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Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838.

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Natur, wider die Menschheit, wider alle Sinnlichkeit für re¬
ligiöse Gefühle! ein Kind, ein so schönes, liebes Comteßchen
soll keine Puppe haben? -- hat doch jed Hündchen sein Knö¬
chelchen, hat doch jed Kätzchen sein Mäuschen, womit es
spielt!" -- "Schweig still, schweig still", sagte Gackeleia, "sag
nichts von den Kätzchen, ach die Kätzchen sind eben daran
Schuld, daß ich keine Puppe haben darf! -- aber es geht
nicht, es geht nicht, ich hätte diese doch gar zu gern, ach
nur ein Bischen, bitte, bitte!" -- Da fieng Gackeleia an zu
weinen, und der gefühlvolle Alte, der unter einem rauhen
Aeußern ein zartes kindliches Herz im Busen zu tragen hatte,
weinte, oder ich müßte mich sehr irren, mit.

"Comteßchen", sagte er, "ich halte das Mitleid nicht län¬
ger aus, mir wird wie der große Dichter in der Poesie sagt:

Liebes Kind! was soll mir das?
Wein' nicht so, du wirst ganz naß,
Ich muß lachend dir gestehen,
Gleich werd' ich dich trocken sehn."

"Comteßchen, wischen Sie sich die Augen, putzen Sie sich
die Augen, putzen Sie sich das Näschen an die Schürze, aber
an der innern Seite, damit man's nicht sieht; Heimlichkeit,
Verborgenheit sitzt ganz still und kömmt doch weit. Jetzt
geben Sie acht: verbietet uns der Herr Doctor das Bier,
so trinken wir Gerstensaft, die Aepfel, essen wir süße Po¬
meranzen, das Brod, essen wir Kuchen -- verstehen Sie Com¬
teßchen, jed Ding will sein Sach haben, man muß dem Beil
einen Stiel suchen und dem Kind ein Püppchen." --

"Ach! ich darf aber keine haben", jammerte Gackeleia,
"gewiß, gewiß, ich darf keine Puppe haben"! --

"Ganz gut", sagte der Alte, "bei Leibe nicht! Gehorsam
muß seyn, aber können das Comteßchen lesen? schauen Sie
da oben auf die Inschrift über meinem chinesischen Sonnen¬
schirm, was steht da geschrieben? denn man muß immer sehen,

Natur, wider die Menſchheit, wider alle Sinnlichkeit fuͤr re¬
ligioͤſe Gefuͤhle! ein Kind, ein ſo ſchoͤnes, liebes Comteßchen
ſoll keine Puppe haben? — hat doch jed Huͤndchen ſein Knoͤ¬
chelchen, hat doch jed Kaͤtzchen ſein Maͤuschen, womit es
ſpielt!“ — „Schweig ſtill, ſchweig ſtill“, ſagte Gackeleia, „ſag
nichts von den Kaͤtzchen, ach die Kaͤtzchen ſind eben daran
Schuld, daß ich keine Puppe haben darf! — aber es geht
nicht, es geht nicht, ich haͤtte dieſe doch gar zu gern, ach
nur ein Bischen, bitte, bitte!“ — Da fieng Gackeleia an zu
weinen, und der gefuͤhlvolle Alte, der unter einem rauhen
Aeußern ein zartes kindliches Herz im Buſen zu tragen hatte,
weinte, oder ich muͤßte mich ſehr irren, mit.

„Comteßchen“, ſagte er, „ich halte das Mitleid nicht laͤn¬
ger aus, mir wird wie der große Dichter in der Poeſie ſagt:

Liebes Kind! was ſoll mir das?
Wein' nicht ſo, du wirſt ganz naß,
Ich muß lachend dir geſtehen,
Gleich werd' ich dich trocken ſehn.“

„Comteßchen, wiſchen Sie ſich die Augen, putzen Sie ſich
die Augen, putzen Sie ſich das Naͤschen an die Schuͤrze, aber
an der innern Seite, damit man's nicht ſieht; Heimlichkeit,
Verborgenheit ſitzt ganz ſtill und koͤmmt doch weit. Jetzt
geben Sie acht: verbietet uns der Herr Doctor das Bier,
ſo trinken wir Gerſtenſaft, die Aepfel, eſſen wir ſuͤße Po¬
meranzen, das Brod, eſſen wir Kuchen — verſtehen Sie Com¬
teßchen, jed Ding will ſein Sach haben, man muß dem Beil
einen Stiel ſuchen und dem Kind ein Puͤppchen.“ —

„Ach! ich darf aber keine haben“, jammerte Gackeleia,
„gewiß, gewiß, ich darf keine Puppe haben“! —

„Ganz gut“, ſagte der Alte, „bei Leibe nicht! Gehorſam
muß ſeyn, aber koͤnnen das Comteßchen leſen? ſchauen Sie
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[108/0146] Natur, wider die Menſchheit, wider alle Sinnlichkeit fuͤr re¬ ligioͤſe Gefuͤhle! ein Kind, ein ſo ſchoͤnes, liebes Comteßchen ſoll keine Puppe haben? — hat doch jed Huͤndchen ſein Knoͤ¬ chelchen, hat doch jed Kaͤtzchen ſein Maͤuschen, womit es ſpielt!“ — „Schweig ſtill, ſchweig ſtill“, ſagte Gackeleia, „ſag nichts von den Kaͤtzchen, ach die Kaͤtzchen ſind eben daran Schuld, daß ich keine Puppe haben darf! — aber es geht nicht, es geht nicht, ich haͤtte dieſe doch gar zu gern, ach nur ein Bischen, bitte, bitte!“ — Da fieng Gackeleia an zu weinen, und der gefuͤhlvolle Alte, der unter einem rauhen Aeußern ein zartes kindliches Herz im Buſen zu tragen hatte, weinte, oder ich muͤßte mich ſehr irren, mit. „Comteßchen“, ſagte er, „ich halte das Mitleid nicht laͤn¬ ger aus, mir wird wie der große Dichter in der Poeſie ſagt: Liebes Kind! was ſoll mir das? Wein' nicht ſo, du wirſt ganz naß, Ich muß lachend dir geſtehen, Gleich werd' ich dich trocken ſehn.“ „Comteßchen, wiſchen Sie ſich die Augen, putzen Sie ſich die Augen, putzen Sie ſich das Naͤschen an die Schuͤrze, aber an der innern Seite, damit man's nicht ſieht; Heimlichkeit, Verborgenheit ſitzt ganz ſtill und koͤmmt doch weit. Jetzt geben Sie acht: verbietet uns der Herr Doctor das Bier, ſo trinken wir Gerſtenſaft, die Aepfel, eſſen wir ſuͤße Po¬ meranzen, das Brod, eſſen wir Kuchen — verſtehen Sie Com¬ teßchen, jed Ding will ſein Sach haben, man muß dem Beil einen Stiel ſuchen und dem Kind ein Puͤppchen.“ — „Ach! ich darf aber keine haben“, jammerte Gackeleia, „gewiß, gewiß, ich darf keine Puppe haben“! — „Ganz gut“, ſagte der Alte, „bei Leibe nicht! Gehorſam muß ſeyn, aber koͤnnen das Comteßchen leſen? ſchauen Sie da oben auf die Inſchrift uͤber meinem chineſiſchen Sonnen¬ ſchirm, was ſteht da geſchrieben? denn man muß immer ſehen,

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Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/146>, abgerufen am 22.11.2024.