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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Die Schlangen. Vipern. Spießottern.
ein Mensch durch ein Raubthier sein Leben verliert: funfzig Fälle aber sind in den letzten Jahren
verzeichnet worden, daß Menschen an den Folgen des Bisses einer Kreuzotter starben, und ebenso Viele
mögen durch Schlangen ihren Tod gefunden haben, ohne daß es zur allgemeinen Kunde gelangte.
Linck hat wahrscheinlich Recht, wenn er annimmt, daß in Deutschland alljährlich zwei Menschen an
den Folgen des Bisses der Kreuzotter sterben und zwanzig Mal mehr durch sie vergiftet, aber noch
gerettet werden. Es ist nach dem Vorausgegangenen nicht nöthig, auf die einzelnen Fälle zurückzu-
kommen; der Verlauf der Krankheit ist auch mehr oder weniger derselbe, wie bereits geschildert:
wohl aber glaube ich hier einen von Lenz mitgetheilten Fall, welcher nicht mit dem Tode endigte,
wiedergeben zu müssen, weil er beweist, daß das Tröpfchen Flüssigkeit aus dem Zahne der Otter ein
ganzes langes Leben vergiften kann.

Martha Elisabeth Jäger aus Walthershausen, zur Zeit, in welcher Lenz seine
Schlangenkunde schrieb, sechzig Jahre alt, war als neunzehnjähriges Mädchen barfuß in die Haide
gegangen und hatte einen Otternbiß in den Fuß erhalten. Anfangs achtete sie ihn wenig; bald
aber begann der Fuß zu schwellen, und Geschwulst und Schmerz drangen schnell bis zum Oberleibe
empor, sodaß sie umsank und die Kräfte zum Gehen verlor. Zum Glück war ihre Mutter bei ihr
und schaffte sie nach Hause. Hier wurde der Wundarzt gerufen und wandte mehrere Mittel an.
Der Zustand der Gebissenen besserte sich nach und nach; aber bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahre
blieb das Bein immer krank, indem es bald gelbe, bald blaue, bald rothe Flecken zeigte und schmerzte.
Bis zu dieser Zeit wurden auf den Rath verschiedener Vettern und Muhmen immerfort mancherlei
Mittel angewendet. Jetzt aber verschwand die Krankheit plötzlich aus dem Beine und warf sich auf
die Augen, welche, nachdem sie eine Zeitlang sehr gelitten, gänzlich erblindeten und zwei Jahre lang
blind blieben. Nach diesen zwei Jahren begannen die Augen allmählich wieder gesund zu werden
und zu sehen; doch verbreitete sich jetzt das Uebel durch den ganzen Körper und erzeugte, an verschiedenen
Stellen wechselnd, Schmerzen im Leibe und in den Gliedern. Jn diesem Zustande ist sie dann
verblieben und zuletzt noch fast vollkommen taub geworden. Jn ihrer Familie ist sozusagen das hohe
Alter einheimisch; daher ist sie noch von Verwandten umgeben, welche sich des ganzen Verlaufes ihres
Unglückes wohl erinnern. Es ist merkwürdig, daß ein Mensch bei solchen Leiden so alt werden kann,
aber grauenvoll, daß er ein so langes Leben vertrauern muß! Und wer möchte nicht, wenn er diese
Unglücksgeschichte hört, meinem Wunsche beistimmen, daß ernstliche Maßregeln zur Verhütung
ähnlichen Unglücks getroffen werden möchten!

Gewiß, wer aus übertriebener Thierfreundlichkeit den Schlangen das Wort redet, frevelt an
den Menschen. Besser ist es, ich wiederhole es, daß sie alle, die schuldigen, wie die unschuldigen,
vernichtet werden, als daß ein einziger Mensch sein Leben durch eine giftige unter ihnen verliere, oder
daß das Leben eines einzigen Menschen durch das höllische Gift in eine ununterbrochene Qual verkehrt
werde. Daher Schutz den natürlichen Feinden der Ottern, vor allen dem Jltis, dem Jgel und dem
Schlangenbussard, über deren ersprießliche Wirksamkeit ich weiter oben (Bd. I, S. 537 und 652,
Bd. III, S. 506) Mittheilung gemacht habe, und unnachsichtliche Verfolgung ihrer selbst und ihres
ganzen Gezüchtes! Jeder Lehrer sollte seine Schüler über die Kreuzotter belehren, jeder sie unter-
richten, wie sie, ohne sich zu gefährden, ein derartiges Thier vernichten, wenn sie es finden, jeder
Bater seinen Kindern mittheilen, daß ein einziger kräftiger Ruthenhieb auf das Rückgrat der Kreuz-
otter sie umbringt, so zählebig sie auch ist! Nur daß man sich nie und nimmer verleiten lasse, das
gefällte Thier ohne die genügende Vorsicht aufzunehmen; denn die Beweglichkeit währt noch lange
fort, nachdem die Otter den tödtlichen Streich empfangen, und die Gefährlichkeit ihrer Giftzähne wird
selbst dann nicht gemindert, wenn ein scharfer Hieb den Kopf vom Leibe trennte! Der abgehauene
Schlangenkopf beißt noch fast ebenso wüthend um sich wie vordem, als die Schlange noch lebte,
Minuten und Viertelstunden nach der Enthauptung der Seite sich zurichtend, von welcher er sich
befehdet glaubt, beweisend, daß das geringe und so wenig entwickelte Hirn seine Thätigkeit erst sehr
spät verliert. "Es ist ein grausenhafter Anblick", sagt Linck, "um solch ein blutendes Haupt, wie

Die Schlangen. Vipern. Spießottern.
ein Menſch durch ein Raubthier ſein Leben verliert: funfzig Fälle aber ſind in den letzten Jahren
verzeichnet worden, daß Menſchen an den Folgen des Biſſes einer Kreuzotter ſtarben, und ebenſo Viele
mögen durch Schlangen ihren Tod gefunden haben, ohne daß es zur allgemeinen Kunde gelangte.
Linck hat wahrſcheinlich Recht, wenn er annimmt, daß in Deutſchland alljährlich zwei Menſchen an
den Folgen des Biſſes der Kreuzotter ſterben und zwanzig Mal mehr durch ſie vergiftet, aber noch
gerettet werden. Es iſt nach dem Vorausgegangenen nicht nöthig, auf die einzelnen Fälle zurückzu-
kommen; der Verlauf der Krankheit iſt auch mehr oder weniger derſelbe, wie bereits geſchildert:
wohl aber glaube ich hier einen von Lenz mitgetheilten Fall, welcher nicht mit dem Tode endigte,
wiedergeben zu müſſen, weil er beweiſt, daß das Tröpfchen Flüſſigkeit aus dem Zahne der Otter ein
ganzes langes Leben vergiften kann.

Martha Eliſabeth Jäger aus Walthershauſen, zur Zeit, in welcher Lenz ſeine
Schlangenkunde ſchrieb, ſechzig Jahre alt, war als neunzehnjähriges Mädchen barfuß in die Haide
gegangen und hatte einen Otternbiß in den Fuß erhalten. Anfangs achtete ſie ihn wenig; bald
aber begann der Fuß zu ſchwellen, und Geſchwulſt und Schmerz drangen ſchnell bis zum Oberleibe
empor, ſodaß ſie umſank und die Kräfte zum Gehen verlor. Zum Glück war ihre Mutter bei ihr
und ſchaffte ſie nach Hauſe. Hier wurde der Wundarzt gerufen und wandte mehrere Mittel an.
Der Zuſtand der Gebiſſenen beſſerte ſich nach und nach; aber bis zu ihrem vierzigſten Lebensjahre
blieb das Bein immer krank, indem es bald gelbe, bald blaue, bald rothe Flecken zeigte und ſchmerzte.
Bis zu dieſer Zeit wurden auf den Rath verſchiedener Vettern und Muhmen immerfort mancherlei
Mittel angewendet. Jetzt aber verſchwand die Krankheit plötzlich aus dem Beine und warf ſich auf
die Augen, welche, nachdem ſie eine Zeitlang ſehr gelitten, gänzlich erblindeten und zwei Jahre lang
blind blieben. Nach dieſen zwei Jahren begannen die Augen allmählich wieder geſund zu werden
und zu ſehen; doch verbreitete ſich jetzt das Uebel durch den ganzen Körper und erzeugte, an verſchiedenen
Stellen wechſelnd, Schmerzen im Leibe und in den Gliedern. Jn dieſem Zuſtande iſt ſie dann
verblieben und zuletzt noch faſt vollkommen taub geworden. Jn ihrer Familie iſt ſozuſagen das hohe
Alter einheimiſch; daher iſt ſie noch von Verwandten umgeben, welche ſich des ganzen Verlaufes ihres
Unglückes wohl erinnern. Es iſt merkwürdig, daß ein Menſch bei ſolchen Leiden ſo alt werden kann,
aber grauenvoll, daß er ein ſo langes Leben vertrauern muß! Und wer möchte nicht, wenn er dieſe
Unglücksgeſchichte hört, meinem Wunſche beiſtimmen, daß ernſtliche Maßregeln zur Verhütung
ähnlichen Unglücks getroffen werden möchten!

Gewiß, wer aus übertriebener Thierfreundlichkeit den Schlangen das Wort redet, frevelt an
den Menſchen. Beſſer iſt es, ich wiederhole es, daß ſie alle, die ſchuldigen, wie die unſchuldigen,
vernichtet werden, als daß ein einziger Menſch ſein Leben durch eine giftige unter ihnen verliere, oder
daß das Leben eines einzigen Menſchen durch das hölliſche Gift in eine ununterbrochene Qual verkehrt
werde. Daher Schutz den natürlichen Feinden der Ottern, vor allen dem Jltis, dem Jgel und dem
Schlangenbuſſard, über deren erſprießliche Wirkſamkeit ich weiter oben (Bd. I, S. 537 und 652,
Bd. III, S. 506) Mittheilung gemacht habe, und unnachſichtliche Verfolgung ihrer ſelbſt und ihres
ganzen Gezüchtes! Jeder Lehrer ſollte ſeine Schüler über die Kreuzotter belehren, jeder ſie unter-
richten, wie ſie, ohne ſich zu gefährden, ein derartiges Thier vernichten, wenn ſie es finden, jeder
Bater ſeinen Kindern mittheilen, daß ein einziger kräftiger Ruthenhieb auf das Rückgrat der Kreuz-
otter ſie umbringt, ſo zählebig ſie auch iſt! Nur daß man ſich nie und nimmer verleiten laſſe, das
gefällte Thier ohne die genügende Vorſicht aufzunehmen; denn die Beweglichkeit währt noch lange
fort, nachdem die Otter den tödtlichen Streich empfangen, und die Gefährlichkeit ihrer Giftzähne wird
ſelbſt dann nicht gemindert, wenn ein ſcharfer Hieb den Kopf vom Leibe trennte! Der abgehauene
Schlangenkopf beißt noch faſt ebenſo wüthend um ſich wie vordem, als die Schlange noch lebte,
Minuten und Viertelſtunden nach der Enthauptung der Seite ſich zurichtend, von welcher er ſich
befehdet glaubt, beweiſend, daß das geringe und ſo wenig entwickelte Hirn ſeine Thätigkeit erſt ſehr
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[300/0326] Die Schlangen. Vipern. Spießottern. ein Menſch durch ein Raubthier ſein Leben verliert: funfzig Fälle aber ſind in den letzten Jahren verzeichnet worden, daß Menſchen an den Folgen des Biſſes einer Kreuzotter ſtarben, und ebenſo Viele mögen durch Schlangen ihren Tod gefunden haben, ohne daß es zur allgemeinen Kunde gelangte. Linck hat wahrſcheinlich Recht, wenn er annimmt, daß in Deutſchland alljährlich zwei Menſchen an den Folgen des Biſſes der Kreuzotter ſterben und zwanzig Mal mehr durch ſie vergiftet, aber noch gerettet werden. Es iſt nach dem Vorausgegangenen nicht nöthig, auf die einzelnen Fälle zurückzu- kommen; der Verlauf der Krankheit iſt auch mehr oder weniger derſelbe, wie bereits geſchildert: wohl aber glaube ich hier einen von Lenz mitgetheilten Fall, welcher nicht mit dem Tode endigte, wiedergeben zu müſſen, weil er beweiſt, daß das Tröpfchen Flüſſigkeit aus dem Zahne der Otter ein ganzes langes Leben vergiften kann. Martha Eliſabeth Jäger aus Walthershauſen, zur Zeit, in welcher Lenz ſeine Schlangenkunde ſchrieb, ſechzig Jahre alt, war als neunzehnjähriges Mädchen barfuß in die Haide gegangen und hatte einen Otternbiß in den Fuß erhalten. Anfangs achtete ſie ihn wenig; bald aber begann der Fuß zu ſchwellen, und Geſchwulſt und Schmerz drangen ſchnell bis zum Oberleibe empor, ſodaß ſie umſank und die Kräfte zum Gehen verlor. Zum Glück war ihre Mutter bei ihr und ſchaffte ſie nach Hauſe. Hier wurde der Wundarzt gerufen und wandte mehrere Mittel an. Der Zuſtand der Gebiſſenen beſſerte ſich nach und nach; aber bis zu ihrem vierzigſten Lebensjahre blieb das Bein immer krank, indem es bald gelbe, bald blaue, bald rothe Flecken zeigte und ſchmerzte. Bis zu dieſer Zeit wurden auf den Rath verſchiedener Vettern und Muhmen immerfort mancherlei Mittel angewendet. Jetzt aber verſchwand die Krankheit plötzlich aus dem Beine und warf ſich auf die Augen, welche, nachdem ſie eine Zeitlang ſehr gelitten, gänzlich erblindeten und zwei Jahre lang blind blieben. Nach dieſen zwei Jahren begannen die Augen allmählich wieder geſund zu werden und zu ſehen; doch verbreitete ſich jetzt das Uebel durch den ganzen Körper und erzeugte, an verſchiedenen Stellen wechſelnd, Schmerzen im Leibe und in den Gliedern. Jn dieſem Zuſtande iſt ſie dann verblieben und zuletzt noch faſt vollkommen taub geworden. Jn ihrer Familie iſt ſozuſagen das hohe Alter einheimiſch; daher iſt ſie noch von Verwandten umgeben, welche ſich des ganzen Verlaufes ihres Unglückes wohl erinnern. Es iſt merkwürdig, daß ein Menſch bei ſolchen Leiden ſo alt werden kann, aber grauenvoll, daß er ein ſo langes Leben vertrauern muß! Und wer möchte nicht, wenn er dieſe Unglücksgeſchichte hört, meinem Wunſche beiſtimmen, daß ernſtliche Maßregeln zur Verhütung ähnlichen Unglücks getroffen werden möchten! Gewiß, wer aus übertriebener Thierfreundlichkeit den Schlangen das Wort redet, frevelt an den Menſchen. Beſſer iſt es, ich wiederhole es, daß ſie alle, die ſchuldigen, wie die unſchuldigen, vernichtet werden, als daß ein einziger Menſch ſein Leben durch eine giftige unter ihnen verliere, oder daß das Leben eines einzigen Menſchen durch das hölliſche Gift in eine ununterbrochene Qual verkehrt werde. Daher Schutz den natürlichen Feinden der Ottern, vor allen dem Jltis, dem Jgel und dem Schlangenbuſſard, über deren erſprießliche Wirkſamkeit ich weiter oben (Bd. I, S. 537 und 652, Bd. III, S. 506) Mittheilung gemacht habe, und unnachſichtliche Verfolgung ihrer ſelbſt und ihres ganzen Gezüchtes! Jeder Lehrer ſollte ſeine Schüler über die Kreuzotter belehren, jeder ſie unter- richten, wie ſie, ohne ſich zu gefährden, ein derartiges Thier vernichten, wenn ſie es finden, jeder Bater ſeinen Kindern mittheilen, daß ein einziger kräftiger Ruthenhieb auf das Rückgrat der Kreuz- otter ſie umbringt, ſo zählebig ſie auch iſt! Nur daß man ſich nie und nimmer verleiten laſſe, das gefällte Thier ohne die genügende Vorſicht aufzunehmen; denn die Beweglichkeit währt noch lange fort, nachdem die Otter den tödtlichen Streich empfangen, und die Gefährlichkeit ihrer Giftzähne wird ſelbſt dann nicht gemindert, wenn ein ſcharfer Hieb den Kopf vom Leibe trennte! Der abgehauene Schlangenkopf beißt noch faſt ebenſo wüthend um ſich wie vordem, als die Schlange noch lebte, Minuten und Viertelſtunden nach der Enthauptung der Seite ſich zurichtend, von welcher er ſich befehdet glaubt, beweiſend, daß das geringe und ſo wenig entwickelte Hirn ſeine Thätigkeit erſt ſehr ſpät verliert. „Es iſt ein grauſenhafter Anblick“, ſagt Linck, „um ſolch ein blutendes Haupt, wie

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/326>, abgerufen am 18.07.2024.