zu meiner Einsiedelei, um ruhiger die Schrift über die Klei¬ node zu lesen, die mir Klareta gegeben. Als ich still wan¬ delnd hin und wieder am Wege einige Kräuter brach, be¬ gegnete mir mit flüchtigem Schritt ein sehr alter, fremdar¬ tig gekleideter Mann von jüdischem Aussehen. Da ich nun sehr gern mit solchen Leuten spreche, welche Vieles erlebt, das ich in meine Chronik gebrauchen kann, lud ich ihn nach freundlichem Gruße ein, ein wenig bei mir in der kleinen Einsiedelei zu ruhen, in deren Nähe wir angelangt waren. Als ich vom Ruhen sprach, zitterte er, blickte mich an, Thränen floßen von seinen Augen, sein Schritt ward noch eilender und er sprach, indem ich neben ihm her lief: "ich suche Ruhe, aber ich werde sie erst finden, wenn alle ruhen, ich bin Cartophilax, der ewige Jude, Ananias hat mich ge¬ tauft, als Christ heiße ich Joseph, aber ich darf nicht ru¬ hen bis ans Ende der Tage, und doch muß ich immer da¬ hin streben, wo ich Ruhe finden könnte, und komme ich dem Orte nah, so verdoppelt sich meine Flucht." Ich fragte ihn, ob er dann hier zu Lande Ruhe finden könne, weil er seine Schritte so beschleunige, da erwiederte er: "der Fels von Edelstein, an dem ich ruhen könnte, ist zersplittert über die ganze Erde; der Stein Sakrath, auf dem ich ruhen könnte wie Jakob, ist zersprungen in drei Theile, ich habe ihn gesucht in Bethel, im Tempel und in St. Eduards Stuhl in England und mußte überall fliehen; von England komme ich und könnte nun hier ruhen an der Schulterspange Rebeckas, welche allen Menschen Friede giebt, aber ich muß fliehen, denn ich habe dem, dessen Reich auf seinen Schul¬ tern war, keine Ruhe gegönnt." Kaum hatte er die Schul¬ terbänder der Rebecka erwähnt, als ich ihn beschwor, mir zu erzählen, was er davon wisse; und er theilte mir man¬ cherlei davon mit, auch wie sie durch den hebräischen Mär¬ tyrer an Kaiser Curio gekommen und noch bei den Lehns¬ trägern von Vadutz seyen. Was er aber Alles aus jüdischer
zu meiner Einſiedelei, um ruhiger die Schrift uͤber die Klei¬ node zu leſen, die mir Klareta gegeben. Als ich ſtill wan¬ delnd hin und wieder am Wege einige Kraͤuter brach, be¬ gegnete mir mit fluͤchtigem Schritt ein ſehr alter, fremdar¬ tig gekleideter Mann von juͤdiſchem Ausſehen. Da ich nun ſehr gern mit ſolchen Leuten ſpreche, welche Vieles erlebt, das ich in meine Chronik gebrauchen kann, lud ich ihn nach freundlichem Gruße ein, ein wenig bei mir in der kleinen Einſiedelei zu ruhen, in deren Naͤhe wir angelangt waren. Als ich vom Ruhen ſprach, zitterte er, blickte mich an, Thraͤnen floßen von ſeinen Augen, ſein Schritt ward noch eilender und er ſprach, indem ich neben ihm her lief: „ich ſuche Ruhe, aber ich werde ſie erſt finden, wenn alle ruhen, ich bin Cartophilax, der ewige Jude, Ananias hat mich ge¬ tauft, als Chriſt heiße ich Joſeph, aber ich darf nicht ru¬ hen bis ans Ende der Tage, und doch muß ich immer da¬ hin ſtreben, wo ich Ruhe finden koͤnnte, und komme ich dem Orte nah, ſo verdoppelt ſich meine Flucht.“ Ich fragte ihn, ob er dann hier zu Lande Ruhe finden koͤnne, weil er ſeine Schritte ſo beſchleunige, da erwiederte er: „der Fels von Edelſtein, an dem ich ruhen koͤnnte, iſt zerſplittert uͤber die ganze Erde; der Stein Sakrath, auf dem ich ruhen koͤnnte wie Jakob, iſt zerſprungen in drei Theile, ich habe ihn geſucht in Bethel, im Tempel und in St. Eduards Stuhl in England und mußte uͤberall fliehen; von England komme ich und koͤnnte nun hier ruhen an der Schulterſpange Rebeckas, welche allen Menſchen Friede giebt, aber ich muß fliehen, denn ich habe dem, deſſen Reich auf ſeinen Schul¬ tern war, keine Ruhe gegoͤnnt.“ Kaum hatte er die Schul¬ terbaͤnder der Rebecka erwaͤhnt, als ich ihn beſchwor, mir zu erzaͤhlen, was er davon wiſſe; und er theilte mir man¬ cherlei davon mit, auch wie ſie durch den hebraͤiſchen Maͤr¬ tyrer an Kaiſer Curio gekommen und noch bei den Lehns¬ traͤgern von Vadutz ſeyen. Was er aber Alles aus juͤdiſcher
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zu meiner Einſiedelei, um ruhiger die Schrift uͤber die Klei¬
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delnd hin und wieder am Wege einige Kraͤuter brach, be¬
gegnete mir mit fluͤchtigem Schritt ein ſehr alter, fremdar¬
tig gekleideter Mann von juͤdiſchem Ausſehen. Da ich nun
ſehr gern mit ſolchen Leuten ſpreche, welche Vieles erlebt,
das ich in meine Chronik gebrauchen kann, lud ich ihn nach
freundlichem Gruße ein, ein wenig bei mir in der kleinen
Einſiedelei zu ruhen, in deren Naͤhe wir angelangt waren.
Als ich vom Ruhen ſprach, zitterte er, blickte mich an,
Thraͤnen floßen von ſeinen Augen, ſein Schritt ward noch
eilender und er ſprach, indem ich neben ihm her lief: „ich
ſuche Ruhe, aber ich werde ſie erſt finden, wenn alle ruhen,
ich bin Cartophilax, der ewige Jude, Ananias hat mich ge¬
tauft, als Chriſt heiße ich Joſeph, aber ich darf nicht ru¬
hen bis ans Ende der Tage, und doch muß ich immer da¬
hin ſtreben, wo ich Ruhe finden koͤnnte, und komme ich dem
Orte nah, ſo verdoppelt ſich meine Flucht.“ Ich fragte
ihn, ob er dann hier zu Lande Ruhe finden koͤnne, weil er
ſeine Schritte ſo beſchleunige, da erwiederte er: „der Fels
von Edelſtein, an dem ich ruhen koͤnnte, iſt zerſplittert uͤber
die ganze Erde; der Stein Sakrath, auf dem ich ruhen
koͤnnte wie Jakob, iſt zerſprungen in drei Theile, ich habe
ihn geſucht in Bethel, im Tempel und in St. Eduards
Stuhl in England und mußte uͤberall fliehen; von England
komme ich und koͤnnte nun hier ruhen an der Schulterſpange
Rebeckas, welche allen Menſchen Friede giebt, aber ich muß
fliehen, denn ich habe dem, deſſen Reich auf ſeinen Schul¬
tern war, keine Ruhe gegoͤnnt.“ Kaum hatte er die Schul¬
terbaͤnder der Rebecka erwaͤhnt, als ich ihn beſchwor, mir
zu erzaͤhlen, was er davon wiſſe; und er theilte mir man¬
cherlei davon mit, auch wie ſie durch den hebraͤiſchen Maͤr¬
tyrer an Kaiſer Curio gekommen und noch bei den Lehns¬
traͤgern von Vadutz ſeyen. Was er aber Alles aus juͤdiſcher
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Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/356>, abgerufen am 22.11.2024.
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