤllen trachten: Das heiſſt wol recht ein Hertzeleid! Ja wie wir aus Geſchichten wiſſen, Daß ſie aus ihrem eignen Arm’ Jhr eigen Fleiſch heraus geriſſen, Zu fuͤllen ihren leeren Darm. Wann ſolch ein Jammer uns verletzet, Wie wird das Gluͤck zur ſelben Zeit, Wann man ſein Brodt hat, nicht geſchaͤtzet! Deß man ſich, im Genuß, nicht freut. Sollt ieder, der von ſolchen Plagen, Durch GOttes Huld, nichts fuͤhlt, nichts weiß, Nicht offt mit froher Seele ſagen: Mein GOTT! Dir ſey Lob, Ehr und Preis? Ach! wenn wir auch erwogen haͤtten, Wie jaͤmmerlich die Selaverey, Wie unertraͤglich Band’ und Ketten, Und der Verluſt der Freyheit, ſey! Wann T 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735/325
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 4. 2. Aufl. Hamburg, 1735, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735/325>, abgerufen am 22.11.2024.