Jch erfülle ein vor Jahren gegebenes Versprechen, wenn ich noch Etwas über das Leben eines anderen Gartensängers mittheile, welcher von mir zuerst im Süden Europas aufgefunden und, weil ich nicht wußte, daß er bereits in Nordwestafrika entdeckt worden war, meinem Freunde Arigo zu Ehren benannt wurde. Der Grauspötter (Hypolais einerascens oder, wie ich ihn genannt habe, Hypolais Arigonis) ist, wie alle Gattungsverwandten, sehr einfach gefärbt. Das Gefieder der Ober- seite ist graugrünlich, das der Unterseite weißlichgrau. Das Auge ist dunkelbraun, der Oberschnabel horngrau, der Unterschnabel gelblichgrau, der Fuß graulichhornfarben. Die Länge beträgt 5 Zoll 7 bis 9 Linien, die Breite 7 Zoll 9 bis 11 Linien, die Fittiglänge 2 Zoll 6 bis 7 Linien, die Schwanzlänge 2 Zoll 2 bis 3 Linien. Das Weibchen ist um 1 bis 11/2 Linien kürzer und um 2 bis 4 Linien schmäler.
Es war in einem der blumenreichen Gärten Valencias, wo ich diesen Spötter zum erstenmale singen hörte. Der Gesang fiel mir auf, weil er mir vollständig fremd war. Jch erkannte aus ihm wohl die Sippe, welcher der Vogel angehören mußte, nicht aber auch eine schon früher beobachtete Art. Einmal aufmerksam gemacht, wurde es mir und meinen Begleitern nicht schwer, den fraglichen Sänger auch außerhalb der Ringmauern der Stadt Valencia aufzufinden, und so erfuhren wir denn, daß der Grauspötter sich über den ganzen Südosten Spaniens verbreitet und da, wo er einmal vor- kommt, viel häufiger ist, als jeder andere Verwandte von ihm an seinen bezüglichen Aufenthaltsorten.
Wie es scheint, meidet er das Gebirge oder überhaupt bergigte Gegenden und wählt sich aus- schließlich die baumreichen Stellen der Ebenen zu Wohnsitzen. Besondere Lieblingsorte von ihm sind die Huertas oder Fruchtebenen, jene paradiesischen Gefilde Spaniens, welche noch heutzutage durch die von den Mauren angelegten Wasserwerke regelmäßig bewässert werden und in einer Fruchtbarkeit schwelgen, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Hier in den Frucht- oder Blumengärten, welche innerhalb dieses einen großen Gartens sich finden, neben und über den Spaziergängen der Städte und Dörfer und selbst noch in den an die Fruchtebene stoßenden Wein- bergen und Oelpflanzungen ist unser Vogel ungemein häufig -- so häufig, daß wir von ungefähr zwanzig neben einander stehenden Silberpappeln zwölf singende Männchen herabschießen konnten.
So sehr der Grauspötter unserem Gartensänger hinsichtlich seines Aufenthaltes und seines Betragens ähnelt, so sehr unterscheidet er sich von ihm durch seine Verträglichkeit, andern derselben Art gegenüber, und durch seinen Gesang. Jch habe nie gesehen, daß sich zwei Männchen eifersüchtig verfolgt hätten, vielmehr wiederholt beobachtet, daß zwei Paare auf ein und demselben Baume lebten; ich habe sogar zwei Nester mit Eiern auf einem Baume gefunden. An ein feindseliges Verhältniß zwischen den betreffenden Paaren ist also gar nicht zu denken, und diese Verträglichkeit fällt Dem, welcher das zänkische Wesen anderer Gartensänger kennt, augenblicklich auf. Aber auch der Gesang unterscheidet den Grauspötter leicht und sicher von seinen Verwandten. Der Lockton, welchen man von beiden Geschlechtern vernimmt, ist das so vielen Singvögeln gemeinsame "Tack tack", der Gesang ein zwar nicht unangenehmes, aber doch höchst einfaches Lied, welches in mancher Hinsicht an den Gesang gewisser Schilffänger erinnert, und von der Nachahmungsgabe oder Spott- lust unserer Gartensänger Nichts bekundet. Jn seinen Bewegungen, wie überhaupt in allen wesent- lichen Eigenschaften ähnelt der Grauspötter unserm Gartensänger; doch darf er vielleicht als ein minder lebhafter Vogel bezeichnet werden. An das Treiben des Menschen hat er sich so gewöhnt, daß er durchaus keine Scheu zeigt, sich vielmehr in nächster Nähe beobachten läßt und noch das kleinste Gärtchen inmitten der Häusermassen großer Städte wohnlich und behaglich findet. Sein Vertrautsein mit dem Menschen geht so weit, daß er sich auf den beliebtesten Spaziergängen ansiedelt, selbst wenn diese, wie die prachtvolle Glorietta Valencias, bis nach Mitternacht von Laternen glänzend erleuchtet sind.
Die Brutzeit des Grauspötters beginnt erst zu Anfang Junis und währt bis Ende Julis. Zum Nisten wählt sich das Paar stets einen hohen, dichtwipfligen Baum und hier eine blätterreiche Stelle des Gezweiges aus. Hier, immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, steht oder hängt das Nest
Brehm, Thierleben. III. 55
Gartenſänger. Grauſpötter.
Jch erfülle ein vor Jahren gegebenes Verſprechen, wenn ich noch Etwas über das Leben eines anderen Gartenſängers mittheile, welcher von mir zuerſt im Süden Europas aufgefunden und, weil ich nicht wußte, daß er bereits in Nordweſtafrika entdeckt worden war, meinem Freunde Arigo zu Ehren benannt wurde. Der Grauſpötter (Hypolais einerascens oder, wie ich ihn genannt habe, Hypolais Arigonis) iſt, wie alle Gattungsverwandten, ſehr einfach gefärbt. Das Gefieder der Ober- ſeite iſt graugrünlich, das der Unterſeite weißlichgrau. Das Auge iſt dunkelbraun, der Oberſchnabel horngrau, der Unterſchnabel gelblichgrau, der Fuß graulichhornfarben. Die Länge beträgt 5 Zoll 7 bis 9 Linien, die Breite 7 Zoll 9 bis 11 Linien, die Fittiglänge 2 Zoll 6 bis 7 Linien, die Schwanzlänge 2 Zoll 2 bis 3 Linien. Das Weibchen iſt um 1 bis 1½ Linien kürzer und um 2 bis 4 Linien ſchmäler.
Es war in einem der blumenreichen Gärten Valencias, wo ich dieſen Spötter zum erſtenmale ſingen hörte. Der Geſang fiel mir auf, weil er mir vollſtändig fremd war. Jch erkannte aus ihm wohl die Sippe, welcher der Vogel angehören mußte, nicht aber auch eine ſchon früher beobachtete Art. Einmal aufmerkſam gemacht, wurde es mir und meinen Begleitern nicht ſchwer, den fraglichen Sänger auch außerhalb der Ringmauern der Stadt Valencia aufzufinden, und ſo erfuhren wir denn, daß der Grauſpötter ſich über den ganzen Südoſten Spaniens verbreitet und da, wo er einmal vor- kommt, viel häufiger iſt, als jeder andere Verwandte von ihm an ſeinen bezüglichen Aufenthaltsorten.
Wie es ſcheint, meidet er das Gebirge oder überhaupt bergigte Gegenden und wählt ſich aus- ſchließlich die baumreichen Stellen der Ebenen zu Wohnſitzen. Beſondere Lieblingsorte von ihm ſind die Huertas oder Fruchtebenen, jene paradieſiſchen Gefilde Spaniens, welche noch heutzutage durch die von den Mauren angelegten Waſſerwerke regelmäßig bewäſſert werden und in einer Fruchtbarkeit ſchwelgen, von der wir uns kaum eine Vorſtellung machen können. Hier in den Frucht- oder Blumengärten, welche innerhalb dieſes einen großen Gartens ſich finden, neben und über den Spaziergängen der Städte und Dörfer und ſelbſt noch in den an die Fruchtebene ſtoßenden Wein- bergen und Oelpflanzungen iſt unſer Vogel ungemein häufig — ſo häufig, daß wir von ungefähr zwanzig neben einander ſtehenden Silberpappeln zwölf ſingende Männchen herabſchießen konnten.
So ſehr der Grauſpötter unſerem Gartenſänger hinſichtlich ſeines Aufenthaltes und ſeines Betragens ähnelt, ſo ſehr unterſcheidet er ſich von ihm durch ſeine Verträglichkeit, andern derſelben Art gegenüber, und durch ſeinen Geſang. Jch habe nie geſehen, daß ſich zwei Männchen eiferſüchtig verfolgt hätten, vielmehr wiederholt beobachtet, daß zwei Paare auf ein und demſelben Baume lebten; ich habe ſogar zwei Neſter mit Eiern auf einem Baume gefunden. An ein feindſeliges Verhältniß zwiſchen den betreffenden Paaren iſt alſo gar nicht zu denken, und dieſe Verträglichkeit fällt Dem, welcher das zänkiſche Weſen anderer Gartenſänger kennt, augenblicklich auf. Aber auch der Geſang unterſcheidet den Grauſpötter leicht und ſicher von ſeinen Verwandten. Der Lockton, welchen man von beiden Geſchlechtern vernimmt, iſt das ſo vielen Singvögeln gemeinſame „Tack tack‟, der Geſang ein zwar nicht unangenehmes, aber doch höchſt einfaches Lied, welches in mancher Hinſicht an den Geſang gewiſſer Schilffänger erinnert, und von der Nachahmungsgabe oder Spott- luſt unſerer Gartenſänger Nichts bekundet. Jn ſeinen Bewegungen, wie überhaupt in allen weſent- lichen Eigenſchaften ähnelt der Grauſpötter unſerm Gartenſänger; doch darf er vielleicht als ein minder lebhafter Vogel bezeichnet werden. An das Treiben des Menſchen hat er ſich ſo gewöhnt, daß er durchaus keine Scheu zeigt, ſich vielmehr in nächſter Nähe beobachten läßt und noch das kleinſte Gärtchen inmitten der Häuſermaſſen großer Städte wohnlich und behaglich findet. Sein Vertrautſein mit dem Menſchen geht ſo weit, daß er ſich auf den beliebteſten Spaziergängen anſiedelt, ſelbſt wenn dieſe, wie die prachtvolle Glorietta Valencias, bis nach Mitternacht von Laternen glänzend erleuchtet ſind.
Die Brutzeit des Grauſpötters beginnt erſt zu Anfang Junis und währt bis Ende Julis. Zum Niſten wählt ſich das Paar ſtets einen hohen, dichtwipfligen Baum und hier eine blätterreiche Stelle des Gezweiges aus. Hier, immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, ſteht oder hängt das Neſt
Brehm, Thierleben. III. 55
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0913"n="865"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Gartenſänger. Grauſpötter.</hi></fw><lb/><p>Jch erfülle ein vor Jahren gegebenes Verſprechen, wenn ich noch Etwas über das Leben eines<lb/>
anderen Gartenſängers mittheile, welcher von mir zuerſt im Süden Europas aufgefunden und, weil<lb/>
ich nicht wußte, daß er bereits in Nordweſtafrika entdeckt worden war, meinem Freunde <hirendition="#g">Arigo</hi> zu<lb/>
Ehren benannt wurde. Der <hirendition="#g">Grauſpötter</hi> (<hirendition="#aq">Hypolais einerascens</hi> oder, wie ich ihn genannt habe,<lb/><hirendition="#aq">Hypolais Arigonis</hi>) iſt, wie alle Gattungsverwandten, ſehr einfach gefärbt. Das Gefieder der Ober-<lb/>ſeite iſt graugrünlich, das der Unterſeite weißlichgrau. Das Auge iſt dunkelbraun, der Oberſchnabel<lb/>
horngrau, der Unterſchnabel gelblichgrau, der Fuß graulichhornfarben. Die Länge beträgt 5 Zoll<lb/>
7 bis 9 Linien, die Breite 7 Zoll 9 bis 11 Linien, die Fittiglänge 2 Zoll 6 bis 7 Linien, die<lb/>
Schwanzlänge 2 Zoll 2 bis 3 Linien. Das Weibchen iſt um 1 bis 1½ Linien kürzer und um 2 bis 4<lb/>
Linien ſchmäler.</p><lb/><p>Es war in einem der blumenreichen Gärten Valencias, wo ich dieſen Spötter zum erſtenmale<lb/>ſingen hörte. Der Geſang fiel mir auf, weil er mir vollſtändig fremd war. Jch erkannte aus ihm<lb/>
wohl die Sippe, welcher der Vogel angehören mußte, nicht aber auch eine ſchon früher beobachtete<lb/>
Art. Einmal aufmerkſam gemacht, wurde es mir und meinen Begleitern nicht ſchwer, den fraglichen<lb/>
Sänger auch außerhalb der Ringmauern der Stadt Valencia aufzufinden, und ſo erfuhren wir denn,<lb/>
daß der Grauſpötter ſich über den ganzen Südoſten Spaniens verbreitet und da, wo er einmal vor-<lb/>
kommt, viel häufiger iſt, als jeder andere Verwandte von ihm an ſeinen bezüglichen Aufenthaltsorten.</p><lb/><p>Wie es ſcheint, meidet er das Gebirge oder überhaupt bergigte Gegenden und wählt ſich aus-<lb/>ſchließlich die baumreichen Stellen der Ebenen zu Wohnſitzen. Beſondere Lieblingsorte von ihm ſind<lb/>
die Huertas oder Fruchtebenen, jene paradieſiſchen Gefilde Spaniens, welche noch heutzutage durch die<lb/>
von den Mauren angelegten Waſſerwerke regelmäßig bewäſſert werden und in einer Fruchtbarkeit<lb/>ſchwelgen, von der wir uns kaum eine Vorſtellung machen können. Hier in den Frucht- oder<lb/>
Blumengärten, welche innerhalb dieſes einen großen Gartens ſich finden, neben und über den<lb/>
Spaziergängen der Städte und Dörfer und ſelbſt noch in den an die Fruchtebene ſtoßenden Wein-<lb/>
bergen und Oelpflanzungen iſt unſer Vogel ungemein häufig —ſo häufig, daß wir von ungefähr<lb/>
zwanzig neben einander ſtehenden Silberpappeln zwölf ſingende Männchen herabſchießen konnten.</p><lb/><p>So ſehr der Grauſpötter unſerem Gartenſänger hinſichtlich ſeines Aufenthaltes und ſeines<lb/>
Betragens ähnelt, ſo ſehr unterſcheidet er ſich von ihm durch ſeine Verträglichkeit, andern derſelben<lb/>
Art gegenüber, und durch ſeinen Geſang. Jch habe nie geſehen, daß ſich zwei Männchen eiferſüchtig<lb/>
verfolgt hätten, vielmehr wiederholt beobachtet, daß zwei Paare auf ein und demſelben Baume<lb/>
lebten; ich habe ſogar zwei Neſter mit Eiern auf einem Baume gefunden. An ein feindſeliges<lb/>
Verhältniß zwiſchen den betreffenden Paaren iſt alſo gar nicht zu denken, und dieſe Verträglichkeit<lb/>
fällt Dem, welcher das zänkiſche Weſen anderer Gartenſänger kennt, augenblicklich auf. Aber auch<lb/>
der Geſang unterſcheidet den Grauſpötter leicht und ſicher von ſeinen Verwandten. Der Lockton,<lb/>
welchen man von beiden Geſchlechtern vernimmt, iſt das ſo vielen Singvögeln gemeinſame „Tack tack‟,<lb/>
der Geſang ein zwar nicht unangenehmes, aber doch höchſt einfaches Lied, welches in mancher<lb/>
Hinſicht an den Geſang gewiſſer Schilffänger erinnert, und von der Nachahmungsgabe oder Spott-<lb/>
luſt unſerer Gartenſänger Nichts bekundet. Jn ſeinen Bewegungen, wie überhaupt in allen weſent-<lb/>
lichen Eigenſchaften ähnelt der Grauſpötter unſerm Gartenſänger; doch darf er vielleicht als ein<lb/>
minder lebhafter Vogel bezeichnet werden. An das Treiben des Menſchen hat er ſich ſo gewöhnt,<lb/>
daß er durchaus keine Scheu zeigt, ſich vielmehr in nächſter Nähe beobachten läßt und noch das kleinſte<lb/>
Gärtchen inmitten der Häuſermaſſen großer Städte wohnlich und behaglich findet. Sein Vertrautſein<lb/>
mit dem Menſchen geht ſo weit, daß er ſich auf den beliebteſten Spaziergängen anſiedelt, ſelbſt wenn<lb/>
dieſe, wie die prachtvolle Glorietta Valencias, bis nach Mitternacht von Laternen glänzend<lb/>
erleuchtet ſind.</p><lb/><p>Die Brutzeit des Grauſpötters beginnt erſt zu Anfang Junis und währt bis Ende Julis. Zum<lb/>
Niſten wählt ſich das Paar ſtets einen hohen, dichtwipfligen Baum und hier eine blätterreiche Stelle<lb/>
des Gezweiges aus. Hier, immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, ſteht oder hängt das Neſt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Brehm, Thierleben. <hirendition="#aq">III.</hi> 55</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[865/0913]
Gartenſänger. Grauſpötter.
Jch erfülle ein vor Jahren gegebenes Verſprechen, wenn ich noch Etwas über das Leben eines
anderen Gartenſängers mittheile, welcher von mir zuerſt im Süden Europas aufgefunden und, weil
ich nicht wußte, daß er bereits in Nordweſtafrika entdeckt worden war, meinem Freunde Arigo zu
Ehren benannt wurde. Der Grauſpötter (Hypolais einerascens oder, wie ich ihn genannt habe,
Hypolais Arigonis) iſt, wie alle Gattungsverwandten, ſehr einfach gefärbt. Das Gefieder der Ober-
ſeite iſt graugrünlich, das der Unterſeite weißlichgrau. Das Auge iſt dunkelbraun, der Oberſchnabel
horngrau, der Unterſchnabel gelblichgrau, der Fuß graulichhornfarben. Die Länge beträgt 5 Zoll
7 bis 9 Linien, die Breite 7 Zoll 9 bis 11 Linien, die Fittiglänge 2 Zoll 6 bis 7 Linien, die
Schwanzlänge 2 Zoll 2 bis 3 Linien. Das Weibchen iſt um 1 bis 1½ Linien kürzer und um 2 bis 4
Linien ſchmäler.
Es war in einem der blumenreichen Gärten Valencias, wo ich dieſen Spötter zum erſtenmale
ſingen hörte. Der Geſang fiel mir auf, weil er mir vollſtändig fremd war. Jch erkannte aus ihm
wohl die Sippe, welcher der Vogel angehören mußte, nicht aber auch eine ſchon früher beobachtete
Art. Einmal aufmerkſam gemacht, wurde es mir und meinen Begleitern nicht ſchwer, den fraglichen
Sänger auch außerhalb der Ringmauern der Stadt Valencia aufzufinden, und ſo erfuhren wir denn,
daß der Grauſpötter ſich über den ganzen Südoſten Spaniens verbreitet und da, wo er einmal vor-
kommt, viel häufiger iſt, als jeder andere Verwandte von ihm an ſeinen bezüglichen Aufenthaltsorten.
Wie es ſcheint, meidet er das Gebirge oder überhaupt bergigte Gegenden und wählt ſich aus-
ſchließlich die baumreichen Stellen der Ebenen zu Wohnſitzen. Beſondere Lieblingsorte von ihm ſind
die Huertas oder Fruchtebenen, jene paradieſiſchen Gefilde Spaniens, welche noch heutzutage durch die
von den Mauren angelegten Waſſerwerke regelmäßig bewäſſert werden und in einer Fruchtbarkeit
ſchwelgen, von der wir uns kaum eine Vorſtellung machen können. Hier in den Frucht- oder
Blumengärten, welche innerhalb dieſes einen großen Gartens ſich finden, neben und über den
Spaziergängen der Städte und Dörfer und ſelbſt noch in den an die Fruchtebene ſtoßenden Wein-
bergen und Oelpflanzungen iſt unſer Vogel ungemein häufig — ſo häufig, daß wir von ungefähr
zwanzig neben einander ſtehenden Silberpappeln zwölf ſingende Männchen herabſchießen konnten.
So ſehr der Grauſpötter unſerem Gartenſänger hinſichtlich ſeines Aufenthaltes und ſeines
Betragens ähnelt, ſo ſehr unterſcheidet er ſich von ihm durch ſeine Verträglichkeit, andern derſelben
Art gegenüber, und durch ſeinen Geſang. Jch habe nie geſehen, daß ſich zwei Männchen eiferſüchtig
verfolgt hätten, vielmehr wiederholt beobachtet, daß zwei Paare auf ein und demſelben Baume
lebten; ich habe ſogar zwei Neſter mit Eiern auf einem Baume gefunden. An ein feindſeliges
Verhältniß zwiſchen den betreffenden Paaren iſt alſo gar nicht zu denken, und dieſe Verträglichkeit
fällt Dem, welcher das zänkiſche Weſen anderer Gartenſänger kennt, augenblicklich auf. Aber auch
der Geſang unterſcheidet den Grauſpötter leicht und ſicher von ſeinen Verwandten. Der Lockton,
welchen man von beiden Geſchlechtern vernimmt, iſt das ſo vielen Singvögeln gemeinſame „Tack tack‟,
der Geſang ein zwar nicht unangenehmes, aber doch höchſt einfaches Lied, welches in mancher
Hinſicht an den Geſang gewiſſer Schilffänger erinnert, und von der Nachahmungsgabe oder Spott-
luſt unſerer Gartenſänger Nichts bekundet. Jn ſeinen Bewegungen, wie überhaupt in allen weſent-
lichen Eigenſchaften ähnelt der Grauſpötter unſerm Gartenſänger; doch darf er vielleicht als ein
minder lebhafter Vogel bezeichnet werden. An das Treiben des Menſchen hat er ſich ſo gewöhnt,
daß er durchaus keine Scheu zeigt, ſich vielmehr in nächſter Nähe beobachten läßt und noch das kleinſte
Gärtchen inmitten der Häuſermaſſen großer Städte wohnlich und behaglich findet. Sein Vertrautſein
mit dem Menſchen geht ſo weit, daß er ſich auf den beliebteſten Spaziergängen anſiedelt, ſelbſt wenn
dieſe, wie die prachtvolle Glorietta Valencias, bis nach Mitternacht von Laternen glänzend
erleuchtet ſind.
Die Brutzeit des Grauſpötters beginnt erſt zu Anfang Junis und währt bis Ende Julis. Zum
Niſten wählt ſich das Paar ſtets einen hohen, dichtwipfligen Baum und hier eine blätterreiche Stelle
des Gezweiges aus. Hier, immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, ſteht oder hängt das Neſt
Brehm, Thierleben. III. 55
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 865. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/913>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.