seine Jnseln; die Hauptmenge der uns im Winter verlassenden Rothkehlchen bleibt aber schon in Südeuropa wohnen.
Jn Deutschland ist das Rothkehlchen überall gemein. Jeder Wald, in welchem sich dichtes Unter- holz und feuchte Stellen finden, bietet ihm einen seinen Anforderungen entsprechenden Wohnsitz, und während seiner Reisen besucht es jedes Gebüsch, jede Hecke, im Gebirge wie in der Ebene, im Felde wie im Garten unmittelbar vor oder zwischen den Wohnungen der Menschen.
Es ist ein liebenswürdiges Geschöpf, welches sein munteres, fröhliches Wesen bei jeder Gelegen- heit bekundet. Auf dem Boden sitzend, trägt es sich aufrecht, die Flügel etwas hängend, den Schwanz wagrecht, auf Baumzweigen sitzend, etwas lässiger. Es hüpft leichten Sprunges rasch, meist aber in Absätzen über den Boden oder auf wagrechten Aesten dahin, flattert von einem Zweige zum andern und fliegt sehr gewandt, wenn auch nicht regelmäßig, über kurze Entfernungen halb hüpfend, halb
[Abbildung]
Das Rothkehlchen oder Rothbrüstchen (Rubecula sylvestris).
schwebend, -- schnurrend, wie Naumann sagt --, über weitere Strecken in einer aus kürzeren oder längeren Bogen gebildeten Schlangenlinie, schwenkt sich hurtig zwischen dem dichtesten Gebüsch hindurch und bekundet überhaupt eine große Behendigkeit. Gern zeigt es sich frei auf einem hervorragenden Zweige oder auf dem Boden, ungern aber, bei Tage wohl kaum, fliegt es in hoher Luft dahin; es ist vielmehr stets mehr auf seine Sicherung bedacht, so keck es sonst auch zu sein scheint. Den Men- schen fürchtet es übrigens kaum; es scheint zu wissen, daß seine harmlose Zutraulichkeit von jedem Vernünftigen gewürdigt und durch Schonung vergolten wird. Dagegen kennt es gar wohl seine natürlichen Feinde und bekundet bei ihrem Erscheinen seine Angst oder Besorgniß. Schwachen Geschöpfen oder Seinesgleichen gegenüber zeigt es einen liebenswürdigen Muthwillen, aber auch Neck- lust und unliebenswürdige Zanksucht; es lebt deshalb nicht eben gesellig und selten in Frieden. Doch hat man andrerseits auch das gute Gemüth kennen gelernt und erfahren, daß es unter Umständen
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Calliope. Rothkehlchen.
ſeine Jnſeln; die Hauptmenge der uns im Winter verlaſſenden Rothkehlchen bleibt aber ſchon in Südeuropa wohnen.
Jn Deutſchland iſt das Rothkehlchen überall gemein. Jeder Wald, in welchem ſich dichtes Unter- holz und feuchte Stellen finden, bietet ihm einen ſeinen Anforderungen entſprechenden Wohnſitz, und während ſeiner Reiſen beſucht es jedes Gebüſch, jede Hecke, im Gebirge wie in der Ebene, im Felde wie im Garten unmittelbar vor oder zwiſchen den Wohnungen der Menſchen.
Es iſt ein liebenswürdiges Geſchöpf, welches ſein munteres, fröhliches Weſen bei jeder Gelegen- heit bekundet. Auf dem Boden ſitzend, trägt es ſich aufrecht, die Flügel etwas hängend, den Schwanz wagrecht, auf Baumzweigen ſitzend, etwas läſſiger. Es hüpft leichten Sprunges raſch, meiſt aber in Abſätzen über den Boden oder auf wagrechten Aeſten dahin, flattert von einem Zweige zum andern und fliegt ſehr gewandt, wenn auch nicht regelmäßig, über kurze Entfernungen halb hüpfend, halb
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Das Rothkehlchen oder Rothbrüſtchen (Rubecula sylvestris).
ſchwebend, — ſchnurrend, wie Naumann ſagt —, über weitere Strecken in einer aus kürzeren oder längeren Bogen gebildeten Schlangenlinie, ſchwenkt ſich hurtig zwiſchen dem dichteſten Gebüſch hindurch und bekundet überhaupt eine große Behendigkeit. Gern zeigt es ſich frei auf einem hervorragenden Zweige oder auf dem Boden, ungern aber, bei Tage wohl kaum, fliegt es in hoher Luft dahin; es iſt vielmehr ſtets mehr auf ſeine Sicherung bedacht, ſo keck es ſonſt auch zu ſein ſcheint. Den Men- ſchen fürchtet es übrigens kaum; es ſcheint zu wiſſen, daß ſeine harmloſe Zutraulichkeit von jedem Vernünftigen gewürdigt und durch Schonung vergolten wird. Dagegen kennt es gar wohl ſeine natürlichen Feinde und bekundet bei ihrem Erſcheinen ſeine Angſt oder Beſorgniß. Schwachen Geſchöpfen oder Seinesgleichen gegenüber zeigt es einen liebenswürdigen Muthwillen, aber auch Neck- luſt und unliebenswürdige Zankſucht; es lebt deshalb nicht eben geſellig und ſelten in Frieden. Doch hat man andrerſeits auch das gute Gemüth kennen gelernt und erfahren, daß es unter Umſtänden
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Calliope. Rothkehlchen.
ſeine Jnſeln; die Hauptmenge der uns im Winter verlaſſenden Rothkehlchen bleibt aber ſchon in
Südeuropa wohnen.
Jn Deutſchland iſt das Rothkehlchen überall gemein. Jeder Wald, in welchem ſich dichtes Unter-
holz und feuchte Stellen finden, bietet ihm einen ſeinen Anforderungen entſprechenden Wohnſitz, und
während ſeiner Reiſen beſucht es jedes Gebüſch, jede Hecke, im Gebirge wie in der Ebene, im Felde
wie im Garten unmittelbar vor oder zwiſchen den Wohnungen der Menſchen.
Es iſt ein liebenswürdiges Geſchöpf, welches ſein munteres, fröhliches Weſen bei jeder Gelegen-
heit bekundet. Auf dem Boden ſitzend, trägt es ſich aufrecht, die Flügel etwas hängend, den Schwanz
wagrecht, auf Baumzweigen ſitzend, etwas läſſiger. Es hüpft leichten Sprunges raſch, meiſt aber
in Abſätzen über den Boden oder auf wagrechten Aeſten dahin, flattert von einem Zweige zum andern
und fliegt ſehr gewandt, wenn auch nicht regelmäßig, über kurze Entfernungen halb hüpfend, halb
[Abbildung Das Rothkehlchen oder Rothbrüſtchen (Rubecula sylvestris).]
ſchwebend, — ſchnurrend, wie Naumann ſagt —, über weitere Strecken in einer aus kürzeren oder
längeren Bogen gebildeten Schlangenlinie, ſchwenkt ſich hurtig zwiſchen dem dichteſten Gebüſch hindurch
und bekundet überhaupt eine große Behendigkeit. Gern zeigt es ſich frei auf einem hervorragenden
Zweige oder auf dem Boden, ungern aber, bei Tage wohl kaum, fliegt es in hoher Luft dahin; es iſt
vielmehr ſtets mehr auf ſeine Sicherung bedacht, ſo keck es ſonſt auch zu ſein ſcheint. Den Men-
ſchen fürchtet es übrigens kaum; es ſcheint zu wiſſen, daß ſeine harmloſe Zutraulichkeit von jedem
Vernünftigen gewürdigt und durch Schonung vergolten wird. Dagegen kennt es gar wohl ſeine
natürlichen Feinde und bekundet bei ihrem Erſcheinen ſeine Angſt oder Beſorgniß. Schwachen
Geſchöpfen oder Seinesgleichen gegenüber zeigt es einen liebenswürdigen Muthwillen, aber auch Neck-
luſt und unliebenswürdige Zankſucht; es lebt deshalb nicht eben geſellig und ſelten in Frieden. Doch
hat man andrerſeits auch das gute Gemüth kennen gelernt und erfahren, daß es unter Umſtänden
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 771. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/815>, abgerufen am 25.11.2024.
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