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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Giftschlangen im allgemeinen.
haften Zuckungen verscheiden, sieht diese Erscheinungen jedoch nicht als eigentliche Folge der Gift-
wirkung selbst an, sondern nur als ein Zeichen des "letzten Kampfes zwischen Leben und Tod".

Wendet sich der Verlauf der Krankheit, sei es in Folge der angewandten Mittel, oder weil die
Menge des in die Wunde gebrachten Giftes zu gering war, so folgt diesen ersten allgemeinen
Erscheinungen ein längeres Siechthum, bevor die vollständige Heilung eintritt; leider nur zu häufig
aber geschieht es, daß ein Vergifteter mehrere Wochen, Monate, ja selbst Jahre an den Folgen eines
Schlangenbisses zu leiden hat, daß ihm mit dem einzigen Tröpflein der fürchterlichen Flüssigkeit im
buchstäblichen Sinne des Wortes sein ganzes Leben vergiftet wird.

Unzählig sind die Heilmittel, welche man von Altersher gegen den Schlangenbiß angewendet
hat und noch heutigentages anwendet. Der Aberglaube spielt dabei leider noch immer eine sehr
große Rolle. Ebenso wie man früher zu den Göttern aufschrie, glaubt man in unserer Zeit durch
Hersagen einiger Dutzend "Vaterunser" oder "Ave Maria" Aufhebung einer so gewaltig wirkenden
Vergiftung erzielen zu können. Neben derartigen Ausbrüchen einer sonst unschädlichen, hier aber
verwerflichen Gefühlsseligkeit, welche zum Sterben Kranke einem blinden und haltlosen Wahne
opfert, wendet man allerdings auch noch andere Mittel an: Ausschneiden und Brennen der Wunde,
Auflegen von Schlangensteinen, zerstoßenen Wurzeln und Blättern, Eingeben von Pflanzensäften,
Salmiakgeist, Chlor, Arsen und anderen Giften etc. etc., hat aber trotzdem bis jetzt noch kein einziges
unbedingt vertrauenswürdiges Heilmittel kennen gelernt. Das wirksamste von allen scheint Wein-
geist zu sein, in reichlicher Gabe genossen oder eingetrichtert, gleichviel in welcher Form, ob als Sprit,
Rum, Arak, Cognak, Branntwein oder starker und schwerer Wein. Wir kennen gegenwärtig schon
sehr viele Fälle, welche zu beweisen scheinen, daß Weingeist die Folgen des Schlangenbisses ganz oder
theilweise aufhebt, und dürfen wenigstens die eine Ueberzeugung hegen, daß es für den Kranken vor-
theilhafter ist, ihn erst Schnaps trinken zu lassen und dann eine beliebige Anzahl von Ave Maria
über ihn zu beten, als umgekehrt zu verfahren. Bei Behandlung eines durch Schlangenbiß Ver-
gifteten ist alle Gefühlsschwärmerei vom Uebel und einzig und allein kräftiges Handeln am Platze.
Ein rascher, zwei bis drei Linien tiefer Schnitt über die Wunde, Ausdrücken derselben, Unterbindung,
d. h. feste Umschnürung des Gliedes oberhalb der Bißwunde, Aetzen der letzteren mit Salmiakgeist,
Höllenstein, Aetzkali und dergleichen und Trinken von Branntwein oder Rum, sobald man des einen
oder des anderen habhaft werden kann: das sind die Mittel, welche sich, dem heutigen Stande unserer
Kenntniß gemäß, zunächst empfehlen; die weiteren möge ein verständiger Arzt verordnen.

Soviel im allgemeinen über diesen Gegenstand. Bei Beschreibung der einzelnen Schlangen
werde ich Gelegenheit haben, über die Zufälle nach der Vergiftung und über die sogenannten
Heilmittel noch mancherlei Einzelheiten mitzutheilen.

Die Budisten, deren Glaubenssatzungen den Todtschlag eines Thieres unbedingt verbieten, setzen
eine gefangene Giftschlange in ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen und geben dieses den
Wellen eines Stromes preis: wir schlagen sie todt, wo wir sie finden, thun damit jedoch nicht genug,
solange wir gleichzeitig nicht auch alle natürlichen Feinde dieses Gezüchtes schonen und hegen. Des-
halb Schutz jedem Jltis, jedem Bussard, damit es wenigstens in unserem Vaterlande den Schlangen
nicht an tüchtigen Gegnern fehle!



Die erste Hauptabtheilung der Giftschlangen oder die vierte Zunft der gesammten Ordnung
umfaßt die Furchenzähner (Proteroglypha). Sie haben noch große Aehnlichkeit mit den Nattern
oder unschuldigen Schlangen überhaupt, äußerlich wie hinsichtlich des Gebisses, unterscheiden sich aber
von diesen dadurch, daß der mittellange Oberkiefer, vor einigen derben Zähnen, Gifthaken trägt,
welche an der auswärts gebogenen, also vorderen Seite der ganzen Länge nach gefurcht oder gerinnelt,
jedoch nicht eigentlich durchbohrt sind. Diese Furchenzähne müssen als das bezeichnende Merkmal
aller hierher gehörigen Schlangen gelten, als das einzige, welches sie mit Sicherheit von den ungiftigen

Giftſchlangen im allgemeinen.
haften Zuckungen verſcheiden, ſieht dieſe Erſcheinungen jedoch nicht als eigentliche Folge der Gift-
wirkung ſelbſt an, ſondern nur als ein Zeichen des „letzten Kampfes zwiſchen Leben und Tod“.

Wendet ſich der Verlauf der Krankheit, ſei es in Folge der angewandten Mittel, oder weil die
Menge des in die Wunde gebrachten Giftes zu gering war, ſo folgt dieſen erſten allgemeinen
Erſcheinungen ein längeres Siechthum, bevor die vollſtändige Heilung eintritt; leider nur zu häufig
aber geſchieht es, daß ein Vergifteter mehrere Wochen, Monate, ja ſelbſt Jahre an den Folgen eines
Schlangenbiſſes zu leiden hat, daß ihm mit dem einzigen Tröpflein der fürchterlichen Flüſſigkeit im
buchſtäblichen Sinne des Wortes ſein ganzes Leben vergiftet wird.

Unzählig ſind die Heilmittel, welche man von Altersher gegen den Schlangenbiß angewendet
hat und noch heutigentages anwendet. Der Aberglaube ſpielt dabei leider noch immer eine ſehr
große Rolle. Ebenſo wie man früher zu den Göttern aufſchrie, glaubt man in unſerer Zeit durch
Herſagen einiger Dutzend „Vaterunſer“ oder „Ave Maria“ Aufhebung einer ſo gewaltig wirkenden
Vergiftung erzielen zu können. Neben derartigen Ausbrüchen einer ſonſt unſchädlichen, hier aber
verwerflichen Gefühlsſeligkeit, welche zum Sterben Kranke einem blinden und haltloſen Wahne
opfert, wendet man allerdings auch noch andere Mittel an: Ausſchneiden und Brennen der Wunde,
Auflegen von Schlangenſteinen, zerſtoßenen Wurzeln und Blättern, Eingeben von Pflanzenſäften,
Salmiakgeiſt, Chlor, Arſen und anderen Giften ꝛc. ꝛc., hat aber trotzdem bis jetzt noch kein einziges
unbedingt vertrauenswürdiges Heilmittel kennen gelernt. Das wirkſamſte von allen ſcheint Wein-
geiſt zu ſein, in reichlicher Gabe genoſſen oder eingetrichtert, gleichviel in welcher Form, ob als Sprit,
Rum, Arak, Cognak, Branntwein oder ſtarker und ſchwerer Wein. Wir kennen gegenwärtig ſchon
ſehr viele Fälle, welche zu beweiſen ſcheinen, daß Weingeiſt die Folgen des Schlangenbiſſes ganz oder
theilweiſe aufhebt, und dürfen wenigſtens die eine Ueberzeugung hegen, daß es für den Kranken vor-
theilhafter iſt, ihn erſt Schnaps trinken zu laſſen und dann eine beliebige Anzahl von Ave Maria
über ihn zu beten, als umgekehrt zu verfahren. Bei Behandlung eines durch Schlangenbiß Ver-
gifteten iſt alle Gefühlsſchwärmerei vom Uebel und einzig und allein kräftiges Handeln am Platze.
Ein raſcher, zwei bis drei Linien tiefer Schnitt über die Wunde, Ausdrücken derſelben, Unterbindung,
d. h. feſte Umſchnürung des Gliedes oberhalb der Bißwunde, Aetzen der letzteren mit Salmiakgeiſt,
Höllenſtein, Aetzkali und dergleichen und Trinken von Branntwein oder Rum, ſobald man des einen
oder des anderen habhaft werden kann: das ſind die Mittel, welche ſich, dem heutigen Stande unſerer
Kenntniß gemäß, zunächſt empfehlen; die weiteren möge ein verſtändiger Arzt verordnen.

Soviel im allgemeinen über dieſen Gegenſtand. Bei Beſchreibung der einzelnen Schlangen
werde ich Gelegenheit haben, über die Zufälle nach der Vergiftung und über die ſogenannten
Heilmittel noch mancherlei Einzelheiten mitzutheilen.

Die Budiſten, deren Glaubensſatzungen den Todtſchlag eines Thieres unbedingt verbieten, ſetzen
eine gefangene Giftſchlange in ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen und geben dieſes den
Wellen eines Stromes preis: wir ſchlagen ſie todt, wo wir ſie finden, thun damit jedoch nicht genug,
ſolange wir gleichzeitig nicht auch alle natürlichen Feinde dieſes Gezüchtes ſchonen und hegen. Des-
halb Schutz jedem Jltis, jedem Buſſard, damit es wenigſtens in unſerem Vaterlande den Schlangen
nicht an tüchtigen Gegnern fehle!



Die erſte Hauptabtheilung der Giftſchlangen oder die vierte Zunft der geſammten Ordnung
umfaßt die Furchenzähner (Proteroglypha). Sie haben noch große Aehnlichkeit mit den Nattern
oder unſchuldigen Schlangen überhaupt, äußerlich wie hinſichtlich des Gebiſſes, unterſcheiden ſich aber
von dieſen dadurch, daß der mittellange Oberkiefer, vor einigen derben Zähnen, Gifthaken trägt,
welche an der auswärts gebogenen, alſo vorderen Seite der ganzen Länge nach gefurcht oder gerinnelt,
jedoch nicht eigentlich durchbohrt ſind. Dieſe Furchenzähne müſſen als das bezeichnende Merkmal
aller hierher gehörigen Schlangen gelten, als das einzige, welches ſie mit Sicherheit von den ungiftigen

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[255/0277] Giftſchlangen im allgemeinen. haften Zuckungen verſcheiden, ſieht dieſe Erſcheinungen jedoch nicht als eigentliche Folge der Gift- wirkung ſelbſt an, ſondern nur als ein Zeichen des „letzten Kampfes zwiſchen Leben und Tod“. Wendet ſich der Verlauf der Krankheit, ſei es in Folge der angewandten Mittel, oder weil die Menge des in die Wunde gebrachten Giftes zu gering war, ſo folgt dieſen erſten allgemeinen Erſcheinungen ein längeres Siechthum, bevor die vollſtändige Heilung eintritt; leider nur zu häufig aber geſchieht es, daß ein Vergifteter mehrere Wochen, Monate, ja ſelbſt Jahre an den Folgen eines Schlangenbiſſes zu leiden hat, daß ihm mit dem einzigen Tröpflein der fürchterlichen Flüſſigkeit im buchſtäblichen Sinne des Wortes ſein ganzes Leben vergiftet wird. Unzählig ſind die Heilmittel, welche man von Altersher gegen den Schlangenbiß angewendet hat und noch heutigentages anwendet. Der Aberglaube ſpielt dabei leider noch immer eine ſehr große Rolle. Ebenſo wie man früher zu den Göttern aufſchrie, glaubt man in unſerer Zeit durch Herſagen einiger Dutzend „Vaterunſer“ oder „Ave Maria“ Aufhebung einer ſo gewaltig wirkenden Vergiftung erzielen zu können. Neben derartigen Ausbrüchen einer ſonſt unſchädlichen, hier aber verwerflichen Gefühlsſeligkeit, welche zum Sterben Kranke einem blinden und haltloſen Wahne opfert, wendet man allerdings auch noch andere Mittel an: Ausſchneiden und Brennen der Wunde, Auflegen von Schlangenſteinen, zerſtoßenen Wurzeln und Blättern, Eingeben von Pflanzenſäften, Salmiakgeiſt, Chlor, Arſen und anderen Giften ꝛc. ꝛc., hat aber trotzdem bis jetzt noch kein einziges unbedingt vertrauenswürdiges Heilmittel kennen gelernt. Das wirkſamſte von allen ſcheint Wein- geiſt zu ſein, in reichlicher Gabe genoſſen oder eingetrichtert, gleichviel in welcher Form, ob als Sprit, Rum, Arak, Cognak, Branntwein oder ſtarker und ſchwerer Wein. Wir kennen gegenwärtig ſchon ſehr viele Fälle, welche zu beweiſen ſcheinen, daß Weingeiſt die Folgen des Schlangenbiſſes ganz oder theilweiſe aufhebt, und dürfen wenigſtens die eine Ueberzeugung hegen, daß es für den Kranken vor- theilhafter iſt, ihn erſt Schnaps trinken zu laſſen und dann eine beliebige Anzahl von Ave Maria über ihn zu beten, als umgekehrt zu verfahren. Bei Behandlung eines durch Schlangenbiß Ver- gifteten iſt alle Gefühlsſchwärmerei vom Uebel und einzig und allein kräftiges Handeln am Platze. Ein raſcher, zwei bis drei Linien tiefer Schnitt über die Wunde, Ausdrücken derſelben, Unterbindung, d. h. feſte Umſchnürung des Gliedes oberhalb der Bißwunde, Aetzen der letzteren mit Salmiakgeiſt, Höllenſtein, Aetzkali und dergleichen und Trinken von Branntwein oder Rum, ſobald man des einen oder des anderen habhaft werden kann: das ſind die Mittel, welche ſich, dem heutigen Stande unſerer Kenntniß gemäß, zunächſt empfehlen; die weiteren möge ein verſtändiger Arzt verordnen. Soviel im allgemeinen über dieſen Gegenſtand. Bei Beſchreibung der einzelnen Schlangen werde ich Gelegenheit haben, über die Zufälle nach der Vergiftung und über die ſogenannten Heilmittel noch mancherlei Einzelheiten mitzutheilen. Die Budiſten, deren Glaubensſatzungen den Todtſchlag eines Thieres unbedingt verbieten, ſetzen eine gefangene Giftſchlange in ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen und geben dieſes den Wellen eines Stromes preis: wir ſchlagen ſie todt, wo wir ſie finden, thun damit jedoch nicht genug, ſolange wir gleichzeitig nicht auch alle natürlichen Feinde dieſes Gezüchtes ſchonen und hegen. Des- halb Schutz jedem Jltis, jedem Buſſard, damit es wenigſtens in unſerem Vaterlande den Schlangen nicht an tüchtigen Gegnern fehle! Die erſte Hauptabtheilung der Giftſchlangen oder die vierte Zunft der geſammten Ordnung umfaßt die Furchenzähner (Proteroglypha). Sie haben noch große Aehnlichkeit mit den Nattern oder unſchuldigen Schlangen überhaupt, äußerlich wie hinſichtlich des Gebiſſes, unterſcheiden ſich aber von dieſen dadurch, daß der mittellange Oberkiefer, vor einigen derben Zähnen, Gifthaken trägt, welche an der auswärts gebogenen, alſo vorderen Seite der ganzen Länge nach gefurcht oder gerinnelt, jedoch nicht eigentlich durchbohrt ſind. Dieſe Furchenzähne müſſen als das bezeichnende Merkmal aller hierher gehörigen Schlangen gelten, als das einzige, welches ſie mit Sicherheit von den ungiftigen

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/277>, abgerufen am 17.05.2024.