Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

Muscheln. Dimyarier. Najaden.
amerikanischen und afrikanischen Formen ab, deren Mantel hinten Röhren bildet, so liegt der
Charakter dieser besonders in den nordamerikanischen Flüssen reich vertretenen Thiere darin, daß
der Mantel ganz gespalten, der Fuß zusammengedrückt und zungenförmig ist. Das Gehäus ist
stets gleichschalig, d. h. die beiden Schalenhälften sind symmetrisch gleich; es ist regelmäßig, perl-
mutterartig und mit einer starken, glatten, fest anhängenden Oberhaut bedeckt. Das Ligament
ist äußerlich. Die beiden Muskeleindrücke sind ziemlich gleich groß und haben ungefähr gleichen
Abstand vom Rande, doch ist der vordere in mehrere Felder zertheilt. Die beiden wichtigsten
Gattungen sind Unio und Anodonta, die wesentlich nur an ihrer Schalenbildung unterschieden
werden können.

Das wichtigste Kennzeichen von Unio ist, daß das Schloß in jeder Schale vorn einen einfachen
oder doppelten, gestreiften oder gekerbten Zahn, und hinten unter dem Ligament in der einen
Schale einen, in der anderen zwei lamellenartige, dem Rande parallele Zähne hat. Man kennt
mehrere Hundert lebende Arten aus allen Welttheilen und allen Zonen, wenigstens sind so viele
Formen als Arten beschrieben. Wer aber den 1844 veröffentlichten Aufsatz von Roßmäßler
über Artunterscheidung der europäischen Unionen liest, wird die Ueberzeugung gewinnen, daß eine
große Anzahl dieser Arten ganz willkürlich aus den ununterbrochen ineinander übergehenden
Formen- und Varietätenreihen herausgegriffen und von den Speciesmachern firirt sind. Wer sich
nicht schon selbst längere Jahre mit den Unionen und Anodonten beschäftigt und durch lange
Uebung und durch Vergleichung von Hunderten und Tausenden von Exemplaren einen gewissen
praktischen Blick für die Unterscheidung sich angeeignet hat, wird bei dem Versuche, die in seiner
nächsten Umgebung gesammelten Thiere nach den in den zoologischen Lehrbüchern enthaltenen
Beschreibungen und nach Abbildungen als Arten zu bestimmen, in die peinlichste Verlegenheit
gerathen. Es paßt von diesen Beschreibungen in der Regel Alles und Nichts. "Nicht bloß jeder
Bach", sagt Roßmäßler, "Fluß, Teich zeigt seine eigenthümlichen Formen von Unionen und
Anodonten, sondern nicht selten findet die Erscheinung statt, daß mit der Veränderung des Fluß-
bettes in Breite, Tiefe, Bodenbeschaffenheit, und mit der größeren oder geringeren Geschwindigkeit
des Laufes sich die Formen der Muscheln verändern. An großen Teichen oder Landseen hat die
seichte, dem herrschenden Luftstrome gegenüberliegende Seite oft ganz andere Formen als die
meist tiefere entgegengesetzte Seite. Wer seine Anodonten und Unionen nicht bloß in einzelnen
ausgesuchten Exemplaren von Händlern bezieht, sondern selbst hundertweise an Ort und Stelle
weit und breit sammelt und in reicher Auswahl von seinen auswärtigen Freunden unter genauer
Angabe des Fundortes zugeschickt erhält, der wundert sich nicht sowohl darüber, wenn
er die Arten in mehr oder weniger eigenthümlich ausgeprägten Formen erhält,
sondern darüber, wenn er dann und wann einmal ganz dieselben Formen erhält,
die er schon anderswoher besitzt.
"

Jch führe diese merkwürdige Vorausnahme und Bestätigung der Umwandlungstheorie und
diese Ansichten über das Werden und Leben der Arten hier an, wo das Leben der Jndividuen von
minderem Jnteresse ist. An einer ganzen Reihe von Beispielen zeigt Roßmäßler solche Uebergänge
und Hervorbildungen neuer Arten aus alten. "Es scheint", sährt er fort, "um eine neue Art
zu bilden (was wir bei den Conchylien Art nennen) und allmälig in die Reihe der alten
einzuführen, von der Natur der Weg eingeschlagen zu werden, daß sie durch die veränderten
Entwicklungsbedingungen zunächst an jedem Jndividuum mäkelt und ändert, bis es zuletzt im
Alter ein fremdartiges Gesicht hat. Jn den ersten Generationen vererbt sich diese individuelle
Umgestaltung der Eltern noch nicht auf die Nachkommen, sondern diese erscheinen wieder ihrem
alten Typus treu, werden aber während des Wachsthums unter denselben Entwicklungsbedingungen
eben so wie ihre Eltern umgestaltet, bis endlich in den späteren Generationen die Umgestaltung
sich auch schon an den Jungen ausspricht." Wenn nun Roßmäßler an die bekannte Thatsache
erinnert, daß "die durch Kunst verkrüppelten Füße der Chinesen sich auch schon an neugeborenen

Muſcheln. Dimyarier. Najaden.
amerikaniſchen und afrikaniſchen Formen ab, deren Mantel hinten Röhren bildet, ſo liegt der
Charakter dieſer beſonders in den nordamerikaniſchen Flüſſen reich vertretenen Thiere darin, daß
der Mantel ganz geſpalten, der Fuß zuſammengedrückt und zungenförmig iſt. Das Gehäus iſt
ſtets gleichſchalig, d. h. die beiden Schalenhälften ſind ſymmetriſch gleich; es iſt regelmäßig, perl-
mutterartig und mit einer ſtarken, glatten, feſt anhängenden Oberhaut bedeckt. Das Ligament
iſt äußerlich. Die beiden Muskeleindrücke ſind ziemlich gleich groß und haben ungefähr gleichen
Abſtand vom Rande, doch iſt der vordere in mehrere Felder zertheilt. Die beiden wichtigſten
Gattungen ſind Unio und Anodonta, die weſentlich nur an ihrer Schalenbildung unterſchieden
werden können.

Das wichtigſte Kennzeichen von Unio iſt, daß das Schloß in jeder Schale vorn einen einfachen
oder doppelten, geſtreiften oder gekerbten Zahn, und hinten unter dem Ligament in der einen
Schale einen, in der anderen zwei lamellenartige, dem Rande parallele Zähne hat. Man kennt
mehrere Hundert lebende Arten aus allen Welttheilen und allen Zonen, wenigſtens ſind ſo viele
Formen als Arten beſchrieben. Wer aber den 1844 veröffentlichten Aufſatz von Roßmäßler
über Artunterſcheidung der europäiſchen Unionen lieſt, wird die Ueberzeugung gewinnen, daß eine
große Anzahl dieſer Arten ganz willkürlich aus den ununterbrochen ineinander übergehenden
Formen- und Varietätenreihen herausgegriffen und von den Speciesmachern firirt ſind. Wer ſich
nicht ſchon ſelbſt längere Jahre mit den Unionen und Anodonten beſchäftigt und durch lange
Uebung und durch Vergleichung von Hunderten und Tauſenden von Exemplaren einen gewiſſen
praktiſchen Blick für die Unterſcheidung ſich angeeignet hat, wird bei dem Verſuche, die in ſeiner
nächſten Umgebung geſammelten Thiere nach den in den zoologiſchen Lehrbüchern enthaltenen
Beſchreibungen und nach Abbildungen als Arten zu beſtimmen, in die peinlichſte Verlegenheit
gerathen. Es paßt von dieſen Beſchreibungen in der Regel Alles und Nichts. „Nicht bloß jeder
Bach“, ſagt Roßmäßler, „Fluß, Teich zeigt ſeine eigenthümlichen Formen von Unionen und
Anodonten, ſondern nicht ſelten findet die Erſcheinung ſtatt, daß mit der Veränderung des Fluß-
bettes in Breite, Tiefe, Bodenbeſchaffenheit, und mit der größeren oder geringeren Geſchwindigkeit
des Laufes ſich die Formen der Muſcheln verändern. An großen Teichen oder Landſeen hat die
ſeichte, dem herrſchenden Luftſtrome gegenüberliegende Seite oft ganz andere Formen als die
meiſt tiefere entgegengeſetzte Seite. Wer ſeine Anodonten und Unionen nicht bloß in einzelnen
ausgeſuchten Exemplaren von Händlern bezieht, ſondern ſelbſt hundertweiſe an Ort und Stelle
weit und breit ſammelt und in reicher Auswahl von ſeinen auswärtigen Freunden unter genauer
Angabe des Fundortes zugeſchickt erhält, der wundert ſich nicht ſowohl darüber, wenn
er die Arten in mehr oder weniger eigenthümlich ausgeprägten Formen erhält,
ſondern darüber, wenn er dann und wann einmal ganz dieſelben Formen erhält,
die er ſchon anderswoher beſitzt.

Jch führe dieſe merkwürdige Vorausnahme und Beſtätigung der Umwandlungstheorie und
dieſe Anſichten über das Werden und Leben der Arten hier an, wo das Leben der Jndividuen von
minderem Jntereſſe iſt. An einer ganzen Reihe von Beiſpielen zeigt Roßmäßler ſolche Uebergänge
und Hervorbildungen neuer Arten aus alten. „Es ſcheint“, ſährt er fort, „um eine neue Art
zu bilden (was wir bei den Conchylien Art nennen) und allmälig in die Reihe der alten
einzuführen, von der Natur der Weg eingeſchlagen zu werden, daß ſie durch die veränderten
Entwicklungsbedingungen zunächſt an jedem Jndividuum mäkelt und ändert, bis es zuletzt im
Alter ein fremdartiges Geſicht hat. Jn den erſten Generationen vererbt ſich dieſe individuelle
Umgeſtaltung der Eltern noch nicht auf die Nachkommen, ſondern dieſe erſcheinen wieder ihrem
alten Typus treu, werden aber während des Wachsthums unter denſelben Entwicklungsbedingungen
eben ſo wie ihre Eltern umgeſtaltet, bis endlich in den ſpäteren Generationen die Umgeſtaltung
ſich auch ſchon an den Jungen ausſpricht.“ Wenn nun Roßmäßler an die bekannte Thatſache
erinnert, daß „die durch Kunſt verkrüppelten Füße der Chineſen ſich auch ſchon an neugeborenen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <floatingText>
        <body>
          <div n="1">
            <div n="2">
              <p><pb facs="#f0946" n="898"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Mu&#x017F;cheln. Dimyarier. Najaden.</hi></fw><lb/>
amerikani&#x017F;chen und afrikani&#x017F;chen Formen ab, deren Mantel hinten Röhren bildet, &#x017F;o liegt der<lb/>
Charakter die&#x017F;er be&#x017F;onders in den nordamerikani&#x017F;chen Flü&#x017F;&#x017F;en reich vertretenen Thiere darin, daß<lb/>
der Mantel ganz ge&#x017F;palten, der Fuß zu&#x017F;ammengedrückt und zungenförmig i&#x017F;t. Das Gehäus i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;tets gleich&#x017F;chalig, d. h. die beiden Schalenhälften &#x017F;ind &#x017F;ymmetri&#x017F;ch gleich; es i&#x017F;t regelmäßig, perl-<lb/>
mutterartig und mit einer &#x017F;tarken, glatten, fe&#x017F;t anhängenden Oberhaut bedeckt. Das Ligament<lb/>
i&#x017F;t äußerlich. Die beiden Muskeleindrücke &#x017F;ind ziemlich gleich groß und haben ungefähr gleichen<lb/>
Ab&#x017F;tand vom Rande, doch i&#x017F;t der vordere in mehrere Felder zertheilt. Die beiden wichtig&#x017F;ten<lb/>
Gattungen &#x017F;ind <hi rendition="#aq">Unio</hi> und <hi rendition="#aq">Anodonta,</hi> die we&#x017F;entlich nur an ihrer Schalenbildung unter&#x017F;chieden<lb/>
werden können.</p><lb/>
              <p>Das wichtig&#x017F;te Kennzeichen von <hi rendition="#aq">Unio</hi> i&#x017F;t, daß das Schloß in jeder Schale vorn einen einfachen<lb/>
oder doppelten, ge&#x017F;treiften oder gekerbten Zahn, und hinten unter dem Ligament in der einen<lb/>
Schale einen, in der anderen zwei lamellenartige, dem Rande parallele Zähne hat. Man kennt<lb/>
mehrere Hundert lebende Arten aus allen Welttheilen und allen Zonen, wenig&#x017F;tens &#x017F;ind &#x017F;o viele<lb/>
Formen als Arten be&#x017F;chrieben. Wer aber den 1844 veröffentlichten Auf&#x017F;atz von <hi rendition="#g">Roßmäßler</hi><lb/>
über Artunter&#x017F;cheidung der europäi&#x017F;chen Unionen lie&#x017F;t, wird die Ueberzeugung gewinnen, daß eine<lb/>
große Anzahl die&#x017F;er Arten ganz willkürlich aus den ununterbrochen ineinander übergehenden<lb/>
Formen- und Varietätenreihen herausgegriffen und von den Speciesmachern firirt &#x017F;ind. Wer &#x017F;ich<lb/>
nicht &#x017F;chon &#x017F;elb&#x017F;t längere Jahre mit den Unionen und Anodonten be&#x017F;chäftigt und durch lange<lb/>
Uebung und durch Vergleichung von Hunderten und Tau&#x017F;enden von Exemplaren einen gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
prakti&#x017F;chen Blick für die Unter&#x017F;cheidung &#x017F;ich angeeignet hat, wird bei dem Ver&#x017F;uche, die in &#x017F;einer<lb/>
näch&#x017F;ten Umgebung ge&#x017F;ammelten Thiere nach den in den zoologi&#x017F;chen Lehrbüchern enthaltenen<lb/>
Be&#x017F;chreibungen und nach Abbildungen als Arten zu be&#x017F;timmen, in die peinlich&#x017F;te Verlegenheit<lb/>
gerathen. Es paßt von die&#x017F;en Be&#x017F;chreibungen in der Regel Alles und Nichts. &#x201E;Nicht bloß jeder<lb/>
Bach&#x201C;, &#x017F;agt <hi rendition="#g">Roßmäßler,</hi> &#x201E;Fluß, Teich zeigt &#x017F;eine eigenthümlichen Formen von Unionen und<lb/>
Anodonten, &#x017F;ondern nicht &#x017F;elten findet die Er&#x017F;cheinung &#x017F;tatt, daß mit der Veränderung des Fluß-<lb/>
bettes in Breite, Tiefe, Bodenbe&#x017F;chaffenheit, und mit der größeren oder geringeren Ge&#x017F;chwindigkeit<lb/>
des Laufes &#x017F;ich die Formen der Mu&#x017F;cheln verändern. An großen Teichen oder Land&#x017F;een hat die<lb/>
&#x017F;eichte, dem herr&#x017F;chenden Luft&#x017F;trome gegenüberliegende Seite oft ganz andere Formen als die<lb/>
mei&#x017F;t tiefere entgegenge&#x017F;etzte Seite. Wer &#x017F;eine Anodonten und Unionen nicht bloß in einzelnen<lb/>
ausge&#x017F;uchten Exemplaren von Händlern bezieht, &#x017F;ondern &#x017F;elb&#x017F;t hundertwei&#x017F;e an Ort und Stelle<lb/>
weit und breit &#x017F;ammelt und in reicher Auswahl von &#x017F;einen auswärtigen Freunden unter genauer<lb/>
Angabe des Fundortes zuge&#x017F;chickt erhält, <hi rendition="#g">der wundert &#x017F;ich nicht &#x017F;owohl darüber, wenn<lb/>
er die Arten in mehr oder weniger eigenthümlich ausgeprägten Formen erhält,<lb/>
&#x017F;ondern darüber, wenn er dann und wann einmal ganz die&#x017F;elben Formen erhält,<lb/>
die er &#x017F;chon anderswoher be&#x017F;itzt.</hi>&#x201C;</p><lb/>
              <p>Jch führe die&#x017F;e merkwürdige Vorausnahme und Be&#x017F;tätigung der Umwandlungstheorie und<lb/>
die&#x017F;e An&#x017F;ichten über das Werden und Leben der Arten hier an, wo das Leben der Jndividuen von<lb/>
minderem Jntere&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t. An einer ganzen Reihe von Bei&#x017F;pielen zeigt Roßmäßler &#x017F;olche Uebergänge<lb/>
und Hervorbildungen neuer Arten aus alten. &#x201E;Es &#x017F;cheint&#x201C;, &#x017F;ährt er fort, &#x201E;um eine neue Art<lb/>
zu bilden (was wir bei den Conchylien Art nennen) und allmälig in die Reihe der alten<lb/>
einzuführen, von der Natur der Weg einge&#x017F;chlagen zu werden, daß &#x017F;ie durch die veränderten<lb/>
Entwicklungsbedingungen zunäch&#x017F;t an jedem Jndividuum mäkelt und ändert, bis es zuletzt im<lb/>
Alter ein fremdartiges Ge&#x017F;icht hat. Jn den er&#x017F;ten Generationen vererbt &#x017F;ich die&#x017F;e individuelle<lb/>
Umge&#x017F;taltung der Eltern noch nicht auf die Nachkommen, &#x017F;ondern die&#x017F;e er&#x017F;cheinen wieder ihrem<lb/>
alten Typus treu, werden aber während des Wachsthums unter den&#x017F;elben Entwicklungsbedingungen<lb/>
eben &#x017F;o wie ihre Eltern umge&#x017F;taltet, bis endlich in den &#x017F;päteren Generationen die Umge&#x017F;taltung<lb/>
&#x017F;ich auch &#x017F;chon an den Jungen aus&#x017F;pricht.&#x201C; Wenn nun <hi rendition="#g">Roßmäßler</hi> an die bekannte That&#x017F;ache<lb/>
erinnert, daß &#x201E;die durch Kun&#x017F;t verkrüppelten Füße der Chine&#x017F;en &#x017F;ich auch &#x017F;chon an neugeborenen<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </body>
      </floatingText>
    </body>
  </text>
</TEI>
[898/0946] Muſcheln. Dimyarier. Najaden. amerikaniſchen und afrikaniſchen Formen ab, deren Mantel hinten Röhren bildet, ſo liegt der Charakter dieſer beſonders in den nordamerikaniſchen Flüſſen reich vertretenen Thiere darin, daß der Mantel ganz geſpalten, der Fuß zuſammengedrückt und zungenförmig iſt. Das Gehäus iſt ſtets gleichſchalig, d. h. die beiden Schalenhälften ſind ſymmetriſch gleich; es iſt regelmäßig, perl- mutterartig und mit einer ſtarken, glatten, feſt anhängenden Oberhaut bedeckt. Das Ligament iſt äußerlich. Die beiden Muskeleindrücke ſind ziemlich gleich groß und haben ungefähr gleichen Abſtand vom Rande, doch iſt der vordere in mehrere Felder zertheilt. Die beiden wichtigſten Gattungen ſind Unio und Anodonta, die weſentlich nur an ihrer Schalenbildung unterſchieden werden können. Das wichtigſte Kennzeichen von Unio iſt, daß das Schloß in jeder Schale vorn einen einfachen oder doppelten, geſtreiften oder gekerbten Zahn, und hinten unter dem Ligament in der einen Schale einen, in der anderen zwei lamellenartige, dem Rande parallele Zähne hat. Man kennt mehrere Hundert lebende Arten aus allen Welttheilen und allen Zonen, wenigſtens ſind ſo viele Formen als Arten beſchrieben. Wer aber den 1844 veröffentlichten Aufſatz von Roßmäßler über Artunterſcheidung der europäiſchen Unionen lieſt, wird die Ueberzeugung gewinnen, daß eine große Anzahl dieſer Arten ganz willkürlich aus den ununterbrochen ineinander übergehenden Formen- und Varietätenreihen herausgegriffen und von den Speciesmachern firirt ſind. Wer ſich nicht ſchon ſelbſt längere Jahre mit den Unionen und Anodonten beſchäftigt und durch lange Uebung und durch Vergleichung von Hunderten und Tauſenden von Exemplaren einen gewiſſen praktiſchen Blick für die Unterſcheidung ſich angeeignet hat, wird bei dem Verſuche, die in ſeiner nächſten Umgebung geſammelten Thiere nach den in den zoologiſchen Lehrbüchern enthaltenen Beſchreibungen und nach Abbildungen als Arten zu beſtimmen, in die peinlichſte Verlegenheit gerathen. Es paßt von dieſen Beſchreibungen in der Regel Alles und Nichts. „Nicht bloß jeder Bach“, ſagt Roßmäßler, „Fluß, Teich zeigt ſeine eigenthümlichen Formen von Unionen und Anodonten, ſondern nicht ſelten findet die Erſcheinung ſtatt, daß mit der Veränderung des Fluß- bettes in Breite, Tiefe, Bodenbeſchaffenheit, und mit der größeren oder geringeren Geſchwindigkeit des Laufes ſich die Formen der Muſcheln verändern. An großen Teichen oder Landſeen hat die ſeichte, dem herrſchenden Luftſtrome gegenüberliegende Seite oft ganz andere Formen als die meiſt tiefere entgegengeſetzte Seite. Wer ſeine Anodonten und Unionen nicht bloß in einzelnen ausgeſuchten Exemplaren von Händlern bezieht, ſondern ſelbſt hundertweiſe an Ort und Stelle weit und breit ſammelt und in reicher Auswahl von ſeinen auswärtigen Freunden unter genauer Angabe des Fundortes zugeſchickt erhält, der wundert ſich nicht ſowohl darüber, wenn er die Arten in mehr oder weniger eigenthümlich ausgeprägten Formen erhält, ſondern darüber, wenn er dann und wann einmal ganz dieſelben Formen erhält, die er ſchon anderswoher beſitzt.“ Jch führe dieſe merkwürdige Vorausnahme und Beſtätigung der Umwandlungstheorie und dieſe Anſichten über das Werden und Leben der Arten hier an, wo das Leben der Jndividuen von minderem Jntereſſe iſt. An einer ganzen Reihe von Beiſpielen zeigt Roßmäßler ſolche Uebergänge und Hervorbildungen neuer Arten aus alten. „Es ſcheint“, ſährt er fort, „um eine neue Art zu bilden (was wir bei den Conchylien Art nennen) und allmälig in die Reihe der alten einzuführen, von der Natur der Weg eingeſchlagen zu werden, daß ſie durch die veränderten Entwicklungsbedingungen zunächſt an jedem Jndividuum mäkelt und ändert, bis es zuletzt im Alter ein fremdartiges Geſicht hat. Jn den erſten Generationen vererbt ſich dieſe individuelle Umgeſtaltung der Eltern noch nicht auf die Nachkommen, ſondern dieſe erſcheinen wieder ihrem alten Typus treu, werden aber während des Wachsthums unter denſelben Entwicklungsbedingungen eben ſo wie ihre Eltern umgeſtaltet, bis endlich in den ſpäteren Generationen die Umgeſtaltung ſich auch ſchon an den Jungen ausſpricht.“ Wenn nun Roßmäßler an die bekannte Thatſache erinnert, daß „die durch Kunſt verkrüppelten Füße der Chineſen ſich auch ſchon an neugeborenen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/946
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 898. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/946>, abgerufen am 24.11.2024.