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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Die Fänger. Singvögel. Erdsäuger.
höchst mitleidig, ja barmherzig sein kann. Verwaiste Singvögel, welche noch nicht im Stande sind,
sich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barm-
herzige Helfer gefunden. Jn meinem Heimatsorte wurde eine wahrhaft erhebende Beobachtung gemacht.
Zwei Rothkehlchenmännchen, welche ein und denselben Käfig bewohnten, lebten beständig in Hader und
Streit. Sie mißgönnten sich jeden Bissen, ja, wie es schien, die Luft, welche sie athmeten; sie bissen sich
aufs Heftigste, jagten sich wenigstens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geschah es,
daß Eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet.
Das gesunde Männchen hatte all seinen Groll vergessen, nahm sich mitleidig des schmerzgepeinigten
Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn überhaupt aufs Sorgfältigste. Der zerbrochene
Fuß heilte, das krankgewesene Männchen war wieder kräftig wie vorher: aber der Streit zwischen ihm
und seinem Wohlthäter war für immer beendet! -- Ein anderes männliches Rothkehlchen, von
welchem Snell Kunde erhielt, wurde am Neste seiner Jungen gefangen und mit diesen in das Zim-
mer gebracht. Es widmete sich nach wie vor der Pflege derselben, fütterte und wärmte sie und zog
sie glücklich groß. "Etwa acht Tage später brachte der Vogelsteller ein anderes Nest mit jungen Roth-
kehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und siehe da: als
die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam der Vogel heran, betrachtete sie lange,
eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameisenpuppen, begann das Pflegevatergeschäft mit der größten
Emsigkeit und zog auch diese Jungen groß, als ob es seine eigenen gewesen wären." Naumann
erfuhr Aehnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel schrie
fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens.
Es begab sich zu dem Käfig des Schreihalfes und wurde von diesem um Futter gebeten. "Sogleich
flog es zum Tisch, holte Brodkrümchen, stopfte ihm damit das Maul und that dieses endlich so oft,
als sich der Verwaiste meldete." -- Auch im Freien schließt das Nothkehlchen zuweilen innige Freund-
schaft mit andern Vögeln. "Jn einem Gehölze unweit Köthen", erzählt Päßler, "ist der merk-
würdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Nest gelegt hat.
Letzterer hat das Nest gebaut, beide haben je sechs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit
auf den zwölf Eiern gebrütet." Das warme Gemüth des liebenswürdigen Vogels ist also hinlänglich
bewiesen.

Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigenschaften. Es ist einer unserer lieblichsten
Sänger. Sein Lied besteht aus mehreren mit einander abwechselnden flötenden und trillernden
Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, so daß der Gesang feierlich klingt. Dieses
Lied nun ist im Zimmer ebenso angenehm, wie im Walde, und deshalb wird unser Vogel sehr
häufig zahm gehalten. Er gewöhnt sich bald an die Gefangenschaft, verliert rasch alle Scheu, welche er
anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder seine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menschen gegen-
über. Nach einiger Zeit gewinnt er seinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem
Zwitschern, aufgeblasenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er
viele Jahre lang in der Gefangenschaft aus und scheint sich vollständig mit seinem Lose auszusöhnen.
Man kennt Beispiele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im
nächsten Frühjahre freigelassen worden waren, im Spätherbst sich wiederum im Hause ihres Gast-
freundes einfanden und diesen gleichsam baten, sie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus-
und Einfliegen gewöhnt, ja, ein Paar hat sich im Zimmer sogar fortgepflanzt. Ein so liebenswür-
diges Geschöpf muß sich die Zuneigung des Menschen erwerben.

Das Rothkehlchen erscheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend
erlaubt; es hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling kündet, oft noch viel von Kälte
und Mangel zu leiden. Es reist des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin
und senkt sich mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebüsche und Gärten hernieder, um hier sich zu
sättigen und auszuruhen. Sobald es sich fest angesiedelt hat, tönt der Wald wider von seinem schallen-
den Gelock, einem scharfen "Schnickerikik", welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt;

Die Fänger. Singvögel. Erdſäuger.
höchſt mitleidig, ja barmherzig ſein kann. Verwaiſte Singvögel, welche noch nicht im Stande ſind,
ſich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barm-
herzige Helfer gefunden. Jn meinem Heimatsorte wurde eine wahrhaft erhebende Beobachtung gemacht.
Zwei Rothkehlchenmännchen, welche ein und denſelben Käfig bewohnten, lebten beſtändig in Hader und
Streit. Sie mißgönnten ſich jeden Biſſen, ja, wie es ſchien, die Luft, welche ſie athmeten; ſie biſſen ſich
aufs Heftigſte, jagten ſich wenigſtens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geſchah es,
daß Eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet.
Das geſunde Männchen hatte all ſeinen Groll vergeſſen, nahm ſich mitleidig des ſchmerzgepeinigten
Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn überhaupt aufs Sorgfältigſte. Der zerbrochene
Fuß heilte, das krankgeweſene Männchen war wieder kräftig wie vorher: aber der Streit zwiſchen ihm
und ſeinem Wohlthäter war für immer beendet! — Ein anderes männliches Rothkehlchen, von
welchem Snell Kunde erhielt, wurde am Neſte ſeiner Jungen gefangen und mit dieſen in das Zim-
mer gebracht. Es widmete ſich nach wie vor der Pflege derſelben, fütterte und wärmte ſie und zog
ſie glücklich groß. „Etwa acht Tage ſpäter brachte der Vogelſteller ein anderes Neſt mit jungen Roth-
kehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und ſiehe da: als
die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam der Vogel heran, betrachtete ſie lange,
eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameiſenpuppen, begann das Pflegevatergeſchäft mit der größten
Emſigkeit und zog auch dieſe Jungen groß, als ob es ſeine eigenen geweſen wären.‟ Naumann
erfuhr Aehnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel ſchrie
fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens.
Es begab ſich zu dem Käfig des Schreihalfes und wurde von dieſem um Futter gebeten. „Sogleich
flog es zum Tiſch, holte Brodkrümchen, ſtopfte ihm damit das Maul und that dieſes endlich ſo oft,
als ſich der Verwaiſte meldete.‟ — Auch im Freien ſchließt das Nothkehlchen zuweilen innige Freund-
ſchaft mit andern Vögeln. „Jn einem Gehölze unweit Köthen‟, erzählt Päßler, „iſt der merk-
würdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Neſt gelegt hat.
Letzterer hat das Neſt gebaut, beide haben je ſechs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit
auf den zwölf Eiern gebrütet.‟ Das warme Gemüth des liebenswürdigen Vogels iſt alſo hinlänglich
bewieſen.

Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigenſchaften. Es iſt einer unſerer lieblichſten
Sänger. Sein Lied beſteht aus mehreren mit einander abwechſelnden flötenden und trillernden
Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, ſo daß der Geſang feierlich klingt. Dieſes
Lied nun iſt im Zimmer ebenſo angenehm, wie im Walde, und deshalb wird unſer Vogel ſehr
häufig zahm gehalten. Er gewöhnt ſich bald an die Gefangenſchaft, verliert raſch alle Scheu, welche er
anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder ſeine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menſchen gegen-
über. Nach einiger Zeit gewinnt er ſeinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem
Zwitſchern, aufgeblaſenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er
viele Jahre lang in der Gefangenſchaft aus und ſcheint ſich vollſtändig mit ſeinem Loſe auszuſöhnen.
Man kennt Beiſpiele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im
nächſten Frühjahre freigelaſſen worden waren, im Spätherbſt ſich wiederum im Hauſe ihres Gaſt-
freundes einfanden und dieſen gleichſam baten, ſie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus-
und Einfliegen gewöhnt, ja, ein Paar hat ſich im Zimmer ſogar fortgepflanzt. Ein ſo liebenswür-
diges Geſchöpf muß ſich die Zuneigung des Menſchen erwerben.

Das Rothkehlchen erſcheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend
erlaubt; es hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling kündet, oft noch viel von Kälte
und Mangel zu leiden. Es reiſt des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin
und ſenkt ſich mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebüſche und Gärten hernieder, um hier ſich zu
ſättigen und auszuruhen. Sobald es ſich feſt angeſiedelt hat, tönt der Wald wider von ſeinem ſchallen-
den Gelock, einem ſcharfen „Schnickerikik‟, welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt;

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[772/0816] Die Fänger. Singvögel. Erdſäuger. höchſt mitleidig, ja barmherzig ſein kann. Verwaiſte Singvögel, welche noch nicht im Stande ſind, ſich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barm- herzige Helfer gefunden. Jn meinem Heimatsorte wurde eine wahrhaft erhebende Beobachtung gemacht. Zwei Rothkehlchenmännchen, welche ein und denſelben Käfig bewohnten, lebten beſtändig in Hader und Streit. Sie mißgönnten ſich jeden Biſſen, ja, wie es ſchien, die Luft, welche ſie athmeten; ſie biſſen ſich aufs Heftigſte, jagten ſich wenigſtens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geſchah es, daß Eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet. Das geſunde Männchen hatte all ſeinen Groll vergeſſen, nahm ſich mitleidig des ſchmerzgepeinigten Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn überhaupt aufs Sorgfältigſte. Der zerbrochene Fuß heilte, das krankgeweſene Männchen war wieder kräftig wie vorher: aber der Streit zwiſchen ihm und ſeinem Wohlthäter war für immer beendet! — Ein anderes männliches Rothkehlchen, von welchem Snell Kunde erhielt, wurde am Neſte ſeiner Jungen gefangen und mit dieſen in das Zim- mer gebracht. Es widmete ſich nach wie vor der Pflege derſelben, fütterte und wärmte ſie und zog ſie glücklich groß. „Etwa acht Tage ſpäter brachte der Vogelſteller ein anderes Neſt mit jungen Roth- kehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und ſiehe da: als die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam der Vogel heran, betrachtete ſie lange, eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameiſenpuppen, begann das Pflegevatergeſchäft mit der größten Emſigkeit und zog auch dieſe Jungen groß, als ob es ſeine eigenen geweſen wären.‟ Naumann erfuhr Aehnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel ſchrie fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens. Es begab ſich zu dem Käfig des Schreihalfes und wurde von dieſem um Futter gebeten. „Sogleich flog es zum Tiſch, holte Brodkrümchen, ſtopfte ihm damit das Maul und that dieſes endlich ſo oft, als ſich der Verwaiſte meldete.‟ — Auch im Freien ſchließt das Nothkehlchen zuweilen innige Freund- ſchaft mit andern Vögeln. „Jn einem Gehölze unweit Köthen‟, erzählt Päßler, „iſt der merk- würdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Neſt gelegt hat. Letzterer hat das Neſt gebaut, beide haben je ſechs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit auf den zwölf Eiern gebrütet.‟ Das warme Gemüth des liebenswürdigen Vogels iſt alſo hinlänglich bewieſen. Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigenſchaften. Es iſt einer unſerer lieblichſten Sänger. Sein Lied beſteht aus mehreren mit einander abwechſelnden flötenden und trillernden Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, ſo daß der Geſang feierlich klingt. Dieſes Lied nun iſt im Zimmer ebenſo angenehm, wie im Walde, und deshalb wird unſer Vogel ſehr häufig zahm gehalten. Er gewöhnt ſich bald an die Gefangenſchaft, verliert raſch alle Scheu, welche er anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder ſeine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menſchen gegen- über. Nach einiger Zeit gewinnt er ſeinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem Zwitſchern, aufgeblaſenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er viele Jahre lang in der Gefangenſchaft aus und ſcheint ſich vollſtändig mit ſeinem Loſe auszuſöhnen. Man kennt Beiſpiele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im nächſten Frühjahre freigelaſſen worden waren, im Spätherbſt ſich wiederum im Hauſe ihres Gaſt- freundes einfanden und dieſen gleichſam baten, ſie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus- und Einfliegen gewöhnt, ja, ein Paar hat ſich im Zimmer ſogar fortgepflanzt. Ein ſo liebenswür- diges Geſchöpf muß ſich die Zuneigung des Menſchen erwerben. Das Rothkehlchen erſcheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend erlaubt; es hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling kündet, oft noch viel von Kälte und Mangel zu leiden. Es reiſt des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin und ſenkt ſich mit Anbruch des Tages in Wälder, Gebüſche und Gärten hernieder, um hier ſich zu ſättigen und auszuruhen. Sobald es ſich feſt angeſiedelt hat, tönt der Wald wider von ſeinem ſchallen- den Gelock, einem ſcharfen „Schnickerikik‟, welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt;

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 772. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/816>, abgerufen am 22.11.2024.