Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Nun stand sie auf und betete ihren Morgensegen ganz ruhig und brachte ihre Kleider in Ordnung, und ihren Bündel hängte sie dann an meinen Arm. Es war zwei Uhr des Morgens, der Tag graute, und wir wandelten durch die stillen Gassen. Seh' Er, erzählte die Alte fort, als der Finkel und sein Sohn eingesperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter auf die Gerichtsstube. Der todte Kasper wurde auf einen Tisch gelegt und mit seinem Uhlanenmantel bedeckt hereingetragen, und nun mußte ich Alles dem Gerichtshalter sagen, was ich von ihm wußte, und was er mir heute Morgen durch das Fenster gesagt hatte. Das schrieb er Alles auf sein Papier nieder, das vor ihm lag. Dann sah er die Schreibtafel durch, die sie bei Kasper gefunden; da standen mancherlei Rechnungen drin, einige Geschichten von der Ehre und auch die von dem französischen Unteroffizier, und hinter ihr war mit Bleistift Etwas geschrieben. -- Da gab mir die Alte die Brieftasche, und ich las folgende letzte Worte des unglücklichen Kasper's: "Auch ich kann meine Schande nicht überleben. Mein Vater und mein Bruder sind Diebe, sie haben mich selbst bestohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte sie gefangen nehmen und den Gerichten übergeben, denn ich bin ein Soldat meines Fürsten und meine Ehre erlaubt mir keine Schonung. Ich habe meinen Vater und Bruder der Rache übergeben, um der Ehre willen. Ach! bitte doch Jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich gefallen bin, ein ehrliches Grab Nun stand sie auf und betete ihren Morgensegen ganz ruhig und brachte ihre Kleider in Ordnung, und ihren Bündel hängte sie dann an meinen Arm. Es war zwei Uhr des Morgens, der Tag graute, und wir wandelten durch die stillen Gassen. Seh' Er, erzählte die Alte fort, als der Finkel und sein Sohn eingesperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter auf die Gerichtsstube. Der todte Kasper wurde auf einen Tisch gelegt und mit seinem Uhlanenmantel bedeckt hereingetragen, und nun mußte ich Alles dem Gerichtshalter sagen, was ich von ihm wußte, und was er mir heute Morgen durch das Fenster gesagt hatte. Das schrieb er Alles auf sein Papier nieder, das vor ihm lag. Dann sah er die Schreibtafel durch, die sie bei Kasper gefunden; da standen mancherlei Rechnungen drin, einige Geschichten von der Ehre und auch die von dem französischen Unteroffizier, und hinter ihr war mit Bleistift Etwas geschrieben. — Da gab mir die Alte die Brieftasche, und ich las folgende letzte Worte des unglücklichen Kasper's: „Auch ich kann meine Schande nicht überleben. Mein Vater und mein Bruder sind Diebe, sie haben mich selbst bestohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte sie gefangen nehmen und den Gerichten übergeben, denn ich bin ein Soldat meines Fürsten und meine Ehre erlaubt mir keine Schonung. Ich habe meinen Vater und Bruder der Rache übergeben, um der Ehre willen. Ach! bitte doch Jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich gefallen bin, ein ehrliches Grab <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0037"/> <p>Nun stand sie auf und betete ihren Morgensegen ganz ruhig und brachte ihre Kleider in Ordnung, und ihren Bündel hängte sie dann an meinen Arm. Es war zwei Uhr des Morgens, der Tag graute, und wir wandelten durch die stillen Gassen.</p><lb/> <p>Seh' Er, erzählte die Alte fort, als der Finkel und sein Sohn eingesperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter auf die Gerichtsstube. Der todte Kasper wurde auf einen Tisch gelegt und mit seinem Uhlanenmantel bedeckt hereingetragen, und nun mußte ich Alles dem Gerichtshalter sagen, was ich von ihm wußte, und was er mir heute Morgen durch das Fenster gesagt hatte. Das schrieb er Alles auf sein Papier nieder, das vor ihm lag. Dann sah er die Schreibtafel durch, die sie bei Kasper gefunden; da standen mancherlei Rechnungen drin, einige Geschichten von der Ehre und auch die von dem französischen Unteroffizier, und hinter ihr war mit Bleistift Etwas geschrieben. — Da gab mir die Alte die Brieftasche, und ich las folgende letzte Worte des unglücklichen Kasper's: „Auch ich kann meine Schande nicht überleben. Mein Vater und mein Bruder sind Diebe, sie haben mich selbst bestohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte sie gefangen nehmen und den Gerichten übergeben, denn ich bin ein Soldat meines Fürsten und meine Ehre erlaubt mir keine Schonung. Ich habe meinen Vater und Bruder der Rache übergeben, um der Ehre willen. Ach! bitte doch Jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich gefallen bin, ein ehrliches Grab<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0037]
Nun stand sie auf und betete ihren Morgensegen ganz ruhig und brachte ihre Kleider in Ordnung, und ihren Bündel hängte sie dann an meinen Arm. Es war zwei Uhr des Morgens, der Tag graute, und wir wandelten durch die stillen Gassen.
Seh' Er, erzählte die Alte fort, als der Finkel und sein Sohn eingesperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter auf die Gerichtsstube. Der todte Kasper wurde auf einen Tisch gelegt und mit seinem Uhlanenmantel bedeckt hereingetragen, und nun mußte ich Alles dem Gerichtshalter sagen, was ich von ihm wußte, und was er mir heute Morgen durch das Fenster gesagt hatte. Das schrieb er Alles auf sein Papier nieder, das vor ihm lag. Dann sah er die Schreibtafel durch, die sie bei Kasper gefunden; da standen mancherlei Rechnungen drin, einige Geschichten von der Ehre und auch die von dem französischen Unteroffizier, und hinter ihr war mit Bleistift Etwas geschrieben. — Da gab mir die Alte die Brieftasche, und ich las folgende letzte Worte des unglücklichen Kasper's: „Auch ich kann meine Schande nicht überleben. Mein Vater und mein Bruder sind Diebe, sie haben mich selbst bestohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte sie gefangen nehmen und den Gerichten übergeben, denn ich bin ein Soldat meines Fürsten und meine Ehre erlaubt mir keine Schonung. Ich habe meinen Vater und Bruder der Rache übergeben, um der Ehre willen. Ach! bitte doch Jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich gefallen bin, ein ehrliches Grab
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Zitationshilfe: | Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/37>, abgerufen am 28.07.2024. |