Brockes, Barthold Heinrich: Herrn B. H. Brockes, [...] verdeutschte Grund-Sätze der Welt-Weisheit, des Herrn Abts Genest. Bd. 3. 2. Aufl. Hamburg, 1730."Daß, um das Leben zu erwerben, "Man gleichsam täglich müsse sterben, "Hat nicht ein Schlafender dieselbige Gestalt "Von Todten, welcher warm, und gleicht ein Todter nicht "Fast einem Schlafenden, der kalt? Ach lieber Mensch! wer also spricht, Zeigt fast nichts menschliches, und spricht mit Unbedacht. Wo wir den süssen Schlaf in Andacht nicht betrachten, Und ihn nicht, als gewürckt von GOTTES Finger achten; So haben wir das Leben zugebracht Noch ärger, als im Schlaf, ja gäntzlich wie ein Vieh. Wenn uns, so lang es Tag, Fleiß, Arbeit, Sorg und Müh Des Cörpers Krafft geschwächt, erschöpfft, verzehret, Wird alles wiederum uns auf das neu bescheret Durch diese Frucht der Nacht. Wie schwartz, wie traurig ist zuweilen unser Sinn Des Abends, ehe man sich schlaffen leget; Früh aber, wenn man aufgewacht, Jst aller Gram verschwunden und dahin, Den wir des Abends spät in unsrer Brust geheget. Wie, fühlen wir uns früh nicht munter und erquickt, Erfrischt, aufs neu belebt, froh, fähig und geschickt, Das, was aus Müdigkeit wir müssen unterlassen, Von neuen wieder anzufassen! Es hört, o Wunderwerck! des Cörpers Handlung auf, Damit der Geister Krafft, die unsre Wärme nähret, Wovon der Sinnen-Schaar den grösten Theil verzehret, Sich mehr vereinen könn' und sich verbinden, Um unser Lebens-Feur von neuen anzuzünden: Daher, wenn gleich bey uns das Fühlen, Hören, Sehn, Bewegen, der Geruch, in Sinnen, stille stehn; So
„Daß, um das Leben zu erwerben, „Man gleichſam taͤglich muͤſſe ſterben, „Hat nicht ein Schlafender dieſelbige Geſtalt „Von Todten, welcher warm, und gleicht ein Todter nicht „Faſt einem Schlafenden, der kalt? Ach lieber Menſch! wer alſo ſpricht, Zeigt faſt nichts menſchliches, und ſpricht mit Unbedacht. Wo wir den ſuͤſſen Schlaf in Andacht nicht betrachten, Und ihn nicht, als gewuͤrckt von GOTTES Finger achten; So haben wir das Leben zugebracht Noch aͤrger, als im Schlaf, ja gaͤntzlich wie ein Vieh. Wenn uns, ſo lang es Tag, Fleiß, Arbeit, Sorg und Muͤh Des Coͤrpers Krafft geſchwaͤcht, erſchoͤpfft, verzehret, Wird alles wiederum uns auf das neu beſcheret Durch dieſe Frucht der Nacht. Wie ſchwartz, wie traurig iſt zuweilen unſer Sinn Des Abends, ehe man ſich ſchlaffen leget; Fruͤh aber, wenn man aufgewacht, Jſt aller Gram verſchwunden und dahin, Den wir des Abends ſpaͤt in unſrer Bruſt geheget. Wie, fuͤhlen wir uns fruͤh nicht munter und erquickt, Erfriſcht, aufs neu belebt, froh, faͤhig und geſchickt, Das, was aus Muͤdigkeit wir muͤſſen unterlaſſen, Von neuen wieder anzufaſſen! Es hoͤrt, o Wunderwerck! des Coͤrpers Handlung auf, Damit der Geiſter Krafft, die unſre Waͤrme naͤhret, Wovon der Sinnen-Schaar den groͤſten Theil verzehret, Sich mehr vereinen koͤnn’ und ſich verbinden, Um unſer Lebens-Feur von neuen anzuzuͤnden: Daher, wenn gleich bey uns das Fuͤhlen, Hoͤren, Sehn, Bewegen, der Geruch, in Sinnen, ſtille ſtehn; So
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0701" n="671"/> <l>„Daß, um das Leben zu erwerben,</l><lb/> <l>„Man gleichſam taͤglich muͤſſe ſterben,</l><lb/> <l>„Hat nicht ein Schlafender dieſelbige Geſtalt</l><lb/> <l>„Von Todten, welcher warm, und gleicht ein Todter nicht</l><lb/> <l>„Faſt einem Schlafenden, der kalt?</l><lb/> <l>Ach lieber Menſch! wer alſo ſpricht,</l><lb/> <l>Zeigt faſt nichts menſchliches, und ſpricht mit Unbedacht.</l><lb/> <l>Wo wir den ſuͤſſen Schlaf in Andacht nicht betrachten,</l><lb/> <l>Und ihn nicht, als gewuͤrckt von GOTTES Finger achten;</l><lb/> <l>So haben wir das Leben zugebracht</l><lb/> <l>Noch aͤrger, als im Schlaf, ja gaͤntzlich wie ein Vieh.</l> </lg><lb/> <lg type="poem"> <l>Wenn uns, ſo lang es Tag, Fleiß, Arbeit, Sorg und Muͤh</l><lb/> <l>Des Coͤrpers Krafft geſchwaͤcht, erſchoͤpfft, verzehret,</l><lb/> <l>Wird alles wiederum uns auf das neu beſcheret</l><lb/> <l>Durch dieſe Frucht der Nacht.</l><lb/> <l>Wie ſchwartz, wie traurig iſt zuweilen unſer Sinn</l><lb/> <l>Des Abends, ehe man ſich ſchlaffen leget;</l><lb/> <l>Fruͤh aber, wenn man aufgewacht,</l><lb/> <l>Jſt aller Gram verſchwunden und dahin,</l><lb/> <l>Den wir des Abends ſpaͤt in unſrer Bruſt geheget.</l> </lg><lb/> <lg type="poem"> <l>Wie, fuͤhlen wir uns fruͤh nicht munter und erquickt,</l><lb/> <l>Erfriſcht, aufs neu belebt, froh, faͤhig und geſchickt,</l><lb/> <l>Das, was aus Muͤdigkeit wir muͤſſen unterlaſſen,</l><lb/> <l>Von neuen wieder anzufaſſen!</l><lb/> <l>Es hoͤrt, o Wunderwerck! des Coͤrpers Handlung auf,</l><lb/> <l>Damit der Geiſter Krafft, die unſre Waͤrme naͤhret,</l><lb/> <l>Wovon der Sinnen-Schaar den groͤſten Theil verzehret,</l><lb/> <l>Sich mehr vereinen koͤnn’ und ſich verbinden,</l><lb/> <l>Um unſer Lebens-Feur von neuen anzuzuͤnden:</l><lb/> <l>Daher, wenn gleich bey uns das Fuͤhlen, Hoͤren, Sehn,</l><lb/> <l>Bewegen, der Geruch, in Sinnen, ſtille ſtehn;</l><lb/> <fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [671/0701]
„Daß, um das Leben zu erwerben,
„Man gleichſam taͤglich muͤſſe ſterben,
„Hat nicht ein Schlafender dieſelbige Geſtalt
„Von Todten, welcher warm, und gleicht ein Todter nicht
„Faſt einem Schlafenden, der kalt?
Ach lieber Menſch! wer alſo ſpricht,
Zeigt faſt nichts menſchliches, und ſpricht mit Unbedacht.
Wo wir den ſuͤſſen Schlaf in Andacht nicht betrachten,
Und ihn nicht, als gewuͤrckt von GOTTES Finger achten;
So haben wir das Leben zugebracht
Noch aͤrger, als im Schlaf, ja gaͤntzlich wie ein Vieh.
Wenn uns, ſo lang es Tag, Fleiß, Arbeit, Sorg und Muͤh
Des Coͤrpers Krafft geſchwaͤcht, erſchoͤpfft, verzehret,
Wird alles wiederum uns auf das neu beſcheret
Durch dieſe Frucht der Nacht.
Wie ſchwartz, wie traurig iſt zuweilen unſer Sinn
Des Abends, ehe man ſich ſchlaffen leget;
Fruͤh aber, wenn man aufgewacht,
Jſt aller Gram verſchwunden und dahin,
Den wir des Abends ſpaͤt in unſrer Bruſt geheget.
Wie, fuͤhlen wir uns fruͤh nicht munter und erquickt,
Erfriſcht, aufs neu belebt, froh, faͤhig und geſchickt,
Das, was aus Muͤdigkeit wir muͤſſen unterlaſſen,
Von neuen wieder anzufaſſen!
Es hoͤrt, o Wunderwerck! des Coͤrpers Handlung auf,
Damit der Geiſter Krafft, die unſre Waͤrme naͤhret,
Wovon der Sinnen-Schaar den groͤſten Theil verzehret,
Sich mehr vereinen koͤnn’ und ſich verbinden,
Um unſer Lebens-Feur von neuen anzuzuͤnden:
Daher, wenn gleich bey uns das Fuͤhlen, Hoͤren, Sehn,
Bewegen, der Geruch, in Sinnen, ſtille ſtehn;
So
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |