zum Theile ganz ähnliche klimatische Veränderung ein, wie bei den großen Würgern. An Herbstvögeln und noch nicht ganz alten ist nämlich der besiederte Augenlidrand hellrostweinfarbig; der Unterleib ebenso, jedoch sanft mit Weißlich überdeckt, an der Kehle jederzeit am dunkelsten. ... Bei recht alten ist zwar im Sommer zuweilen die Bauchmitte weiß; Augenlidfederchen, Kehle und Brust aber sind wein- rostbräunlich, die Seiten des Bauches lichter. Ein Bartstreif an den Seiten der Kehle, den auch die unsrigen reihenweis haben, bleibt stets weiß: Weißbärtige Grasmücke (Sylvia leucopogon). ... Jndeß scheinen es gleichwohl nicht gewöhnliche Fälle zu sein, wenn diese Veränderung so vollständig wird. Vielleicht wird sie es selbst bei alten Vögeln nur im Sommer durch eine gemeinsame Ein- wirkung von Luft, Licht und Abreibung, in der Art, wie ungefähr bei dem gemeinen Hänflinge. Jedenfalls spricht die allmähliche Abstufung ganz und gar wider das Aufstellen der so veränderten Geschöpfe als besondere Arten."
Wenn man sich Mühe gibt, dieses Kauderwälsch zu enträthseln, erfährt man also, daß das Weiß- bärtchen eine klimatische Abänderung unseres Müllerchens ist. Nun hat uns Gloger aber bereits belehrt, daß derselbe Vogel auch wiederum nichts Anderes ist, als eine Abart des Brillensängers, bezüglich der Dorngrasmücke, und somit entdecken wir zu unserer Ueberraschung, daß alle vier Vögel, welche wir für besondere Arten halten, solche es nicht sind, vielmehr einfach Abänderungen ein und derselben Art, da wir ja doch unmöglich annehmen können, daß das südliche Klima aus zwei Vögeln, welche übrigens auch Gloger als verschieden anerkennt, ein und dasselbe Geschöpf, eben unser Weißbärtchen, bilden können. Jch habe mit aller Absicht die Gloger'sche Weisheit auf- gewärmt, damit Jeder, welcher folgerichtig zu denken im Stande ist, sie in ihrer ganzen Haltlosigkeit und Nichtigkeit zu erkennen vermöge. Und nunmehr ein für allemal genug des Unsinns, genug des jeder Begründung entbehrenden Geschwätzes: das Weißbärtchen ist ein viel zu niedliches Geschöpf, als daß wir uns die Betrachtung seines Lebens durch so verschrobene Ansichten verbittern lassen sollten!
Das in Rede stehende Vögelchen gehört zu den zierlichsten und farbenschönsten Arten seiner Familie; namentlich das alte Männchen ist ein prächtiges Geschöpf. Die Oberseite ist schön aschgrau, die Unterseite graulichweiß, die Kehle aber lebhast rostbraunroth, durch ein schmales, weißes Band, welches von der Schnabelwurzel an gegen die Schultern verläuft, von der dunkleren Färbung der Oberseite getrennt; ein Kreis von röthlichen Federn umgibt das Auge; die Ohrfedern sind bräunlich, die Schwingen und Schwanzfedern dunkelbraun, die äußersten Steuerfedern auf der Außenfahne zu dreiviertel ihrer Länge weiß, auf der Jnnenfahne durch einen lichten Keilflecken gezeichnet, die übrigen weiß gesäumt. Die Weibchen und Jungen sind einfacher gefärbt, unserm Müllerchen nicht unähnlich; sie kennzeichnen sich namentlich durch den Mangel des rothen Kehlfleckens. Das Auge ist röthlich- grau, das Augenlid blaßziegelroth, der Schnabel matthornschwarz, an der Spitze des Unterschnabels mattröthlichhornfarben, der Fuß röthlichgrau. Die Länge des Männchens beträgt 43/4, die Breite 63/4, die Fittiglänge 21/4, die Schwanzlänge 2 1/6 Zoll. Das Weibchen ist höchstens um zwei oder drei Linien schmäler, als das Männchen.
Alle Gebirgsgegenden des nördlichen Spaniens deckt ein wunderbarer Wald, welchen die Spanier bezeichnend den Nieder- oder Strauchwald nennen. Er ist so dicht, so merkwürdig, wie es der Wald nur irgendwo sein kann; denn er ist ein Zwergwald im eigentlichen Sinne des Worts. Prachtvolle Haidearten, Cisten-, Oleander-, immergrüne Eichen- und Ulmengebüsche setzen ihn zusammen und einigen sich zum fast undurchdringlichen Dickicht. Einzelne Bäumchen erheben sich über dieses Wirr- sal von Pflanzen und erscheinen nur deshalb höher, als sie es sind, weil der Zwergwald unter ihnen den Maßstab gibt für ihre Höhe. Dieser Wald nun, welcher auch im übrigen Südeuropa und in Nordwestafrika vorherrschend geworden ist, darf als die eigentliche Heimat der zwerghaften Gras- mücken bezeichnet werden. Sie gehören zu ihm, als wären sie eigens für ihn geschaffen. Mäuseartig gewandt und schnell huschen sie hier durchs Gebüsch, welche ihre Welt ist, und nur selten erheben sich einzelne von ihnen in größere Höhe, eben zu den Wipfeln eines jener das Dickicht überragenden
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Brillengrasmücke. Weißbärtchen.
zum Theile ganz ähnliche klimatiſche Veränderung ein, wie bei den großen Würgern. An Herbſtvögeln und noch nicht ganz alten iſt nämlich der beſiederte Augenlidrand hellroſtweinfarbig; der Unterleib ebenſo, jedoch ſanft mit Weißlich überdeckt, an der Kehle jederzeit am dunkelſten. … Bei recht alten iſt zwar im Sommer zuweilen die Bauchmitte weiß; Augenlidfederchen, Kehle und Bruſt aber ſind wein- roſtbräunlich, die Seiten des Bauches lichter. Ein Bartſtreif an den Seiten der Kehle, den auch die unſrigen reihenweis haben, bleibt ſtets weiß: Weißbärtige Grasmücke (Sylvia leucopogon). … Jndeß ſcheinen es gleichwohl nicht gewöhnliche Fälle zu ſein, wenn dieſe Veränderung ſo vollſtändig wird. Vielleicht wird ſie es ſelbſt bei alten Vögeln nur im Sommer durch eine gemeinſame Ein- wirkung von Luft, Licht und Abreibung, in der Art, wie ungefähr bei dem gemeinen Hänflinge. Jedenfalls ſpricht die allmähliche Abſtufung ganz und gar wider das Aufſtellen der ſo veränderten Geſchöpfe als beſondere Arten.‟
Wenn man ſich Mühe gibt, dieſes Kauderwälſch zu enträthſeln, erfährt man alſo, daß das Weiß- bärtchen eine klimatiſche Abänderung unſeres Müllerchens iſt. Nun hat uns Gloger aber bereits belehrt, daß derſelbe Vogel auch wiederum nichts Anderes iſt, als eine Abart des Brillenſängers, bezüglich der Dorngrasmücke, und ſomit entdecken wir zu unſerer Ueberraſchung, daß alle vier Vögel, welche wir für beſondere Arten halten, ſolche es nicht ſind, vielmehr einfach Abänderungen ein und derſelben Art, da wir ja doch unmöglich annehmen können, daß das ſüdliche Klima aus zwei Vögeln, welche übrigens auch Gloger als verſchieden anerkennt, ein und daſſelbe Geſchöpf, eben unſer Weißbärtchen, bilden können. Jch habe mit aller Abſicht die Gloger’ſche Weisheit auf- gewärmt, damit Jeder, welcher folgerichtig zu denken im Stande iſt, ſie in ihrer ganzen Haltloſigkeit und Nichtigkeit zu erkennen vermöge. Und nunmehr ein für allemal genug des Unſinns, genug des jeder Begründung entbehrenden Geſchwätzes: das Weißbärtchen iſt ein viel zu niedliches Geſchöpf, als daß wir uns die Betrachtung ſeines Lebens durch ſo verſchrobene Anſichten verbittern laſſen ſollten!
Das in Rede ſtehende Vögelchen gehört zu den zierlichſten und farbenſchönſten Arten ſeiner Familie; namentlich das alte Männchen iſt ein prächtiges Geſchöpf. Die Oberſeite iſt ſchön aſchgrau, die Unterſeite graulichweiß, die Kehle aber lebhaſt roſtbraunroth, durch ein ſchmales, weißes Band, welches von der Schnabelwurzel an gegen die Schultern verläuft, von der dunkleren Färbung der Oberſeite getrennt; ein Kreis von röthlichen Federn umgibt das Auge; die Ohrfedern ſind bräunlich, die Schwingen und Schwanzfedern dunkelbraun, die äußerſten Steuerfedern auf der Außenfahne zu dreiviertel ihrer Länge weiß, auf der Jnnenfahne durch einen lichten Keilflecken gezeichnet, die übrigen weiß geſäumt. Die Weibchen und Jungen ſind einfacher gefärbt, unſerm Müllerchen nicht unähnlich; ſie kennzeichnen ſich namentlich durch den Mangel des rothen Kehlfleckens. Das Auge iſt röthlich- grau, das Augenlid blaßziegelroth, der Schnabel matthornſchwarz, an der Spitze des Unterſchnabels mattröthlichhornfarben, der Fuß röthlichgrau. Die Länge des Männchens beträgt 4¾, die Breite 6¾, die Fittiglänge 2¼, die Schwanzlänge 2⅙ Zoll. Das Weibchen iſt höchſtens um zwei oder drei Linien ſchmäler, als das Männchen.
Alle Gebirgsgegenden des nördlichen Spaniens deckt ein wunderbarer Wald, welchen die Spanier bezeichnend den Nieder- oder Strauchwald nennen. Er iſt ſo dicht, ſo merkwürdig, wie es der Wald nur irgendwo ſein kann; denn er iſt ein Zwergwald im eigentlichen Sinne des Worts. Prachtvolle Haidearten, Ciſten-, Oleander-, immergrüne Eichen- und Ulmengebüſche ſetzen ihn zuſammen und einigen ſich zum faſt undurchdringlichen Dickicht. Einzelne Bäumchen erheben ſich über dieſes Wirr- ſal von Pflanzen und erſcheinen nur deshalb höher, als ſie es ſind, weil der Zwergwald unter ihnen den Maßſtab gibt für ihre Höhe. Dieſer Wald nun, welcher auch im übrigen Südeuropa und in Nordweſtafrika vorherrſchend geworden iſt, darf als die eigentliche Heimat der zwerghaften Gras- mücken bezeichnet werden. Sie gehören zu ihm, als wären ſie eigens für ihn geſchaffen. Mäuſeartig gewandt und ſchnell huſchen ſie hier durchs Gebüſch, welche ihre Welt iſt, und nur ſelten erheben ſich einzelne von ihnen in größere Höhe, eben zu den Wipfeln eines jener das Dickicht überragenden
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Brillengrasmücke. Weißbärtchen.
zum Theile ganz ähnliche klimatiſche Veränderung ein, wie bei den großen Würgern. An Herbſtvögeln
und noch nicht ganz alten iſt nämlich der beſiederte Augenlidrand hellroſtweinfarbig; der Unterleib
ebenſo, jedoch ſanft mit Weißlich überdeckt, an der Kehle jederzeit am dunkelſten. … Bei recht alten iſt
zwar im Sommer zuweilen die Bauchmitte weiß; Augenlidfederchen, Kehle und Bruſt aber ſind wein-
roſtbräunlich, die Seiten des Bauches lichter. Ein Bartſtreif an den Seiten der Kehle, den auch die
unſrigen reihenweis haben, bleibt ſtets weiß: Weißbärtige Grasmücke (Sylvia leucopogon). …
Jndeß ſcheinen es gleichwohl nicht gewöhnliche Fälle zu ſein, wenn dieſe Veränderung ſo vollſtändig
wird. Vielleicht wird ſie es ſelbſt bei alten Vögeln nur im Sommer durch eine gemeinſame Ein-
wirkung von Luft, Licht und Abreibung, in der Art, wie ungefähr bei dem gemeinen Hänflinge.
Jedenfalls ſpricht die allmähliche Abſtufung ganz und gar wider das Aufſtellen der ſo veränderten
Geſchöpfe als beſondere Arten.‟
Wenn man ſich Mühe gibt, dieſes Kauderwälſch zu enträthſeln, erfährt man alſo, daß das Weiß-
bärtchen eine klimatiſche Abänderung unſeres Müllerchens iſt. Nun hat uns Gloger aber bereits
belehrt, daß derſelbe Vogel auch wiederum nichts Anderes iſt, als eine Abart des Brillenſängers,
bezüglich der Dorngrasmücke, und ſomit entdecken wir zu unſerer Ueberraſchung, daß alle vier Vögel,
welche wir für beſondere Arten halten, ſolche es nicht ſind, vielmehr einfach Abänderungen ein und
derſelben Art, da wir ja doch unmöglich annehmen können, daß das ſüdliche Klima aus zwei
Vögeln, welche übrigens auch Gloger als verſchieden anerkennt, ein und daſſelbe Geſchöpf,
eben unſer Weißbärtchen, bilden können. Jch habe mit aller Abſicht die Gloger’ſche Weisheit auf-
gewärmt, damit Jeder, welcher folgerichtig zu denken im Stande iſt, ſie in ihrer ganzen Haltloſigkeit
und Nichtigkeit zu erkennen vermöge. Und nunmehr ein für allemal genug des Unſinns, genug des
jeder Begründung entbehrenden Geſchwätzes: das Weißbärtchen iſt ein viel zu niedliches Geſchöpf,
als daß wir uns die Betrachtung ſeines Lebens durch ſo verſchrobene Anſichten verbittern
laſſen ſollten!
Das in Rede ſtehende Vögelchen gehört zu den zierlichſten und farbenſchönſten Arten ſeiner
Familie; namentlich das alte Männchen iſt ein prächtiges Geſchöpf. Die Oberſeite iſt ſchön aſchgrau,
die Unterſeite graulichweiß, die Kehle aber lebhaſt roſtbraunroth, durch ein ſchmales, weißes Band,
welches von der Schnabelwurzel an gegen die Schultern verläuft, von der dunkleren Färbung der
Oberſeite getrennt; ein Kreis von röthlichen Federn umgibt das Auge; die Ohrfedern ſind bräunlich,
die Schwingen und Schwanzfedern dunkelbraun, die äußerſten Steuerfedern auf der Außenfahne zu
dreiviertel ihrer Länge weiß, auf der Jnnenfahne durch einen lichten Keilflecken gezeichnet, die übrigen
weiß geſäumt. Die Weibchen und Jungen ſind einfacher gefärbt, unſerm Müllerchen nicht unähnlich;
ſie kennzeichnen ſich namentlich durch den Mangel des rothen Kehlfleckens. Das Auge iſt röthlich-
grau, das Augenlid blaßziegelroth, der Schnabel matthornſchwarz, an der Spitze des Unterſchnabels
mattröthlichhornfarben, der Fuß röthlichgrau. Die Länge des Männchens beträgt 4¾, die Breite 6¾,
die Fittiglänge 2¼, die Schwanzlänge 2⅙ Zoll. Das Weibchen iſt höchſtens um zwei oder drei
Linien ſchmäler, als das Männchen.
Alle Gebirgsgegenden des nördlichen Spaniens deckt ein wunderbarer Wald, welchen die Spanier
bezeichnend den Nieder- oder Strauchwald nennen. Er iſt ſo dicht, ſo merkwürdig, wie es der Wald
nur irgendwo ſein kann; denn er iſt ein Zwergwald im eigentlichen Sinne des Worts. Prachtvolle
Haidearten, Ciſten-, Oleander-, immergrüne Eichen- und Ulmengebüſche ſetzen ihn zuſammen und
einigen ſich zum faſt undurchdringlichen Dickicht. Einzelne Bäumchen erheben ſich über dieſes Wirr-
ſal von Pflanzen und erſcheinen nur deshalb höher, als ſie es ſind, weil der Zwergwald unter ihnen
den Maßſtab gibt für ihre Höhe. Dieſer Wald nun, welcher auch im übrigen Südeuropa und in
Nordweſtafrika vorherrſchend geworden iſt, darf als die eigentliche Heimat der zwerghaften Gras-
mücken bezeichnet werden. Sie gehören zu ihm, als wären ſie eigens für ihn geſchaffen. Mäuſeartig
gewandt und ſchnell huſchen ſie hier durchs Gebüſch, welche ihre Welt iſt, und nur ſelten erheben ſich
einzelne von ihnen in größere Höhe, eben zu den Wipfeln eines jener das Dickicht überragenden
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 851. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/899>, abgerufen am 22.11.2024.
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