Dasselbe Blut fließt in ihren Adern; sie haben in einem und demselben Hause ihre Jugend zugebracht; eine und dieselbe Mutter hat ihre Liebe an sie ver- schwendet, hat sie mit Gott bekannt gemacht und zu ihm beten gelehrt; ein und derselbe Vater hat für sie seine Schweißtropfen vergossen und seine Kräfte und seine Gesundheit für sie zum Opfer gebracht. Doch die herzlose Geldliebe zerreißt dieses schöne Band, das die Geschwister mit einander vereinigen soll. Kaum sind die Thränen, die man am Grabe der kürzlich verstorbenen Eltern geweint hat, getrocknet, so bricht schon Zank und Streit aus zwischen Brüdern und Schwestern, weil man glaubt, bei der Erbschaft um einige Mark be- nachtheiligt worden zu sein.
Sollte nicht wahre Liebe, nicht eine edle Neigung des Herzens den Ehebund schließen? Doch da will ein junger Mann, der das Geld unordentlich liebt, in den Ehestand treten. Worauf richtet er nun seine Aufmerksam- keit bei der Wahl seiner Lebensgefährtin? Vielleicht auf Frömmigkeit, auf Sittsamkeit und Bescheidenheit, auf einen guten, sanften und doch gediegenen Charak- ter? Nein, das ist ihm Nebensache. Geld ist der Magnet, der ihn anzieht. Wenn seine Braut nur so und so viele Tausende mit in den Ehestand bringt, dann ist er zufrieden und überlegt nicht weiter, ob er später auch mit ihr glücklich und tugendhaft leben könne. Er heirathet mehr das Geld, als die Person. Und befindet er sich im Ehestand, so bleibt ihm auch das Geld theuerer als Frau und Kinder. Er sorgt vielleicht
Dasselbe Blut fließt in ihren Adern; sie haben in einem und demselben Hause ihre Jugend zugebracht; eine und dieselbe Mutter hat ihre Liebe an sie ver- schwendet, hat sie mit Gott bekannt gemacht und zu ihm beten gelehrt; ein und derselbe Vater hat für sie seine Schweißtropfen vergossen und seine Kräfte und seine Gesundheit für sie zum Opfer gebracht. Doch die herzlose Geldliebe zerreißt dieses schöne Band, das die Geschwister mit einander vereinigen soll. Kaum sind die Thränen, die man am Grabe der kürzlich verstorbenen Eltern geweint hat, getrocknet, so bricht schon Zank und Streit aus zwischen Brüdern und Schwestern, weil man glaubt, bei der Erbschaft um einige Mark be- nachtheiligt worden zu sein.
Sollte nicht wahre Liebe, nicht eine edle Neigung des Herzens den Ehebund schließen? Doch da will ein junger Mann, der das Geld unordentlich liebt, in den Ehestand treten. Worauf richtet er nun seine Aufmerksam- keit bei der Wahl seiner Lebensgefährtin? Vielleicht auf Frömmigkeit, auf Sittsamkeit und Bescheidenheit, auf einen guten, sanften und doch gediegenen Charak- ter? Nein, das ist ihm Nebensache. Geld ist der Magnet, der ihn anzieht. Wenn seine Braut nur so und so viele Tausende mit in den Ehestand bringt, dann ist er zufrieden und überlegt nicht weiter, ob er später auch mit ihr glücklich und tugendhaft leben könne. Er heirathet mehr das Geld, als die Person. Und befindet er sich im Ehestand, so bleibt ihm auch das Geld theuerer als Frau und Kinder. Er sorgt vielleicht
<TEI><text><body><divn="10"><divn="1"><p><pbfacs="#f0246"xml:id="B836_001_1901_pb0234_0001"n="234"/>
Dasselbe Blut fließt in ihren Adern; sie haben in<lb/>
einem und demselben Hause ihre Jugend zugebracht;<lb/>
eine und dieselbe Mutter hat ihre Liebe an sie ver-<lb/>
schwendet, hat sie mit Gott bekannt gemacht und zu<lb/>
ihm beten gelehrt; ein und derselbe Vater hat für sie<lb/>
seine Schweißtropfen vergossen und seine Kräfte und<lb/>
seine Gesundheit für sie zum Opfer gebracht. Doch die<lb/>
herzlose Geldliebe zerreißt dieses schöne Band, das die<lb/>
Geschwister mit einander vereinigen soll. Kaum sind<lb/>
die Thränen, die man am Grabe der kürzlich verstorbenen<lb/>
Eltern geweint hat, getrocknet, so bricht schon Zank und<lb/>
Streit aus zwischen Brüdern und Schwestern, weil<lb/>
man glaubt, bei der Erbschaft um einige Mark be-<lb/>
nachtheiligt worden zu sein.</p><p>Sollte nicht wahre Liebe, nicht eine edle Neigung<lb/>
des Herzens den Ehebund schließen? Doch da will ein<lb/>
junger Mann, der das Geld unordentlich liebt, in den<lb/>
Ehestand treten. Worauf richtet er nun seine Aufmerksam-<lb/>
keit bei der Wahl seiner Lebensgefährtin? Vielleicht<lb/>
auf Frömmigkeit, auf Sittsamkeit und Bescheidenheit,<lb/>
auf einen guten, sanften und doch gediegenen Charak-<lb/>
ter? Nein, das ist ihm Nebensache. Geld ist der<lb/>
Magnet, der ihn anzieht. Wenn seine Braut nur so<lb/>
und so viele Tausende mit in den Ehestand bringt,<lb/>
dann ist er zufrieden und überlegt nicht weiter, ob er<lb/>
später auch mit ihr glücklich und tugendhaft leben könne.<lb/>
Er heirathet mehr das Geld, als die Person. Und<lb/>
befindet er sich im Ehestand, so bleibt ihm auch das<lb/>
Geld theuerer als Frau und Kinder. Er sorgt vielleicht<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[234/0246]
Dasselbe Blut fließt in ihren Adern; sie haben in
einem und demselben Hause ihre Jugend zugebracht;
eine und dieselbe Mutter hat ihre Liebe an sie ver-
schwendet, hat sie mit Gott bekannt gemacht und zu
ihm beten gelehrt; ein und derselbe Vater hat für sie
seine Schweißtropfen vergossen und seine Kräfte und
seine Gesundheit für sie zum Opfer gebracht. Doch die
herzlose Geldliebe zerreißt dieses schöne Band, das die
Geschwister mit einander vereinigen soll. Kaum sind
die Thränen, die man am Grabe der kürzlich verstorbenen
Eltern geweint hat, getrocknet, so bricht schon Zank und
Streit aus zwischen Brüdern und Schwestern, weil
man glaubt, bei der Erbschaft um einige Mark be-
nachtheiligt worden zu sein.
Sollte nicht wahre Liebe, nicht eine edle Neigung
des Herzens den Ehebund schließen? Doch da will ein
junger Mann, der das Geld unordentlich liebt, in den
Ehestand treten. Worauf richtet er nun seine Aufmerksam-
keit bei der Wahl seiner Lebensgefährtin? Vielleicht
auf Frömmigkeit, auf Sittsamkeit und Bescheidenheit,
auf einen guten, sanften und doch gediegenen Charak-
ter? Nein, das ist ihm Nebensache. Geld ist der
Magnet, der ihn anzieht. Wenn seine Braut nur so
und so viele Tausende mit in den Ehestand bringt,
dann ist er zufrieden und überlegt nicht weiter, ob er
später auch mit ihr glücklich und tugendhaft leben könne.
Er heirathet mehr das Geld, als die Person. Und
befindet er sich im Ehestand, so bleibt ihm auch das
Geld theuerer als Frau und Kinder. Er sorgt vielleicht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bremscheid, Matthias von. Der christliche Mann in seinem Glauben und Leben. Mainz, 1901, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bremscheid_mann_1901/246>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.