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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

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Die Späher. Klettervögel. Mauerkletten.
Lieblingsplätze meines Vogels: aber ich zog wieder ab, und auch die andern Fänger brachten mir
keinen Mauerläufer. Da endlich oder vielmehr schon nach zwei Jahren, im Februar des Jahres 1864,
erhielt ich ein wirklich prachtvolles Männchen, welches auf die einzig denkbare Weise gefangen worden
war. Bei der grimmigen Kälte jener Zeit war es an den Wänden eines Kurhauses in der Nähe
von St. Gallen umhergeklettert, unvorsichtigerweise durch ein Fenster in ein Zimmer gekommen und
hier sogleich gefangen worden. Vierundzwanzig Stunden nach seiner Einkerkerung gelangte es in
meine Hände."

"Gedachter Mauerläufer hatte, nachdem er gefangen worden war, weder zu fressen, noch zu
trinken erhalten; denn er war eigentlich zum Tode verurtheilt und bestimmt, ausgestopft zu werden.
Eiligst wurde der eingerichtete Käfig herbeigeholt, und der Vogel, welcher schon ziemlich schwach und
ermattet aussah, flog, begleitet von meinen innigsten Segenswünschen, hinein. Als ich ihn vor der
Einbringung in den Käfig in der Hand hielt, erlaubte ich mir, obwohl er aus voller Kehle schrie und
mit seinem langen Schnabel um sich schlug, eine Besichtigung seiner vorzunehmen und gewahrte zu
meiner Freude, daß er alle andern, welche ich bisher in den Händen gehabt hatte, an Schönheit über-
traf. Keine Feder war verletzt."

"Selbstverständlich erhielt er seinen Platz in einem ungeheizten Zimmer, jedoch in einem solchen,
welches einige Stunden von der Sonne beschienen wurde. Er hatte sich inzwischen auf einen der
Zacken gesetzt, schüttelte sich dort und hielt ruhig Umschau. Kaum fünf Minuten später kam er herab,
verschlang zu meiner innigsten Freude sämmtliche Mehlwürmer, welche ich ihm vorgeworfen, und
als diese verzehrt waren, ein ganzes Häufchen dürrer Ameiseneier. Jetzt durfte ich hinter meinem
Versteck hervortreten: die erste Gefahr war vorüber. Jch hatte erwartet, daß er nicht scheu wäre; so
kirr aber und zutraulich, als er sich zeigte, hatte ich ihn nicht zu finden gehofft. Er blieb munter,
hatte sich bald eingewöhnt und wurde überraschend schnell zahm. Schon in der vierten Nacht hatte er
die für seine Schlafstelle eingerichtete Höhlung sich ausersehen, und seitdem schlief er allnächtlich dort.
Mehlwürmer fraß er von Anfang an sehr gern, leider aber auch nichts Anderes; denn die Ameisen-
puppen, welche er in seinem größten Hunger hinabgewürgt hatte, ließ er fortan liegen und verstand
sich viel lieber dazu, mir seinen langen Schnabel durch das Gitter hindurch entgegenzustrecken, sobald
ich ihm einen Mehlwurm zeigte. Diesen nahm er mir ohne Scheu aus der Hand, allerdings nur,
wenn er hungrig war. Da ich in der ersten Zeit nicht den Muth hatte, ihn zu anderer Nahrung zu
zwingen, fütterte ich ihm zehn Wochen lang täglich siebzig Stück ausgewachsene Mehlwürmer, und
nur, weil ich seit vielen Jahren ziemlich große Sätze besitze, vermochte ich solche Wucherzinsen zu
nehmen. Beim Abzählen der siebzig Stück aber kam ich mir manchmal vor wie ein armer Tagwerker,
der das Brod für seine Kinder fast nicht aufzutreiben vermag und sich dennoch freut, wenn es ihnen
schmeckt. Schließlich aber wagte ich doch eine Aenderung in der Ernährungsweise. Mein Gefangener
erhielt immer weniger Mehlwürmer und destomehr Ameisenpuppen; aber obgleich dieselben frisch
waren: er berührte sie nicht, litt eher bitterlichen Hunger. Als er eines Morgens gar keine Mehl-
würmer und nur noch die leidigen Ameisenpuppen vor sich liegen sah, fastete er mit großem Eigensinn
sechsunddreißig Stunden fast vollständig, und ich war am Abend des zweiten Fasttages, aus Furcht,
ihn zu verlieren, im Begriff, ihm wieder Mehlwürmer vorzusetzen, als ich ihn plötzlich in allgewohnter
Thätigkeit fand: er hatte die Puppen in kurzer Zeit rein aufgezehrt. Der stets sich steigernde Hunger
mußte seinen Entschluß gereift haben, lieber von Ameisenpuppen zu leben, als aus Mangel an Mehl-
würmern zu sterben. Fortan fraß er frische Ameisenpuppen als Hauptnahrung, Mehlwürmer als
Leckerei, befand sich dabei ausgezeichnet und fuhr in seinem Singen, welches er schon einige Wochen
nach seiner Einkerkerung begonnen hatte, fleißig fort. Ein Freund des Trinkens oder des Wassers
überhaupt schien er nicht zu sein, wenigstens sah ich ihn nie sich baden, nie mit nassen Federn. Ein
einziges Mal beobachtete ich, daß sein Schnabel naß war, deshalb glaube ich, daß er wenigstens ab
und zu einmal trinkt. Als ich ihm einst die beschmuzten Schwungfedern wusch, schüttelte er sich noch
lange Zeit nachher mit allen Zeichen des größten Unbehagens, saß fast den ganzen Tag mit gesträubtem

Die Späher. Klettervögel. Mauerkletten.
Lieblingsplätze meines Vogels: aber ich zog wieder ab, und auch die andern Fänger brachten mir
keinen Mauerläufer. Da endlich oder vielmehr ſchon nach zwei Jahren, im Februar des Jahres 1864,
erhielt ich ein wirklich prachtvolles Männchen, welches auf die einzig denkbare Weiſe gefangen worden
war. Bei der grimmigen Kälte jener Zeit war es an den Wänden eines Kurhauſes in der Nähe
von St. Gallen umhergeklettert, unvorſichtigerweiſe durch ein Fenſter in ein Zimmer gekommen und
hier ſogleich gefangen worden. Vierundzwanzig Stunden nach ſeiner Einkerkerung gelangte es in
meine Hände.“

„Gedachter Mauerläufer hatte, nachdem er gefangen worden war, weder zu freſſen, noch zu
trinken erhalten; denn er war eigentlich zum Tode verurtheilt und beſtimmt, ausgeſtopft zu werden.
Eiligſt wurde der eingerichtete Käfig herbeigeholt, und der Vogel, welcher ſchon ziemlich ſchwach und
ermattet ausſah, flog, begleitet von meinen innigſten Segenswünſchen, hinein. Als ich ihn vor der
Einbringung in den Käfig in der Hand hielt, erlaubte ich mir, obwohl er aus voller Kehle ſchrie und
mit ſeinem langen Schnabel um ſich ſchlug, eine Beſichtigung ſeiner vorzunehmen und gewahrte zu
meiner Freude, daß er alle andern, welche ich bisher in den Händen gehabt hatte, an Schönheit über-
traf. Keine Feder war verletzt.“

„Selbſtverſtändlich erhielt er ſeinen Platz in einem ungeheizten Zimmer, jedoch in einem ſolchen,
welches einige Stunden von der Sonne beſchienen wurde. Er hatte ſich inzwiſchen auf einen der
Zacken geſetzt, ſchüttelte ſich dort und hielt ruhig Umſchau. Kaum fünf Minuten ſpäter kam er herab,
verſchlang zu meiner innigſten Freude ſämmtliche Mehlwürmer, welche ich ihm vorgeworfen, und
als dieſe verzehrt waren, ein ganzes Häufchen dürrer Ameiſeneier. Jetzt durfte ich hinter meinem
Verſteck hervortreten: die erſte Gefahr war vorüber. Jch hatte erwartet, daß er nicht ſcheu wäre; ſo
kirr aber und zutraulich, als er ſich zeigte, hatte ich ihn nicht zu finden gehofft. Er blieb munter,
hatte ſich bald eingewöhnt und wurde überraſchend ſchnell zahm. Schon in der vierten Nacht hatte er
die für ſeine Schlafſtelle eingerichtete Höhlung ſich auserſehen, und ſeitdem ſchlief er allnächtlich dort.
Mehlwürmer fraß er von Anfang an ſehr gern, leider aber auch nichts Anderes; denn die Ameiſen-
puppen, welche er in ſeinem größten Hunger hinabgewürgt hatte, ließ er fortan liegen und verſtand
ſich viel lieber dazu, mir ſeinen langen Schnabel durch das Gitter hindurch entgegenzuſtrecken, ſobald
ich ihm einen Mehlwurm zeigte. Dieſen nahm er mir ohne Scheu aus der Hand, allerdings nur,
wenn er hungrig war. Da ich in der erſten Zeit nicht den Muth hatte, ihn zu anderer Nahrung zu
zwingen, fütterte ich ihm zehn Wochen lang täglich ſiebzig Stück ausgewachſene Mehlwürmer, und
nur, weil ich ſeit vielen Jahren ziemlich große Sätze beſitze, vermochte ich ſolche Wucherzinſen zu
nehmen. Beim Abzählen der ſiebzig Stück aber kam ich mir manchmal vor wie ein armer Tagwerker,
der das Brod für ſeine Kinder faſt nicht aufzutreiben vermag und ſich dennoch freut, wenn es ihnen
ſchmeckt. Schließlich aber wagte ich doch eine Aenderung in der Ernährungsweiſe. Mein Gefangener
erhielt immer weniger Mehlwürmer und deſtomehr Ameiſenpuppen; aber obgleich dieſelben friſch
waren: er berührte ſie nicht, litt eher bitterlichen Hunger. Als er eines Morgens gar keine Mehl-
würmer und nur noch die leidigen Ameiſenpuppen vor ſich liegen ſah, faſtete er mit großem Eigenſinn
ſechsunddreißig Stunden faſt vollſtändig, und ich war am Abend des zweiten Faſttages, aus Furcht,
ihn zu verlieren, im Begriff, ihm wieder Mehlwürmer vorzuſetzen, als ich ihn plötzlich in allgewohnter
Thätigkeit fand: er hatte die Puppen in kurzer Zeit rein aufgezehrt. Der ſtets ſich ſteigernde Hunger
mußte ſeinen Entſchluß gereift haben, lieber von Ameiſenpuppen zu leben, als aus Mangel an Mehl-
würmern zu ſterben. Fortan fraß er friſche Ameiſenpuppen als Hauptnahrung, Mehlwürmer als
Leckerei, befand ſich dabei ausgezeichnet und fuhr in ſeinem Singen, welches er ſchon einige Wochen
nach ſeiner Einkerkerung begonnen hatte, fleißig fort. Ein Freund des Trinkens oder des Waſſers
überhaupt ſchien er nicht zu ſein, wenigſtens ſah ich ihn nie ſich baden, nie mit naſſen Federn. Ein
einziges Mal beobachtete ich, daß ſein Schnabel naß war, deshalb glaube ich, daß er wenigſtens ab
und zu einmal trinkt. Als ich ihm einſt die beſchmuzten Schwungfedern wuſch, ſchüttelte er ſich noch
lange Zeit nachher mit allen Zeichen des größten Unbehagens, ſaß faſt den ganzen Tag mit geſträubtem

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[50/0062] Die Späher. Klettervögel. Mauerkletten. Lieblingsplätze meines Vogels: aber ich zog wieder ab, und auch die andern Fänger brachten mir keinen Mauerläufer. Da endlich oder vielmehr ſchon nach zwei Jahren, im Februar des Jahres 1864, erhielt ich ein wirklich prachtvolles Männchen, welches auf die einzig denkbare Weiſe gefangen worden war. Bei der grimmigen Kälte jener Zeit war es an den Wänden eines Kurhauſes in der Nähe von St. Gallen umhergeklettert, unvorſichtigerweiſe durch ein Fenſter in ein Zimmer gekommen und hier ſogleich gefangen worden. Vierundzwanzig Stunden nach ſeiner Einkerkerung gelangte es in meine Hände.“ „Gedachter Mauerläufer hatte, nachdem er gefangen worden war, weder zu freſſen, noch zu trinken erhalten; denn er war eigentlich zum Tode verurtheilt und beſtimmt, ausgeſtopft zu werden. Eiligſt wurde der eingerichtete Käfig herbeigeholt, und der Vogel, welcher ſchon ziemlich ſchwach und ermattet ausſah, flog, begleitet von meinen innigſten Segenswünſchen, hinein. Als ich ihn vor der Einbringung in den Käfig in der Hand hielt, erlaubte ich mir, obwohl er aus voller Kehle ſchrie und mit ſeinem langen Schnabel um ſich ſchlug, eine Beſichtigung ſeiner vorzunehmen und gewahrte zu meiner Freude, daß er alle andern, welche ich bisher in den Händen gehabt hatte, an Schönheit über- traf. Keine Feder war verletzt.“ „Selbſtverſtändlich erhielt er ſeinen Platz in einem ungeheizten Zimmer, jedoch in einem ſolchen, welches einige Stunden von der Sonne beſchienen wurde. Er hatte ſich inzwiſchen auf einen der Zacken geſetzt, ſchüttelte ſich dort und hielt ruhig Umſchau. Kaum fünf Minuten ſpäter kam er herab, verſchlang zu meiner innigſten Freude ſämmtliche Mehlwürmer, welche ich ihm vorgeworfen, und als dieſe verzehrt waren, ein ganzes Häufchen dürrer Ameiſeneier. Jetzt durfte ich hinter meinem Verſteck hervortreten: die erſte Gefahr war vorüber. Jch hatte erwartet, daß er nicht ſcheu wäre; ſo kirr aber und zutraulich, als er ſich zeigte, hatte ich ihn nicht zu finden gehofft. Er blieb munter, hatte ſich bald eingewöhnt und wurde überraſchend ſchnell zahm. Schon in der vierten Nacht hatte er die für ſeine Schlafſtelle eingerichtete Höhlung ſich auserſehen, und ſeitdem ſchlief er allnächtlich dort. Mehlwürmer fraß er von Anfang an ſehr gern, leider aber auch nichts Anderes; denn die Ameiſen- puppen, welche er in ſeinem größten Hunger hinabgewürgt hatte, ließ er fortan liegen und verſtand ſich viel lieber dazu, mir ſeinen langen Schnabel durch das Gitter hindurch entgegenzuſtrecken, ſobald ich ihm einen Mehlwurm zeigte. Dieſen nahm er mir ohne Scheu aus der Hand, allerdings nur, wenn er hungrig war. Da ich in der erſten Zeit nicht den Muth hatte, ihn zu anderer Nahrung zu zwingen, fütterte ich ihm zehn Wochen lang täglich ſiebzig Stück ausgewachſene Mehlwürmer, und nur, weil ich ſeit vielen Jahren ziemlich große Sätze beſitze, vermochte ich ſolche Wucherzinſen zu nehmen. Beim Abzählen der ſiebzig Stück aber kam ich mir manchmal vor wie ein armer Tagwerker, der das Brod für ſeine Kinder faſt nicht aufzutreiben vermag und ſich dennoch freut, wenn es ihnen ſchmeckt. Schließlich aber wagte ich doch eine Aenderung in der Ernährungsweiſe. Mein Gefangener erhielt immer weniger Mehlwürmer und deſtomehr Ameiſenpuppen; aber obgleich dieſelben friſch waren: er berührte ſie nicht, litt eher bitterlichen Hunger. Als er eines Morgens gar keine Mehl- würmer und nur noch die leidigen Ameiſenpuppen vor ſich liegen ſah, faſtete er mit großem Eigenſinn ſechsunddreißig Stunden faſt vollſtändig, und ich war am Abend des zweiten Faſttages, aus Furcht, ihn zu verlieren, im Begriff, ihm wieder Mehlwürmer vorzuſetzen, als ich ihn plötzlich in allgewohnter Thätigkeit fand: er hatte die Puppen in kurzer Zeit rein aufgezehrt. Der ſtets ſich ſteigernde Hunger mußte ſeinen Entſchluß gereift haben, lieber von Ameiſenpuppen zu leben, als aus Mangel an Mehl- würmern zu ſterben. Fortan fraß er friſche Ameiſenpuppen als Hauptnahrung, Mehlwürmer als Leckerei, befand ſich dabei ausgezeichnet und fuhr in ſeinem Singen, welches er ſchon einige Wochen nach ſeiner Einkerkerung begonnen hatte, fleißig fort. Ein Freund des Trinkens oder des Waſſers überhaupt ſchien er nicht zu ſein, wenigſtens ſah ich ihn nie ſich baden, nie mit naſſen Federn. Ein einziges Mal beobachtete ich, daß ſein Schnabel naß war, deshalb glaube ich, daß er wenigſtens ab und zu einmal trinkt. Als ich ihm einſt die beſchmuzten Schwungfedern wuſch, ſchüttelte er ſich noch lange Zeit nachher mit allen Zeichen des größten Unbehagens, ſaß faſt den ganzen Tag mit geſträubtem

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/62>, abgerufen am 27.11.2024.