Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Girlitz. Kanarienvogel.
seinem zarten Schnäbelchen nicht bewältigen, wenn sie ihm jedoch zerquetscht vorgelegt werden, nimmt
er dieselben gern an. Wasser ist ihm unentbehrlich; er trinkt viel und verdurstet sehr leicht.

Jung Eingefangene gewöhnen sich bald an die Gefangenschaft, werden aber nicht sonderlich zahm.
Sie bekunden auch im Käfig viele gute Eigenschaften. Die Männchen singen sehr fleißig, mit Aus-
nahme der Mauser fast das ganze Jahr hindurch. Sie sind immer munter und guter Dinge, fried-
fertig andern Vögeln gegenüber und gesellig im hohen Grade, sobald die Brutzeit vorüber ist. Jn
Spanien sieht man sie zuweilen in sehr starken Flügen, immer aber erst im Herbst. Diese gesellen sich
dann wohl auch auf kurze Zeit zu den Stieglitzen, Sperlingen und anderen Feldfinken, ohne jedoch
eigentlich in Gemeinschaft mit ihnen zu treten. Jm Gesellschaftsbauer sind sie ganz allerliebst; sie
bringen Leben unter die Menge und werden keinen der mit ihnen eingesperrten Vögel beschwerlich.

Unsere gewandten kleineren Raubsäugethiere und Raubvögel stellen auch dem Girlitz eifrig nach,
und zumal die unerfahrenen Jungen mögen diesen Feinden oft zum Opfer fallen. Der Mensch be-
fehdet sie bei uns zu Lande nicht, es sei denn, daß ein Liebhaber Einige sich erbeutet; in Spanien da-
gegen werden sie in großer Menge gefangen und zu Markte gebracht, ebenso für den Käfig, als für
die Küche. Man wendet dort eine ganz eigenthümliche Fangweise an. Der Esparto, ein hartbinsiges
Gras, welches in großer Menge in den spanischen Ebenen wächst, wird zur Leimruthe vorgerichtet und
dann massenhaft auf Baumwipfel gestreut, so daß eigentlich die ganze Krone mit Leimruthen überdeckt
ist. Selbstverständlich wählt man immer einzeln stehende Bäume im Felde aus, welche den umwoh-
nenden Vögeln als Ruheplatz dienen. Der Erfolg dieses Vogelfangs ist oft überraschend. Von zahl-
reichen Finkenschwärmen, welche sich auf solchem Baume niederlassen, entgeht zuweilen kaum der vierte
Theil den verrätherischen Ruthen. Selbst große schwere Vögel werden auf diese Weise gefangen: wir
erhielten einen Adler (Pseudaetos Bonellii), dessen Gefieder durch diese feinen Rüthchen zusammen-
geklebt und unbrauchbar geworden war.



"Dreihundert Jahre sind verflossen", sagt Bolle, "seit der Kanarienvogel durch Zähmung über
die Grenzen seiner wahren Heimat hinausgeführt und Weltbürger geworden ist. Wie wenn von
zwei Brüdern einer eine Laufbahn wählt, die ihm durch Gunst des Schicksals, seinen Begabungen eine
ungeahnte Entfaltung gestattend, auf einen jener glänzenden Gipfel des Ruhmes hebt, an denen das
Auge der Menschheit haftet, der andere aber im nächsten Umkreise seiner Geburtsstätte, den stillen Sit-
ten und der schlichten Tracht seiner ländlichen Vorfahren getreu, nur von wenigen nahen Freunden
gekannt und geschätzt, unberühmt und doch glücklicher vielleicht, fortlebt; ganz so ist es den beiden
Arten eines Vogels ergangen, den die Natur ursprünglich zum Schmucke einsamer Jnseln des Welt-
meeres bestimmt hatte. Der gesittete Mensch hat die Hand nach ihm ausgestreckt, ihn verpflanzt, ver-
mehrt, an sein eigenes Schicksal gefesselt und durch Wartung und Pflege zahlreich auf einander fol-
gender Geschlechter so durchgreifende Veränderungen an ihm bewirkt, daß wir jetzt fast geneigt sind, mit
Linne und Brisson zu irren, indem wir in dem goldgelben Vögelchen das Urbild der Art erkennen
möchten und darüber die wilde, grünliche Stammart, die unverändert geblieben ist, was sie von Anbe-
ginn her war, beinahe vergessen haben. Wenn es nun für den Freund der Natur überhaupt von
Wichtigkeit ist, das Lebensbild jeder beliebigen Art in möglichst klaren Zügen vor sich entrollt zu sehen,
so wird im vorliegenden Falle die Theilnahme dadurch noch erhöht, daß wir es mit dem Urzustande
eines Wesens zu thun haben, welches eine Geschichte besitzt und Vergleiche manchfacher Entwicklungs-
stufen gestattet, welches, als ein fast nothwendiger Bestandtheil häuslicher Behaglichkeit, sich mit
unsern frühesten Erinnerungen verknüpft, fast möchten wir sagen, als Echo des Familienglücks, eine
wahrhafte Theilnahme des Herzens in Anspruch nimmt und zuletzt noch, abgesehen von seiner Schön-
heit und seinen übrigen fesselnden Eigenschaften, aus weiter Ferne in unser Vaterland eingebürgert,
seit lange schon für mehrere sonst arme Gegenden desselben eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle
geworden ist."

Girlitz. Kanarienvogel.
ſeinem zarten Schnäbelchen nicht bewältigen, wenn ſie ihm jedoch zerquetſcht vorgelegt werden, nimmt
er dieſelben gern an. Waſſer iſt ihm unentbehrlich; er trinkt viel und verdurſtet ſehr leicht.

Jung Eingefangene gewöhnen ſich bald an die Gefangenſchaft, werden aber nicht ſonderlich zahm.
Sie bekunden auch im Käfig viele gute Eigenſchaften. Die Männchen ſingen ſehr fleißig, mit Aus-
nahme der Mauſer faſt das ganze Jahr hindurch. Sie ſind immer munter und guter Dinge, fried-
fertig andern Vögeln gegenüber und geſellig im hohen Grade, ſobald die Brutzeit vorüber iſt. Jn
Spanien ſieht man ſie zuweilen in ſehr ſtarken Flügen, immer aber erſt im Herbſt. Dieſe geſellen ſich
dann wohl auch auf kurze Zeit zu den Stieglitzen, Sperlingen und anderen Feldfinken, ohne jedoch
eigentlich in Gemeinſchaft mit ihnen zu treten. Jm Geſellſchaftsbauer ſind ſie ganz allerliebſt; ſie
bringen Leben unter die Menge und werden keinen der mit ihnen eingeſperrten Vögel beſchwerlich.

Unſere gewandten kleineren Raubſäugethiere und Raubvögel ſtellen auch dem Girlitz eifrig nach,
und zumal die unerfahrenen Jungen mögen dieſen Feinden oft zum Opfer fallen. Der Menſch be-
fehdet ſie bei uns zu Lande nicht, es ſei denn, daß ein Liebhaber Einige ſich erbeutet; in Spanien da-
gegen werden ſie in großer Menge gefangen und zu Markte gebracht, ebenſo für den Käfig, als für
die Küche. Man wendet dort eine ganz eigenthümliche Fangweiſe an. Der Eſparto, ein hartbinſiges
Gras, welches in großer Menge in den ſpaniſchen Ebenen wächſt, wird zur Leimruthe vorgerichtet und
dann maſſenhaft auf Baumwipfel geſtreut, ſo daß eigentlich die ganze Krone mit Leimruthen überdeckt
iſt. Selbſtverſtändlich wählt man immer einzeln ſtehende Bäume im Felde aus, welche den umwoh-
nenden Vögeln als Ruheplatz dienen. Der Erfolg dieſes Vogelfangs iſt oft überraſchend. Von zahl-
reichen Finkenſchwärmen, welche ſich auf ſolchem Baume niederlaſſen, entgeht zuweilen kaum der vierte
Theil den verrätheriſchen Ruthen. Selbſt große ſchwere Vögel werden auf dieſe Weiſe gefangen: wir
erhielten einen Adler (Pseudaëtos Bonellii), deſſen Gefieder durch dieſe feinen Rüthchen zuſammen-
geklebt und unbrauchbar geworden war.



„Dreihundert Jahre ſind verfloſſen‟, ſagt Bolle, „ſeit der Kanarienvogel durch Zähmung über
die Grenzen ſeiner wahren Heimat hinausgeführt und Weltbürger geworden iſt. Wie wenn von
zwei Brüdern einer eine Laufbahn wählt, die ihm durch Gunſt des Schickſals, ſeinen Begabungen eine
ungeahnte Entfaltung geſtattend, auf einen jener glänzenden Gipfel des Ruhmes hebt, an denen das
Auge der Menſchheit haftet, der andere aber im nächſten Umkreiſe ſeiner Geburtsſtätte, den ſtillen Sit-
ten und der ſchlichten Tracht ſeiner ländlichen Vorfahren getreu, nur von wenigen nahen Freunden
gekannt und geſchätzt, unberühmt und doch glücklicher vielleicht, fortlebt; ganz ſo iſt es den beiden
Arten eines Vogels ergangen, den die Natur urſprünglich zum Schmucke einſamer Jnſeln des Welt-
meeres beſtimmt hatte. Der geſittete Menſch hat die Hand nach ihm ausgeſtreckt, ihn verpflanzt, ver-
mehrt, an ſein eigenes Schickſal gefeſſelt und durch Wartung und Pflege zahlreich auf einander fol-
gender Geſchlechter ſo durchgreifende Veränderungen an ihm bewirkt, daß wir jetzt faſt geneigt ſind, mit
Linné und Briſſon zu irren, indem wir in dem goldgelben Vögelchen das Urbild der Art erkennen
möchten und darüber die wilde, grünliche Stammart, die unverändert geblieben iſt, was ſie von Anbe-
ginn her war, beinahe vergeſſen haben. Wenn es nun für den Freund der Natur überhaupt von
Wichtigkeit iſt, das Lebensbild jeder beliebigen Art in möglichſt klaren Zügen vor ſich entrollt zu ſehen,
ſo wird im vorliegenden Falle die Theilnahme dadurch noch erhöht, daß wir es mit dem Urzuſtande
eines Weſens zu thun haben, welches eine Geſchichte beſitzt und Vergleiche manchfacher Entwicklungs-
ſtufen geſtattet, welches, als ein faſt nothwendiger Beſtandtheil häuslicher Behaglichkeit, ſich mit
unſern früheſten Erinnerungen verknüpft, faſt möchten wir ſagen, als Echo des Familienglücks, eine
wahrhafte Theilnahme des Herzens in Anſpruch nimmt und zuletzt noch, abgeſehen von ſeiner Schön-
heit und ſeinen übrigen feſſelnden Eigenſchaften, aus weiter Ferne in unſer Vaterland eingebürgert,
ſeit lange ſchon für mehrere ſonſt arme Gegenden deſſelben eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle
geworden iſt.‟

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0137" n="119"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Girlitz. Kanarienvogel.</hi></fw><lb/>
&#x017F;einem zarten Schnäbelchen nicht bewältigen, wenn &#x017F;ie ihm jedoch zerquet&#x017F;cht vorgelegt werden, nimmt<lb/>
er die&#x017F;elben gern an. Wa&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t ihm unentbehrlich; er trinkt viel und verdur&#x017F;tet &#x017F;ehr leicht.</p><lb/>
          <p>Jung Eingefangene gewöhnen &#x017F;ich bald an die Gefangen&#x017F;chaft, werden aber nicht &#x017F;onderlich zahm.<lb/>
Sie bekunden auch im Käfig viele gute Eigen&#x017F;chaften. Die Männchen &#x017F;ingen &#x017F;ehr fleißig, mit Aus-<lb/>
nahme der Mau&#x017F;er fa&#x017F;t das ganze Jahr hindurch. Sie &#x017F;ind immer munter und guter Dinge, fried-<lb/>
fertig andern Vögeln gegenüber und ge&#x017F;ellig im hohen Grade, &#x017F;obald die Brutzeit vorüber i&#x017F;t. Jn<lb/>
Spanien &#x017F;ieht man &#x017F;ie zuweilen in &#x017F;ehr &#x017F;tarken Flügen, immer aber er&#x017F;t im Herb&#x017F;t. Die&#x017F;e ge&#x017F;ellen &#x017F;ich<lb/>
dann wohl auch auf kurze Zeit zu den Stieglitzen, Sperlingen und anderen Feldfinken, ohne jedoch<lb/>
eigentlich in Gemein&#x017F;chaft mit ihnen zu treten. Jm Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsbauer &#x017F;ind &#x017F;ie ganz allerlieb&#x017F;t; &#x017F;ie<lb/>
bringen Leben unter die Menge und werden keinen der mit ihnen einge&#x017F;perrten Vögel be&#x017F;chwerlich.</p><lb/>
          <p>Un&#x017F;ere gewandten kleineren Raub&#x017F;äugethiere und Raubvögel &#x017F;tellen auch dem Girlitz eifrig nach,<lb/>
und zumal die unerfahrenen Jungen mögen die&#x017F;en Feinden oft zum Opfer fallen. Der Men&#x017F;ch be-<lb/>
fehdet &#x017F;ie bei uns zu Lande nicht, es &#x017F;ei denn, daß ein Liebhaber Einige &#x017F;ich erbeutet; in Spanien da-<lb/>
gegen werden &#x017F;ie in großer Menge gefangen und zu Markte gebracht, eben&#x017F;o für den Käfig, als für<lb/>
die Küche. Man wendet dort eine ganz eigenthümliche Fangwei&#x017F;e an. Der E&#x017F;parto, ein hartbin&#x017F;iges<lb/>
Gras, welches in großer Menge in den &#x017F;pani&#x017F;chen Ebenen wäch&#x017F;t, wird zur Leimruthe vorgerichtet und<lb/>
dann ma&#x017F;&#x017F;enhaft auf Baumwipfel ge&#x017F;treut, &#x017F;o daß eigentlich die ganze Krone mit Leimruthen überdeckt<lb/>
i&#x017F;t. Selb&#x017F;tver&#x017F;tändlich wählt man immer einzeln &#x017F;tehende Bäume im Felde aus, welche den umwoh-<lb/>
nenden Vögeln als Ruheplatz dienen. Der Erfolg die&#x017F;es Vogelfangs i&#x017F;t oft überra&#x017F;chend. Von zahl-<lb/>
reichen Finken&#x017F;chwärmen, welche &#x017F;ich auf &#x017F;olchem Baume niederla&#x017F;&#x017F;en, entgeht zuweilen kaum der vierte<lb/>
Theil den verrätheri&#x017F;chen Ruthen. Selb&#x017F;t große &#x017F;chwere Vögel werden auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e gefangen: wir<lb/>
erhielten einen Adler (<hi rendition="#aq">Pseudaëtos Bonellii</hi>), de&#x017F;&#x017F;en Gefieder durch die&#x017F;e feinen Rüthchen zu&#x017F;ammen-<lb/>
geklebt und unbrauchbar geworden war.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>&#x201E;Dreihundert Jahre &#x017F;ind verflo&#x017F;&#x017F;en&#x201F;, &#x017F;agt <hi rendition="#g">Bolle,</hi> &#x201E;&#x017F;eit der Kanarienvogel durch Zähmung über<lb/>
die Grenzen &#x017F;einer wahren Heimat hinausgeführt und Weltbürger geworden i&#x017F;t. Wie wenn von<lb/>
zwei Brüdern einer eine Laufbahn wählt, die ihm durch Gun&#x017F;t des Schick&#x017F;als, &#x017F;einen Begabungen eine<lb/>
ungeahnte Entfaltung ge&#x017F;tattend, auf einen jener glänzenden Gipfel des Ruhmes hebt, an denen das<lb/>
Auge der Men&#x017F;chheit haftet, der andere aber im näch&#x017F;ten Umkrei&#x017F;e &#x017F;einer Geburts&#x017F;tätte, den &#x017F;tillen Sit-<lb/>
ten und der &#x017F;chlichten Tracht &#x017F;einer ländlichen Vorfahren getreu, nur von wenigen nahen Freunden<lb/>
gekannt und ge&#x017F;chätzt, unberühmt und doch glücklicher vielleicht, fortlebt; ganz &#x017F;o i&#x017F;t es den beiden<lb/>
Arten eines Vogels ergangen, den die Natur ur&#x017F;prünglich zum Schmucke ein&#x017F;amer Jn&#x017F;eln des Welt-<lb/>
meeres be&#x017F;timmt hatte. Der ge&#x017F;ittete Men&#x017F;ch hat die Hand nach ihm ausge&#x017F;treckt, ihn verpflanzt, ver-<lb/>
mehrt, an &#x017F;ein eigenes Schick&#x017F;al gefe&#x017F;&#x017F;elt und durch Wartung und Pflege zahlreich auf einander fol-<lb/>
gender Ge&#x017F;chlechter &#x017F;o durchgreifende Veränderungen an ihm bewirkt, daß wir jetzt fa&#x017F;t geneigt &#x017F;ind, mit<lb/><hi rendition="#g">Linn<hi rendition="#aq">é</hi></hi> und <hi rendition="#g">Bri&#x017F;&#x017F;on</hi> zu irren, indem wir in dem goldgelben Vögelchen das Urbild der Art erkennen<lb/>
möchten und darüber die wilde, grünliche Stammart, die unverändert geblieben i&#x017F;t, was &#x017F;ie von Anbe-<lb/>
ginn her war, beinahe verge&#x017F;&#x017F;en haben. Wenn es nun für den Freund der Natur überhaupt von<lb/>
Wichtigkeit i&#x017F;t, das Lebensbild jeder beliebigen Art in möglich&#x017F;t klaren Zügen vor &#x017F;ich entrollt zu &#x017F;ehen,<lb/>
&#x017F;o wird im vorliegenden Falle die Theilnahme dadurch noch erhöht, daß wir es mit dem Urzu&#x017F;tande<lb/>
eines We&#x017F;ens zu thun haben, welches eine Ge&#x017F;chichte be&#x017F;itzt und Vergleiche manchfacher Entwicklungs-<lb/>
&#x017F;tufen ge&#x017F;tattet, welches, als ein fa&#x017F;t nothwendiger Be&#x017F;tandtheil häuslicher Behaglichkeit, &#x017F;ich mit<lb/>
un&#x017F;ern frühe&#x017F;ten Erinnerungen verknüpft, fa&#x017F;t möchten wir &#x017F;agen, als Echo des Familienglücks, eine<lb/>
wahrhafte Theilnahme des Herzens in An&#x017F;pruch nimmt und zuletzt noch, abge&#x017F;ehen von &#x017F;einer Schön-<lb/>
heit und &#x017F;einen übrigen fe&#x017F;&#x017F;elnden Eigen&#x017F;chaften, aus weiter Ferne in un&#x017F;er Vaterland eingebürgert,<lb/>
&#x017F;eit lange &#x017F;chon für mehrere &#x017F;on&#x017F;t arme Gegenden de&#x017F;&#x017F;elben eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle<lb/>
geworden i&#x017F;t.&#x201F;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0137] Girlitz. Kanarienvogel. ſeinem zarten Schnäbelchen nicht bewältigen, wenn ſie ihm jedoch zerquetſcht vorgelegt werden, nimmt er dieſelben gern an. Waſſer iſt ihm unentbehrlich; er trinkt viel und verdurſtet ſehr leicht. Jung Eingefangene gewöhnen ſich bald an die Gefangenſchaft, werden aber nicht ſonderlich zahm. Sie bekunden auch im Käfig viele gute Eigenſchaften. Die Männchen ſingen ſehr fleißig, mit Aus- nahme der Mauſer faſt das ganze Jahr hindurch. Sie ſind immer munter und guter Dinge, fried- fertig andern Vögeln gegenüber und geſellig im hohen Grade, ſobald die Brutzeit vorüber iſt. Jn Spanien ſieht man ſie zuweilen in ſehr ſtarken Flügen, immer aber erſt im Herbſt. Dieſe geſellen ſich dann wohl auch auf kurze Zeit zu den Stieglitzen, Sperlingen und anderen Feldfinken, ohne jedoch eigentlich in Gemeinſchaft mit ihnen zu treten. Jm Geſellſchaftsbauer ſind ſie ganz allerliebſt; ſie bringen Leben unter die Menge und werden keinen der mit ihnen eingeſperrten Vögel beſchwerlich. Unſere gewandten kleineren Raubſäugethiere und Raubvögel ſtellen auch dem Girlitz eifrig nach, und zumal die unerfahrenen Jungen mögen dieſen Feinden oft zum Opfer fallen. Der Menſch be- fehdet ſie bei uns zu Lande nicht, es ſei denn, daß ein Liebhaber Einige ſich erbeutet; in Spanien da- gegen werden ſie in großer Menge gefangen und zu Markte gebracht, ebenſo für den Käfig, als für die Küche. Man wendet dort eine ganz eigenthümliche Fangweiſe an. Der Eſparto, ein hartbinſiges Gras, welches in großer Menge in den ſpaniſchen Ebenen wächſt, wird zur Leimruthe vorgerichtet und dann maſſenhaft auf Baumwipfel geſtreut, ſo daß eigentlich die ganze Krone mit Leimruthen überdeckt iſt. Selbſtverſtändlich wählt man immer einzeln ſtehende Bäume im Felde aus, welche den umwoh- nenden Vögeln als Ruheplatz dienen. Der Erfolg dieſes Vogelfangs iſt oft überraſchend. Von zahl- reichen Finkenſchwärmen, welche ſich auf ſolchem Baume niederlaſſen, entgeht zuweilen kaum der vierte Theil den verrätheriſchen Ruthen. Selbſt große ſchwere Vögel werden auf dieſe Weiſe gefangen: wir erhielten einen Adler (Pseudaëtos Bonellii), deſſen Gefieder durch dieſe feinen Rüthchen zuſammen- geklebt und unbrauchbar geworden war. „Dreihundert Jahre ſind verfloſſen‟, ſagt Bolle, „ſeit der Kanarienvogel durch Zähmung über die Grenzen ſeiner wahren Heimat hinausgeführt und Weltbürger geworden iſt. Wie wenn von zwei Brüdern einer eine Laufbahn wählt, die ihm durch Gunſt des Schickſals, ſeinen Begabungen eine ungeahnte Entfaltung geſtattend, auf einen jener glänzenden Gipfel des Ruhmes hebt, an denen das Auge der Menſchheit haftet, der andere aber im nächſten Umkreiſe ſeiner Geburtsſtätte, den ſtillen Sit- ten und der ſchlichten Tracht ſeiner ländlichen Vorfahren getreu, nur von wenigen nahen Freunden gekannt und geſchätzt, unberühmt und doch glücklicher vielleicht, fortlebt; ganz ſo iſt es den beiden Arten eines Vogels ergangen, den die Natur urſprünglich zum Schmucke einſamer Jnſeln des Welt- meeres beſtimmt hatte. Der geſittete Menſch hat die Hand nach ihm ausgeſtreckt, ihn verpflanzt, ver- mehrt, an ſein eigenes Schickſal gefeſſelt und durch Wartung und Pflege zahlreich auf einander fol- gender Geſchlechter ſo durchgreifende Veränderungen an ihm bewirkt, daß wir jetzt faſt geneigt ſind, mit Linné und Briſſon zu irren, indem wir in dem goldgelben Vögelchen das Urbild der Art erkennen möchten und darüber die wilde, grünliche Stammart, die unverändert geblieben iſt, was ſie von Anbe- ginn her war, beinahe vergeſſen haben. Wenn es nun für den Freund der Natur überhaupt von Wichtigkeit iſt, das Lebensbild jeder beliebigen Art in möglichſt klaren Zügen vor ſich entrollt zu ſehen, ſo wird im vorliegenden Falle die Theilnahme dadurch noch erhöht, daß wir es mit dem Urzuſtande eines Weſens zu thun haben, welches eine Geſchichte beſitzt und Vergleiche manchfacher Entwicklungs- ſtufen geſtattet, welches, als ein faſt nothwendiger Beſtandtheil häuslicher Behaglichkeit, ſich mit unſern früheſten Erinnerungen verknüpft, faſt möchten wir ſagen, als Echo des Familienglücks, eine wahrhafte Theilnahme des Herzens in Anſpruch nimmt und zuletzt noch, abgeſehen von ſeiner Schön- heit und ſeinen übrigen feſſelnden Eigenſchaften, aus weiter Ferne in unſer Vaterland eingebürgert, ſeit lange ſchon für mehrere ſonſt arme Gegenden deſſelben eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle geworden iſt.‟

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/137
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/137>, abgerufen am 06.05.2024.