Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Fänger. Singvögel. Erdsäuger.
höchst mitleidig, ja barmherzig sein kann. Verwaiste Singvögel, welche noch nicht im Stande sind,
sich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barm-
herzige Helfer gefunden. Jn meinem Heimatsorte wurde eine wahrhaft erhebende Beobachtung gemacht.
Zwei Rothkehlchenmännchen, welche ein und denselben Käfig bewohnten, lebten beständig in Hader und
Streit. Sie mißgönnten sich jeden Bissen, ja, wie es schien, die Luft, welche sie athmeten; sie bissen sich
aufs Heftigste, jagten sich wenigstens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geschah es,
daß Eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet.
Das gesunde Männchen hatte all seinen Groll vergessen, nahm sich mitleidig des schmerzgepeinigten
Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn überhaupt aufs Sorgfältigste. Der zerbrochene
Fuß heilte, das krankgewesene Männchen war wieder kräftig wie vorher: aber der Streit zwischen ihm
und seinem Wohlthäter war für immer beendet! -- Ein anderes männliches Rothkehlchen, von
welchem Snell Kunde erhielt, wurde am Neste seiner Jungen gefangen und mit diesen in das Zim-
mer gebracht. Es widmete sich nach wie vor der Pflege derselben, fütterte und wärmte sie und zog
sie glücklich groß. "Etwa acht Tage später brachte der Vogelsteller ein anderes Nest mit jungen Roth-
kehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und siehe da: als
die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam der Vogel heran, betrachtete sie lange,
eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameisenpuppen, begann das Pflegevatergeschäft mit der größten
Emsigkeit und zog auch diese Jungen groß, als ob es seine eigenen gewesen wären." Naumann
erfuhr Aehnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel schrie
fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens.
Es begab sich zu dem Käfig des Schreihalfes und wurde von diesem um Futter gebeten. "Sogleich
flog es zum Tisch, holte Brodkrümchen, stopfte ihm damit das Maul und that dieses endlich so oft,
als sich der Verwaiste meldete." -- Auch im Freien schließt das Nothkehlchen zuweilen innige Freund-
schaft mit andern Vögeln. "Jn einem Gehölze unweit Köthen", erzählt Päßler, "ist der merk-
würdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Nest gelegt hat.
Letzterer hat das Nest gebaut, beide haben je sechs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit
auf den zwölf Eiern gebrütet." Das warme Gemüth des liebenswürdigen Vogels ist also hinlänglich
bewiesen.

Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigenschaften. Es ist einer unserer lieblichsten
Sänger. Sein Lied besteht aus mehreren mit einander abwechselnden flötenden und trillernden
Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, so daß der Gesang feierlich klingt. Dieses
Lied nun ist im Zimmer ebenso angenehm, wie im Walde, und deshalb wird unser Vogel sehr
häufig zahm gehalten. Er gewöhnt sich bald an die Gefangenschaft, verliert rasch alle Scheu, welche er
anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder seine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menschen gegen-
über. Nach einiger Zeit gewinnt er seinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem
Zwitschern, aufgeblasenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er
viele Jahre lang in der Gefangenschaft aus und scheint sich vollständig mit seinem Lose auszusöhnen.
Man kennt Beispiele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im
nächsten Frühjahre freigelassen worden waren, im Spätherbst sich wiederum im Hause ihres Gast-
freundes einfanden und diesen gleichsam baten, sie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus-
und Einfliegen gewöhnt, ja, ein Paar hat sich im Zimmer sogar fortgepflanzt. Ein so liebenswür-
diges Geschöpf muß sich die Zuneigung des Menschen erwerben.

Das Rothkehlchen erscheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend
erlaubt; es hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling kündet, oft noch viel von Kälte
und Mangel zu leiden. Es reist des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin
und senkt sich mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebüsche und Gärten hernieder, um hier sich zu
sättigen und auszuruhen. Sobald es sich fest angesiedelt hat, tönt der Wald wider von seinem schallen-
den Gelock, einem scharfen "Schnickerikik", welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt;

Die Fänger. Singvögel. Erdſäuger.
höchſt mitleidig, ja barmherzig ſein kann. Verwaiſte Singvögel, welche noch nicht im Stande ſind,
ſich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barm-
herzige Helfer gefunden. Jn meinem Heimatsorte wurde eine wahrhaft erhebende Beobachtung gemacht.
Zwei Rothkehlchenmännchen, welche ein und denſelben Käfig bewohnten, lebten beſtändig in Hader und
Streit. Sie mißgönnten ſich jeden Biſſen, ja, wie es ſchien, die Luft, welche ſie athmeten; ſie biſſen ſich
aufs Heftigſte, jagten ſich wenigſtens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geſchah es,
daß Eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet.
Das geſunde Männchen hatte all ſeinen Groll vergeſſen, nahm ſich mitleidig des ſchmerzgepeinigten
Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn überhaupt aufs Sorgfältigſte. Der zerbrochene
Fuß heilte, das krankgeweſene Männchen war wieder kräftig wie vorher: aber der Streit zwiſchen ihm
und ſeinem Wohlthäter war für immer beendet! — Ein anderes männliches Rothkehlchen, von
welchem Snell Kunde erhielt, wurde am Neſte ſeiner Jungen gefangen und mit dieſen in das Zim-
mer gebracht. Es widmete ſich nach wie vor der Pflege derſelben, fütterte und wärmte ſie und zog
ſie glücklich groß. „Etwa acht Tage ſpäter brachte der Vogelſteller ein anderes Neſt mit jungen Roth-
kehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und ſiehe da: als
die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam der Vogel heran, betrachtete ſie lange,
eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameiſenpuppen, begann das Pflegevatergeſchäft mit der größten
Emſigkeit und zog auch dieſe Jungen groß, als ob es ſeine eigenen geweſen wären.‟ Naumann
erfuhr Aehnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel ſchrie
fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens.
Es begab ſich zu dem Käfig des Schreihalfes und wurde von dieſem um Futter gebeten. „Sogleich
flog es zum Tiſch, holte Brodkrümchen, ſtopfte ihm damit das Maul und that dieſes endlich ſo oft,
als ſich der Verwaiſte meldete.‟ — Auch im Freien ſchließt das Nothkehlchen zuweilen innige Freund-
ſchaft mit andern Vögeln. „Jn einem Gehölze unweit Köthen‟, erzählt Päßler, „iſt der merk-
würdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Neſt gelegt hat.
Letzterer hat das Neſt gebaut, beide haben je ſechs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit
auf den zwölf Eiern gebrütet.‟ Das warme Gemüth des liebenswürdigen Vogels iſt alſo hinlänglich
bewieſen.

Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigenſchaften. Es iſt einer unſerer lieblichſten
Sänger. Sein Lied beſteht aus mehreren mit einander abwechſelnden flötenden und trillernden
Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, ſo daß der Geſang feierlich klingt. Dieſes
Lied nun iſt im Zimmer ebenſo angenehm, wie im Walde, und deshalb wird unſer Vogel ſehr
häufig zahm gehalten. Er gewöhnt ſich bald an die Gefangenſchaft, verliert raſch alle Scheu, welche er
anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder ſeine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menſchen gegen-
über. Nach einiger Zeit gewinnt er ſeinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem
Zwitſchern, aufgeblaſenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er
viele Jahre lang in der Gefangenſchaft aus und ſcheint ſich vollſtändig mit ſeinem Loſe auszuſöhnen.
Man kennt Beiſpiele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im
nächſten Frühjahre freigelaſſen worden waren, im Spätherbſt ſich wiederum im Hauſe ihres Gaſt-
freundes einfanden und dieſen gleichſam baten, ſie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus-
und Einfliegen gewöhnt, ja, ein Paar hat ſich im Zimmer ſogar fortgepflanzt. Ein ſo liebenswür-
diges Geſchöpf muß ſich die Zuneigung des Menſchen erwerben.

Das Rothkehlchen erſcheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend
erlaubt; es hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling kündet, oft noch viel von Kälte
und Mangel zu leiden. Es reiſt des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin
und ſenkt ſich mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebüſche und Gärten hernieder, um hier ſich zu
ſättigen und auszuruhen. Sobald es ſich feſt angeſiedelt hat, tönt der Wald wider von ſeinem ſchallen-
den Gelock, einem ſcharfen „Schnickerikik‟, welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0816" n="772"/><fw place="top" type="header">Die Fänger. Singvögel. Erd&#x017F;äuger.</fw><lb/>
höch&#x017F;t mitleidig, ja barmherzig &#x017F;ein kann. Verwai&#x017F;te Singvögel, welche noch nicht im Stande &#x017F;ind,<lb/>
&#x017F;ich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barm-<lb/>
herzige Helfer gefunden. Jn meinem Heimatsorte wurde eine wahrhaft erhebende Beobachtung gemacht.<lb/>
Zwei Rothkehlchenmännchen, welche ein und den&#x017F;elben Käfig bewohnten, lebten be&#x017F;tändig in Hader und<lb/>
Streit. Sie mißgönnten &#x017F;ich jeden Bi&#x017F;&#x017F;en, ja, wie es &#x017F;chien, die Luft, welche &#x017F;ie athmeten; &#x017F;ie bi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich<lb/>
aufs Heftig&#x017F;te, jagten &#x017F;ich wenig&#x017F;tens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da ge&#x017F;chah es,<lb/>
daß Eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet.<lb/>
Das ge&#x017F;unde Männchen hatte all &#x017F;einen Groll verge&#x017F;&#x017F;en, nahm &#x017F;ich mitleidig des &#x017F;chmerzgepeinigten<lb/>
Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn überhaupt aufs Sorgfältig&#x017F;te. Der zerbrochene<lb/>
Fuß heilte, das krankgewe&#x017F;ene Männchen war wieder kräftig wie vorher: aber der Streit zwi&#x017F;chen ihm<lb/>
und &#x017F;einem Wohlthäter war für immer beendet! &#x2014; Ein anderes männliches Rothkehlchen, von<lb/>
welchem <hi rendition="#g">Snell</hi> Kunde erhielt, wurde am Ne&#x017F;te &#x017F;einer Jungen gefangen und mit die&#x017F;en in das Zim-<lb/>
mer gebracht. Es widmete &#x017F;ich nach wie vor der Pflege der&#x017F;elben, fütterte und wärmte &#x017F;ie und zog<lb/>
&#x017F;ie glücklich groß. &#x201E;Etwa acht Tage &#x017F;päter brachte der Vogel&#x017F;teller ein anderes Ne&#x017F;t mit jungen Roth-<lb/>
kehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und &#x017F;iehe da: als<lb/>
die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam der Vogel heran, betrachtete &#x017F;ie lange,<lb/>
eilte dann zu dem Näpfchen mit Amei&#x017F;enpuppen, begann das Pflegevaterge&#x017F;chäft mit der größten<lb/>
Em&#x017F;igkeit und zog auch die&#x017F;e Jungen groß, als ob es &#x017F;eine eigenen gewe&#x017F;en wären.&#x201F; <hi rendition="#g">Naumann</hi><lb/>
erfuhr Aehnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel &#x017F;chrie<lb/>
fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens.<lb/>
Es begab &#x017F;ich zu dem Käfig des Schreihalfes und wurde von die&#x017F;em um Futter gebeten. &#x201E;Sogleich<lb/>
flog es zum Ti&#x017F;ch, holte Brodkrümchen, &#x017F;topfte ihm damit das Maul und that die&#x017F;es endlich &#x017F;o oft,<lb/>
als &#x017F;ich der Verwai&#x017F;te meldete.&#x201F; &#x2014; Auch im Freien &#x017F;chließt das Nothkehlchen zuweilen innige Freund-<lb/>
&#x017F;chaft mit andern Vögeln. &#x201E;Jn einem Gehölze unweit Köthen&#x201F;, erzählt <hi rendition="#g">Päßler,</hi> &#x201E;i&#x017F;t der merk-<lb/>
würdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Ne&#x017F;t gelegt hat.<lb/>
Letzterer hat das Ne&#x017F;t gebaut, beide haben je &#x017F;echs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit<lb/>
auf den zwölf Eiern gebrütet.&#x201F; Das warme Gemüth des liebenswürdigen Vogels i&#x017F;t al&#x017F;o hinlänglich<lb/>
bewie&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigen&#x017F;chaften. Es i&#x017F;t einer un&#x017F;erer lieblich&#x017F;ten<lb/>
Sänger. Sein Lied be&#x017F;teht aus mehreren mit einander abwech&#x017F;elnden flötenden und trillernden<lb/>
Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, &#x017F;o daß der Ge&#x017F;ang feierlich klingt. Die&#x017F;es<lb/>
Lied nun i&#x017F;t im Zimmer eben&#x017F;o angenehm, wie im Walde, und deshalb wird un&#x017F;er Vogel &#x017F;ehr<lb/>
häufig zahm gehalten. Er gewöhnt &#x017F;ich bald an die Gefangen&#x017F;chaft, verliert ra&#x017F;ch alle Scheu, welche er<lb/>
anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder &#x017F;eine altgewohnte Zutraulichkeit dem Men&#x017F;chen gegen-<lb/>
über. Nach einiger Zeit gewinnt er &#x017F;einen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem<lb/>
Zwit&#x017F;chern, aufgebla&#x017F;enem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er<lb/>
viele Jahre lang in der Gefangen&#x017F;chaft aus und &#x017F;cheint &#x017F;ich voll&#x017F;tändig mit &#x017F;einem Lo&#x017F;e auszu&#x017F;öhnen.<lb/>
Man kennt Bei&#x017F;piele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im<lb/>
näch&#x017F;ten Frühjahre freigela&#x017F;&#x017F;en worden waren, im Spätherb&#x017F;t &#x017F;ich wiederum im Hau&#x017F;e ihres Ga&#x017F;t-<lb/>
freundes einfanden und die&#x017F;en gleich&#x017F;am baten, &#x017F;ie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus-<lb/>
und Einfliegen gewöhnt, ja, ein Paar hat &#x017F;ich im Zimmer &#x017F;ogar fortgepflanzt. Ein &#x017F;o liebenswür-<lb/>
diges Ge&#x017F;chöpf muß &#x017F;ich die Zuneigung des Men&#x017F;chen erwerben.</p><lb/>
          <p>Das Rothkehlchen er&#x017F;cheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend<lb/>
erlaubt; es hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling kündet, oft noch viel von Kälte<lb/>
und Mangel zu leiden. Es rei&#x017F;t des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin<lb/>
und &#x017F;enkt &#x017F;ich mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebü&#x017F;che und Gärten hernieder, um hier &#x017F;ich zu<lb/>
&#x017F;ättigen und auszuruhen. Sobald es &#x017F;ich fe&#x017F;t ange&#x017F;iedelt hat, tönt der Wald wider von &#x017F;einem &#x017F;challen-<lb/>
den Gelock, einem &#x017F;charfen &#x201E;Schnickerikik&#x201F;, welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[772/0816] Die Fänger. Singvögel. Erdſäuger. höchſt mitleidig, ja barmherzig ſein kann. Verwaiſte Singvögel, welche noch nicht im Stande ſind, ſich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barm- herzige Helfer gefunden. Jn meinem Heimatsorte wurde eine wahrhaft erhebende Beobachtung gemacht. Zwei Rothkehlchenmännchen, welche ein und denſelben Käfig bewohnten, lebten beſtändig in Hader und Streit. Sie mißgönnten ſich jeden Biſſen, ja, wie es ſchien, die Luft, welche ſie athmeten; ſie biſſen ſich aufs Heftigſte, jagten ſich wenigſtens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geſchah es, daß Eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet. Das geſunde Männchen hatte all ſeinen Groll vergeſſen, nahm ſich mitleidig des ſchmerzgepeinigten Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn überhaupt aufs Sorgfältigſte. Der zerbrochene Fuß heilte, das krankgeweſene Männchen war wieder kräftig wie vorher: aber der Streit zwiſchen ihm und ſeinem Wohlthäter war für immer beendet! — Ein anderes männliches Rothkehlchen, von welchem Snell Kunde erhielt, wurde am Neſte ſeiner Jungen gefangen und mit dieſen in das Zim- mer gebracht. Es widmete ſich nach wie vor der Pflege derſelben, fütterte und wärmte ſie und zog ſie glücklich groß. „Etwa acht Tage ſpäter brachte der Vogelſteller ein anderes Neſt mit jungen Roth- kehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und ſiehe da: als die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam der Vogel heran, betrachtete ſie lange, eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameiſenpuppen, begann das Pflegevatergeſchäft mit der größten Emſigkeit und zog auch dieſe Jungen groß, als ob es ſeine eigenen geweſen wären.‟ Naumann erfuhr Aehnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel ſchrie fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens. Es begab ſich zu dem Käfig des Schreihalfes und wurde von dieſem um Futter gebeten. „Sogleich flog es zum Tiſch, holte Brodkrümchen, ſtopfte ihm damit das Maul und that dieſes endlich ſo oft, als ſich der Verwaiſte meldete.‟ — Auch im Freien ſchließt das Nothkehlchen zuweilen innige Freund- ſchaft mit andern Vögeln. „Jn einem Gehölze unweit Köthen‟, erzählt Päßler, „iſt der merk- würdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Neſt gelegt hat. Letzterer hat das Neſt gebaut, beide haben je ſechs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit auf den zwölf Eiern gebrütet.‟ Das warme Gemüth des liebenswürdigen Vogels iſt alſo hinlänglich bewieſen. Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigenſchaften. Es iſt einer unſerer lieblichſten Sänger. Sein Lied beſteht aus mehreren mit einander abwechſelnden flötenden und trillernden Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, ſo daß der Geſang feierlich klingt. Dieſes Lied nun iſt im Zimmer ebenſo angenehm, wie im Walde, und deshalb wird unſer Vogel ſehr häufig zahm gehalten. Er gewöhnt ſich bald an die Gefangenſchaft, verliert raſch alle Scheu, welche er anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder ſeine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menſchen gegen- über. Nach einiger Zeit gewinnt er ſeinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem Zwitſchern, aufgeblaſenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er viele Jahre lang in der Gefangenſchaft aus und ſcheint ſich vollſtändig mit ſeinem Loſe auszuſöhnen. Man kennt Beiſpiele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im nächſten Frühjahre freigelaſſen worden waren, im Spätherbſt ſich wiederum im Hauſe ihres Gaſt- freundes einfanden und dieſen gleichſam baten, ſie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus- und Einfliegen gewöhnt, ja, ein Paar hat ſich im Zimmer ſogar fortgepflanzt. Ein ſo liebenswür- diges Geſchöpf muß ſich die Zuneigung des Menſchen erwerben. Das Rothkehlchen erſcheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend erlaubt; es hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling kündet, oft noch viel von Kälte und Mangel zu leiden. Es reiſt des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin und ſenkt ſich mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebüſche und Gärten hernieder, um hier ſich zu ſättigen und auszuruhen. Sobald es ſich feſt angeſiedelt hat, tönt der Wald wider von ſeinem ſchallen- den Gelock, einem ſcharfen „Schnickerikik‟, welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/816
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 772. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/816>, abgerufen am 22.05.2024.