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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

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Brutgeschäft. Unterricht der Jungen. Zug, Wanderschaft und Fremdenleben.

Der Zug ist es, welcher uns im Herbste unsere Sänger nimmt und sie im Frühjahre wieder-
bringt, welcher unsere Wasservögel vertreibt, noch bevor das Eis ihr Gebiet ihnen unzugänglich macht,
welche viele Räuber zwingt, ihrer abgereisten Beute nachzufliegen. Von den europäischen Vögeln
zieht mehr als die Hälfte, von den nordasiatischen und nordamerikanischen verhältnißmäßig ebenso
viele. Alle wandern in mehr oder weniger südlicher Richtung, die auf der Osthälfte der Erde leben-
den nach Südwesten, die auf der Westhälfte der Erde wohnenden nach Osten, entsprechend der Welt-
lage ihres Erdtheils und der Beschaffenheit des Gürtels, in welchem die Winterherberge liegt. Jn
der Zugrichtung fließende Ströme oder verlaufende Thäler werden zu Heerstraßen, hohe Gebirgsthäler
zu Pässen für die Wanderer; in ihnen sammeln sich nach und nach die Reisenden an. Einige ziehen
paarweise, andere in Gesellschaft, die schwachen hauptsächlich des Nachts, die starken auch bei Tage,
alle so eilig als möglich. Sie reisen ab, lange bevor der Mangel in ihrer Heimat eintritt; sie reisen
so eilig, als ob ein unüberwindlicher Drang sie treibe; sie werden um die Zeit der Reise unruhig,
auch wenn sie im Käfig sich befinden, werden es, wenn sie als Junge dem Neste entnommen
und in der Gefangenschaft aufgefüttert wurden. Die einen verlassen uns schon früh im Jahre, die
anderen viel später, jeder einzelne aber zu einer bestimmten, nur wenig wechselnden Zeit. Diejenigen,
welche am spätesten wegzogen, kehren am ersten zurück, die, welche am frühesten uns verließen, kommen
am spätesten wieder: der Mauersegler reist schon in den ersten Tagen des August ab und stellt sich
erst im Mai wieder ein; die letzten Nachzügler wandern erst im November aus und sind bereits im
Februar wieder angelangt. Jhre Winterherbergen sind ungemein ausgedehnt; von vielen kennt man
die Stätte nicht, in welcher sie endlich Ruhe finden. Mehrere überwintern schon in Südeuropa, viele
in Nordafrika zwischen dem 37. und 24. Grade der nördlichen Breite; nicht wenige gehen bis tief in
das Jnnere des heißen Gürtels und finden sich während der Wintermonate von der Küste des rothen
oder indischen Meeres an bis zu der des atlantischen. Eine ähnliche Herberge bilden Jndien, ein-
schließlich der benachbarten großen Jnseln, Birma, Siam und Südchina. Die nordamerikanischen
Vögel reisen bis in den Süden der Vereinigten Staaten und bis nach Mittelamerika. Auch auf der
südlichen Halbkugel findet ein regelmäßiger Zug statt. Die Vögel Südamerikas fliegen in nörd-
licher Richtung bis nach Süd- und Mittelbrasilien, die Südaustraliens wandern nach dem Norden
dieses Erdtheils, theilweise wohl auch bis nach Neuguinea und auf die benachbarten Eilande.

Vor dem Weggange pflegen die Abreisenden Versammlungen zu bilden, welche einige Tage an
einer und derselben Stelle verweilen, die einzeln Vorüberziehenden zu sich herbeilocken und endlich,
wenn der Schwarm zu einer gewissen Stärke angewachsen ist, mit diesem plötzlich aufbrechen und
davon fliegen. Einzelne halten vorher Musterung über die Mitglieder der Reisegesellschaft, verstoßen
manche, sollen sie zuweilen sogar umbringen. Die Zuggesellschaften bleiben während der Reise,
meist auch in der Winterherberge, mehr oder weniger vereinigt. Unterwegs beobachten sie entweder
eine bestimmte Ordnung, gewöhnlich die eines Keiles oder richtiger die zweier gerader Linien, welche
in schiefer Richtung gegen einander laufen und vorn an der Spitze sich vereinigen, einem V vergleich-
bar; andere fliegen in Reihen, andere in einem gewissen Abstande durch einander, in wirren, nach
außen hin jedoch einigermaßen gerundeten Haufen. Die meisten streichen in bedeutender Höhe fort,
manche stürzen sich aber aus dieser Höhe plötzlich tief nach unten herab, streichen eine Zeitlang über
dem Boden weg und erheben sich allgemach wieder in ihre frühere Höhe. Schwächere Vögel benutzen
unterwegs Wälder und Gebüsche zu ihrer Deckung, fliegen wenigstens übertages soviel als möglich von
Baum zu Baum, von Wald zu Walde. Laufvögel, denen das Fliegen schwer wird, legen einen guten
Theil des Weges zu Fuße, manche Wasservögel geringere Strecken schwimmend zurück. Gegenwind
fördert und beschleunigt, Rückwind stört und verlangsamt den Zug, hält ihn wohl auch tagelang auf.
Die Erregung und Unruhe, welche die Gemüther erfüllt, endet erst am Ziele der Reise; jedoch tritt
auch dort das gewohnte Leben erst gegen den Rückzug hin wieder ein.

Die Wanderung kann unter Umständen dem Zuge insofern ähnlich werden, als sie zu einer
bestimmten Zeit mit größerer oder geringerer Regelmäßigkeit stattfindet. Wandervögel sind viele der

Brehm, Thierleben. IV. 63
Brutgeſchäft. Unterricht der Jungen. Zug, Wanderſchaft und Fremdenleben.

Der Zug iſt es, welcher uns im Herbſte unſere Sänger nimmt und ſie im Frühjahre wieder-
bringt, welcher unſere Waſſervögel vertreibt, noch bevor das Eis ihr Gebiet ihnen unzugänglich macht,
welche viele Räuber zwingt, ihrer abgereiſten Beute nachzufliegen. Von den europäiſchen Vögeln
zieht mehr als die Hälfte, von den nordaſiatiſchen und nordamerikaniſchen verhältnißmäßig ebenſo
viele. Alle wandern in mehr oder weniger ſüdlicher Richtung, die auf der Oſthälfte der Erde leben-
den nach Südweſten, die auf der Weſthälfte der Erde wohnenden nach Oſten, entſprechend der Welt-
lage ihres Erdtheils und der Beſchaffenheit des Gürtels, in welchem die Winterherberge liegt. Jn
der Zugrichtung fließende Ströme oder verlaufende Thäler werden zu Heerſtraßen, hohe Gebirgsthäler
zu Päſſen für die Wanderer; in ihnen ſammeln ſich nach und nach die Reiſenden an. Einige ziehen
paarweiſe, andere in Geſellſchaft, die ſchwachen hauptſächlich des Nachts, die ſtarken auch bei Tage,
alle ſo eilig als möglich. Sie reiſen ab, lange bevor der Mangel in ihrer Heimat eintritt; ſie reiſen
ſo eilig, als ob ein unüberwindlicher Drang ſie treibe; ſie werden um die Zeit der Reiſe unruhig,
auch wenn ſie im Käfig ſich befinden, werden es, wenn ſie als Junge dem Neſte entnommen
und in der Gefangenſchaft aufgefüttert wurden. Die einen verlaſſen uns ſchon früh im Jahre, die
anderen viel ſpäter, jeder einzelne aber zu einer beſtimmten, nur wenig wechſelnden Zeit. Diejenigen,
welche am ſpäteſten wegzogen, kehren am erſten zurück, die, welche am früheſten uns verließen, kommen
am ſpäteſten wieder: der Mauerſegler reiſt ſchon in den erſten Tagen des Auguſt ab und ſtellt ſich
erſt im Mai wieder ein; die letzten Nachzügler wandern erſt im November aus und ſind bereits im
Februar wieder angelangt. Jhre Winterherbergen ſind ungemein ausgedehnt; von vielen kennt man
die Stätte nicht, in welcher ſie endlich Ruhe finden. Mehrere überwintern ſchon in Südeuropa, viele
in Nordafrika zwiſchen dem 37. und 24. Grade der nördlichen Breite; nicht wenige gehen bis tief in
das Jnnere des heißen Gürtels und finden ſich während der Wintermonate von der Küſte des rothen
oder indiſchen Meeres an bis zu der des atlantiſchen. Eine ähnliche Herberge bilden Jndien, ein-
ſchließlich der benachbarten großen Jnſeln, Birma, Siam und Südchina. Die nordamerikaniſchen
Vögel reiſen bis in den Süden der Vereinigten Staaten und bis nach Mittelamerika. Auch auf der
ſüdlichen Halbkugel findet ein regelmäßiger Zug ſtatt. Die Vögel Südamerikas fliegen in nörd-
licher Richtung bis nach Süd- und Mittelbraſilien, die Südauſtraliens wandern nach dem Norden
dieſes Erdtheils, theilweiſe wohl auch bis nach Neuguinea und auf die benachbarten Eilande.

Vor dem Weggange pflegen die Abreiſenden Verſammlungen zu bilden, welche einige Tage an
einer und derſelben Stelle verweilen, die einzeln Vorüberziehenden zu ſich herbeilocken und endlich,
wenn der Schwarm zu einer gewiſſen Stärke angewachſen iſt, mit dieſem plötzlich aufbrechen und
davon fliegen. Einzelne halten vorher Muſterung über die Mitglieder der Reiſegeſellſchaft, verſtoßen
manche, ſollen ſie zuweilen ſogar umbringen. Die Zuggeſellſchaften bleiben während der Reiſe,
meiſt auch in der Winterherberge, mehr oder weniger vereinigt. Unterwegs beobachten ſie entweder
eine beſtimmte Ordnung, gewöhnlich die eines Keiles oder richtiger die zweier gerader Linien, welche
in ſchiefer Richtung gegen einander laufen und vorn an der Spitze ſich vereinigen, einem V vergleich-
bar; andere fliegen in Reihen, andere in einem gewiſſen Abſtande durch einander, in wirren, nach
außen hin jedoch einigermaßen gerundeten Haufen. Die meiſten ſtreichen in bedeutender Höhe fort,
manche ſtürzen ſich aber aus dieſer Höhe plötzlich tief nach unten herab, ſtreichen eine Zeitlang über
dem Boden weg und erheben ſich allgemach wieder in ihre frühere Höhe. Schwächere Vögel benutzen
unterwegs Wälder und Gebüſche zu ihrer Deckung, fliegen wenigſtens übertages ſoviel als möglich von
Baum zu Baum, von Wald zu Walde. Laufvögel, denen das Fliegen ſchwer wird, legen einen guten
Theil des Weges zu Fuße, manche Waſſervögel geringere Strecken ſchwimmend zurück. Gegenwind
fördert und beſchleunigt, Rückwind ſtört und verlangſamt den Zug, hält ihn wohl auch tagelang auf.
Die Erregung und Unruhe, welche die Gemüther erfüllt, endet erſt am Ziele der Reiſe; jedoch tritt
auch dort das gewohnte Leben erſt gegen den Rückzug hin wieder ein.

Die Wanderung kann unter Umſtänden dem Zuge inſofern ähnlich werden, als ſie zu einer
beſtimmten Zeit mit größerer oder geringerer Regelmäßigkeit ſtattfindet. Wandervögel ſind viele der

Brehm, Thierleben. IV. 63
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[993/1047] Brutgeſchäft. Unterricht der Jungen. Zug, Wanderſchaft und Fremdenleben. Der Zug iſt es, welcher uns im Herbſte unſere Sänger nimmt und ſie im Frühjahre wieder- bringt, welcher unſere Waſſervögel vertreibt, noch bevor das Eis ihr Gebiet ihnen unzugänglich macht, welche viele Räuber zwingt, ihrer abgereiſten Beute nachzufliegen. Von den europäiſchen Vögeln zieht mehr als die Hälfte, von den nordaſiatiſchen und nordamerikaniſchen verhältnißmäßig ebenſo viele. Alle wandern in mehr oder weniger ſüdlicher Richtung, die auf der Oſthälfte der Erde leben- den nach Südweſten, die auf der Weſthälfte der Erde wohnenden nach Oſten, entſprechend der Welt- lage ihres Erdtheils und der Beſchaffenheit des Gürtels, in welchem die Winterherberge liegt. Jn der Zugrichtung fließende Ströme oder verlaufende Thäler werden zu Heerſtraßen, hohe Gebirgsthäler zu Päſſen für die Wanderer; in ihnen ſammeln ſich nach und nach die Reiſenden an. Einige ziehen paarweiſe, andere in Geſellſchaft, die ſchwachen hauptſächlich des Nachts, die ſtarken auch bei Tage, alle ſo eilig als möglich. Sie reiſen ab, lange bevor der Mangel in ihrer Heimat eintritt; ſie reiſen ſo eilig, als ob ein unüberwindlicher Drang ſie treibe; ſie werden um die Zeit der Reiſe unruhig, auch wenn ſie im Käfig ſich befinden, werden es, wenn ſie als Junge dem Neſte entnommen und in der Gefangenſchaft aufgefüttert wurden. Die einen verlaſſen uns ſchon früh im Jahre, die anderen viel ſpäter, jeder einzelne aber zu einer beſtimmten, nur wenig wechſelnden Zeit. Diejenigen, welche am ſpäteſten wegzogen, kehren am erſten zurück, die, welche am früheſten uns verließen, kommen am ſpäteſten wieder: der Mauerſegler reiſt ſchon in den erſten Tagen des Auguſt ab und ſtellt ſich erſt im Mai wieder ein; die letzten Nachzügler wandern erſt im November aus und ſind bereits im Februar wieder angelangt. Jhre Winterherbergen ſind ungemein ausgedehnt; von vielen kennt man die Stätte nicht, in welcher ſie endlich Ruhe finden. Mehrere überwintern ſchon in Südeuropa, viele in Nordafrika zwiſchen dem 37. und 24. Grade der nördlichen Breite; nicht wenige gehen bis tief in das Jnnere des heißen Gürtels und finden ſich während der Wintermonate von der Küſte des rothen oder indiſchen Meeres an bis zu der des atlantiſchen. Eine ähnliche Herberge bilden Jndien, ein- ſchließlich der benachbarten großen Jnſeln, Birma, Siam und Südchina. Die nordamerikaniſchen Vögel reiſen bis in den Süden der Vereinigten Staaten und bis nach Mittelamerika. Auch auf der ſüdlichen Halbkugel findet ein regelmäßiger Zug ſtatt. Die Vögel Südamerikas fliegen in nörd- licher Richtung bis nach Süd- und Mittelbraſilien, die Südauſtraliens wandern nach dem Norden dieſes Erdtheils, theilweiſe wohl auch bis nach Neuguinea und auf die benachbarten Eilande. Vor dem Weggange pflegen die Abreiſenden Verſammlungen zu bilden, welche einige Tage an einer und derſelben Stelle verweilen, die einzeln Vorüberziehenden zu ſich herbeilocken und endlich, wenn der Schwarm zu einer gewiſſen Stärke angewachſen iſt, mit dieſem plötzlich aufbrechen und davon fliegen. Einzelne halten vorher Muſterung über die Mitglieder der Reiſegeſellſchaft, verſtoßen manche, ſollen ſie zuweilen ſogar umbringen. Die Zuggeſellſchaften bleiben während der Reiſe, meiſt auch in der Winterherberge, mehr oder weniger vereinigt. Unterwegs beobachten ſie entweder eine beſtimmte Ordnung, gewöhnlich die eines Keiles oder richtiger die zweier gerader Linien, welche in ſchiefer Richtung gegen einander laufen und vorn an der Spitze ſich vereinigen, einem V vergleich- bar; andere fliegen in Reihen, andere in einem gewiſſen Abſtande durch einander, in wirren, nach außen hin jedoch einigermaßen gerundeten Haufen. Die meiſten ſtreichen in bedeutender Höhe fort, manche ſtürzen ſich aber aus dieſer Höhe plötzlich tief nach unten herab, ſtreichen eine Zeitlang über dem Boden weg und erheben ſich allgemach wieder in ihre frühere Höhe. Schwächere Vögel benutzen unterwegs Wälder und Gebüſche zu ihrer Deckung, fliegen wenigſtens übertages ſoviel als möglich von Baum zu Baum, von Wald zu Walde. Laufvögel, denen das Fliegen ſchwer wird, legen einen guten Theil des Weges zu Fuße, manche Waſſervögel geringere Strecken ſchwimmend zurück. Gegenwind fördert und beſchleunigt, Rückwind ſtört und verlangſamt den Zug, hält ihn wohl auch tagelang auf. Die Erregung und Unruhe, welche die Gemüther erfüllt, endet erſt am Ziele der Reiſe; jedoch tritt auch dort das gewohnte Leben erſt gegen den Rückzug hin wieder ein. Die Wanderung kann unter Umſtänden dem Zuge inſofern ähnlich werden, als ſie zu einer beſtimmten Zeit mit größerer oder geringerer Regelmäßigkeit ſtattfindet. Wandervögel ſind viele der Brehm, Thierleben. IV. 63

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 993. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/1047>, abgerufen am 23.11.2024.