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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Angoraziege.

Wie es scheint, war die Angoraziege den Alten gänzlich unbekannt. Belon ist der Erste,
welcher, und zwar im sechzehnten Jahrhundert, einer Wollziege Erwähnung thut, deren Vließ fein
wie Seide und weiß wie der Schnee sei und zur Verfertigung des Kamelot oder Kämmelgarns ver-
wandt werde. Nach und nach hat man das Thier besser kennen gelernt. Es trägt seinen Namen
nach der kleinen Stadt Angora im türkischen Paschalik Anadoli in Kleinasien, der schon bei den
Alten hochberühmten Handelsstadt Ankyra. Vonhieraus hat man die Ziege aber weiter verbreitet,
und neuerdings ist sie mit Glück auch in Europa eingeführt worden. Die eigentliche Heimatsgegend
der Angoraziege ist trocken und heiß im Sommer, jedoch sehr kalt im Winter, obwohl dieser nur drei
oder vier Monate dauert. Erst wenn es keine Nahrung auf den Bergen mehr gibt, bringt man die
Ziegen in schlechte Ställe; das ganze übrige Jahr müssen sie auf der Weide verweilen. Sie sind
höchst empfindlich, obwohl die schlechte Behandlung nicht dazu beiträgt, sie zu verweichlichen.
Reine, trockene Luft ist zu ihrem Wohlsein eine unumgänglich nothwendige Bedingung. Während
der heißen Jahreszeit wäscht und kämmt man das Vließ allmonatlich mehrere Male, um seine Schön-
heit zu erhalten und zu steigern.

Die Zahl der Ziegen, welche man überhaupt in Anadoli hält, wird auf eine halbe Million bis
800,000 angeschlagen. Auf einen Bock kommen etwa hundert Ziegen.

Schon an Ort und Stelle gilt eine Ziege 12 bis 16 Thaler unseres Geldes: so groß ist der
Nutzen, welchen dieses merkwürdige Thier gewährt. Jm April ist die Schur, und unmittelbar dar-
auf wird die Wolle eingepackt. Angora allein liefert fast 2 Millionen Pfund, welche einem Werthe
von 1,200,000 Thalern entsprechen. 20,000 Pfund werden im Lande | selbst zur Fertigung starker
Stoffe für die Männer und feiner für die Frauen zu Strümpfen und Handschuhen verarbeitet: alles
Uebrige geht nach England. Jn Angora selbst ist fast jeder Bürger Wollhändler.

Man hat beobachtet, daß die Feinheit der Wolle mit dem Alter abnimmt. Bei einjährigen
Thieren ist das Vließ wunderbar schön; schon im zweiten Jahre verliert es etwas; vom vierten Jahre
an wird es rasch schlechter und schlechter; sechsjährige Thiere muß man schlachten, weil sie zur Woll-
erzeugung gar nicht mehr geeignet sind.

Schon seit der ersten Kunde, welche man über die Angoraziege erhielt, hat man Versuche ge-
macht, sie bei uns einzuführen. Die spanische Regierung brachte im Jahre 1765 einen starken Trupp
Angoraziegen nach der iberischen Halbinsel; man weiß aber nicht, was aus ihnen geworden ist. Jm
Jahre 1787 führte man einige Hundert in den französischen Niederalpen ein. Dort gediehen sie
ausgezeichnet, und man zog einen hübschen Gewinn aus der Zucht. Später brachte man sie auch nach
Toskana und selbst nach Schweden. Jm Jahre 1830 kaufte Ferdinand VII. hundert Angoraziegen
und setzte sie zuerst im Parke des Schlosses El Retiro bei Madrid aus. Hier vermehrten sie sich so rasch,
daß man sie auf Berge des Escorial übersiedeln mußte. Jn dieser ihnen sehr günstigen Gegend
machte man die Beobachtung, daß ihre Wolle sich ebensofein erhielt, wie in ihrem eigentlichen Vater-
lande. Dann wurden sie nach Südkarolina gebracht, und auch dort befanden sie sich wohl. Endlich
führte die kaiserlich französische Gesellschaft für Einbürgerung fremder Thiere im Jahre 1854 die
Angoraziege von neuem in Frankreich ein, und man hat bisjetzt keine Ursache gehabt, über das Mißge-
deihen derselben zu klagen: es wird sogar behauptet, daß die Wolle der in Frankreich Geborenen fei-
ner wäre, als die ihrer Eltern.

Nur die Bockzeit hat das französische Klima verändert. Bei der Einführung brunsteten die
Ziegen im Oktober, später aber immer im September. Man ernährt die Thiere mit Heu, Stroh
und Kleie; denn sie ziehen alle trockene Nahrung der grünen vor. Salz fressen sie begierig, und
reines, gutes Wasser ist ihnen ein Bedürfniß. Sie fürchten ebensowenig Hitze, als große Kälte;
nur unmittelbar nach der Schur sind sie so empfindlich, daß die geringste Erkältung sie tödten kann;
auch Feuchtigkeit ist ihnen höchst verderblich. Nach genauen Berechnungen, welche man angestellt
hat, ergab sich ein Reingewinn von jährlich 23 Franes 74 Centimes für jede Ziege. Dabei aber

Die Angoraziege.

Wie es ſcheint, war die Angoraziege den Alten gänzlich unbekannt. Belon iſt der Erſte,
welcher, und zwar im ſechzehnten Jahrhundert, einer Wollziege Erwähnung thut, deren Vließ fein
wie Seide und weiß wie der Schnee ſei und zur Verfertigung des Kamelot oder Kämmelgarns ver-
wandt werde. Nach und nach hat man das Thier beſſer kennen gelernt. Es trägt ſeinen Namen
nach der kleinen Stadt Angora im türkiſchen Paſchalik Anadoli in Kleinaſien, der ſchon bei den
Alten hochberühmten Handelsſtadt Ankyra. Vonhieraus hat man die Ziege aber weiter verbreitet,
und neuerdings iſt ſie mit Glück auch in Europa eingeführt worden. Die eigentliche Heimatsgegend
der Angoraziege iſt trocken und heiß im Sommer, jedoch ſehr kalt im Winter, obwohl dieſer nur drei
oder vier Monate dauert. Erſt wenn es keine Nahrung auf den Bergen mehr gibt, bringt man die
Ziegen in ſchlechte Ställe; das ganze übrige Jahr müſſen ſie auf der Weide verweilen. Sie ſind
höchſt empfindlich, obwohl die ſchlechte Behandlung nicht dazu beiträgt, ſie zu verweichlichen.
Reine, trockene Luft iſt zu ihrem Wohlſein eine unumgänglich nothwendige Bedingung. Während
der heißen Jahreszeit wäſcht und kämmt man das Vließ allmonatlich mehrere Male, um ſeine Schön-
heit zu erhalten und zu ſteigern.

Die Zahl der Ziegen, welche man überhaupt in Anadoli hält, wird auf eine halbe Million bis
800,000 angeſchlagen. Auf einen Bock kommen etwa hundert Ziegen.

Schon an Ort und Stelle gilt eine Ziege 12 bis 16 Thaler unſeres Geldes: ſo groß iſt der
Nutzen, welchen dieſes merkwürdige Thier gewährt. Jm April iſt die Schur, und unmittelbar dar-
auf wird die Wolle eingepackt. Angora allein liefert faſt 2 Millionen Pfund, welche einem Werthe
von 1,200,000 Thalern entſprechen. 20,000 Pfund werden im Lande | ſelbſt zur Fertigung ſtarker
Stoffe für die Männer und feiner für die Frauen zu Strümpfen und Handſchuhen verarbeitet: alles
Uebrige geht nach England. Jn Angora ſelbſt iſt faſt jeder Bürger Wollhändler.

Man hat beobachtet, daß die Feinheit der Wolle mit dem Alter abnimmt. Bei einjährigen
Thieren iſt das Vließ wunderbar ſchön; ſchon im zweiten Jahre verliert es etwas; vom vierten Jahre
an wird es raſch ſchlechter und ſchlechter; ſechsjährige Thiere muß man ſchlachten, weil ſie zur Woll-
erzeugung gar nicht mehr geeignet ſind.

Schon ſeit der erſten Kunde, welche man über die Angoraziege erhielt, hat man Verſuche ge-
macht, ſie bei uns einzuführen. Die ſpaniſche Regierung brachte im Jahre 1765 einen ſtarken Trupp
Angoraziegen nach der iberiſchen Halbinſel; man weiß aber nicht, was aus ihnen geworden iſt. Jm
Jahre 1787 führte man einige Hundert in den franzöſiſchen Niederalpen ein. Dort gediehen ſie
ausgezeichnet, und man zog einen hübſchen Gewinn aus der Zucht. Später brachte man ſie auch nach
Toskana und ſelbſt nach Schweden. Jm Jahre 1830 kaufte Ferdinand VII. hundert Angoraziegen
und ſetzte ſie zuerſt im Parke des Schloſſes El Retiro bei Madrid aus. Hier vermehrten ſie ſich ſo raſch,
daß man ſie auf Berge des Escorial überſiedeln mußte. Jn dieſer ihnen ſehr günſtigen Gegend
machte man die Beobachtung, daß ihre Wolle ſich ebenſofein erhielt, wie in ihrem eigentlichen Vater-
lande. Dann wurden ſie nach Südkarolina gebracht, und auch dort befanden ſie ſich wohl. Endlich
führte die kaiſerlich franzöſiſche Geſellſchaft für Einbürgerung fremder Thiere im Jahre 1854 die
Angoraziege von neuem in Frankreich ein, und man hat bisjetzt keine Urſache gehabt, über das Mißge-
deihen derſelben zu klagen: es wird ſogar behauptet, daß die Wolle der in Frankreich Geborenen fei-
ner wäre, als die ihrer Eltern.

Nur die Bockzeit hat das franzöſiſche Klima verändert. Bei der Einführung brunſteten die
Ziegen im Oktober, ſpäter aber immer im September. Man ernährt die Thiere mit Heu, Stroh
und Kleie; denn ſie ziehen alle trockene Nahrung der grünen vor. Salz freſſen ſie begierig, und
reines, gutes Waſſer iſt ihnen ein Bedürfniß. Sie fürchten ebenſowenig Hitze, als große Kälte;
nur unmittelbar nach der Schur ſind ſie ſo empfindlich, daß die geringſte Erkältung ſie tödten kann;
auch Feuchtigkeit iſt ihnen höchſt verderblich. Nach genauen Berechnungen, welche man angeſtellt
hat, ergab ſich ein Reingewinn von jährlich 23 Franes 74 Centimes für jede Ziege. Dabei aber

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[583/0613] Die Angoraziege. Wie es ſcheint, war die Angoraziege den Alten gänzlich unbekannt. Belon iſt der Erſte, welcher, und zwar im ſechzehnten Jahrhundert, einer Wollziege Erwähnung thut, deren Vließ fein wie Seide und weiß wie der Schnee ſei und zur Verfertigung des Kamelot oder Kämmelgarns ver- wandt werde. Nach und nach hat man das Thier beſſer kennen gelernt. Es trägt ſeinen Namen nach der kleinen Stadt Angora im türkiſchen Paſchalik Anadoli in Kleinaſien, der ſchon bei den Alten hochberühmten Handelsſtadt Ankyra. Vonhieraus hat man die Ziege aber weiter verbreitet, und neuerdings iſt ſie mit Glück auch in Europa eingeführt worden. Die eigentliche Heimatsgegend der Angoraziege iſt trocken und heiß im Sommer, jedoch ſehr kalt im Winter, obwohl dieſer nur drei oder vier Monate dauert. Erſt wenn es keine Nahrung auf den Bergen mehr gibt, bringt man die Ziegen in ſchlechte Ställe; das ganze übrige Jahr müſſen ſie auf der Weide verweilen. Sie ſind höchſt empfindlich, obwohl die ſchlechte Behandlung nicht dazu beiträgt, ſie zu verweichlichen. Reine, trockene Luft iſt zu ihrem Wohlſein eine unumgänglich nothwendige Bedingung. Während der heißen Jahreszeit wäſcht und kämmt man das Vließ allmonatlich mehrere Male, um ſeine Schön- heit zu erhalten und zu ſteigern. Die Zahl der Ziegen, welche man überhaupt in Anadoli hält, wird auf eine halbe Million bis 800,000 angeſchlagen. Auf einen Bock kommen etwa hundert Ziegen. Schon an Ort und Stelle gilt eine Ziege 12 bis 16 Thaler unſeres Geldes: ſo groß iſt der Nutzen, welchen dieſes merkwürdige Thier gewährt. Jm April iſt die Schur, und unmittelbar dar- auf wird die Wolle eingepackt. Angora allein liefert faſt 2 Millionen Pfund, welche einem Werthe von 1,200,000 Thalern entſprechen. 20,000 Pfund werden im Lande | ſelbſt zur Fertigung ſtarker Stoffe für die Männer und feiner für die Frauen zu Strümpfen und Handſchuhen verarbeitet: alles Uebrige geht nach England. Jn Angora ſelbſt iſt faſt jeder Bürger Wollhändler. Man hat beobachtet, daß die Feinheit der Wolle mit dem Alter abnimmt. Bei einjährigen Thieren iſt das Vließ wunderbar ſchön; ſchon im zweiten Jahre verliert es etwas; vom vierten Jahre an wird es raſch ſchlechter und ſchlechter; ſechsjährige Thiere muß man ſchlachten, weil ſie zur Woll- erzeugung gar nicht mehr geeignet ſind. Schon ſeit der erſten Kunde, welche man über die Angoraziege erhielt, hat man Verſuche ge- macht, ſie bei uns einzuführen. Die ſpaniſche Regierung brachte im Jahre 1765 einen ſtarken Trupp Angoraziegen nach der iberiſchen Halbinſel; man weiß aber nicht, was aus ihnen geworden iſt. Jm Jahre 1787 führte man einige Hundert in den franzöſiſchen Niederalpen ein. Dort gediehen ſie ausgezeichnet, und man zog einen hübſchen Gewinn aus der Zucht. Später brachte man ſie auch nach Toskana und ſelbſt nach Schweden. Jm Jahre 1830 kaufte Ferdinand VII. hundert Angoraziegen und ſetzte ſie zuerſt im Parke des Schloſſes El Retiro bei Madrid aus. Hier vermehrten ſie ſich ſo raſch, daß man ſie auf Berge des Escorial überſiedeln mußte. Jn dieſer ihnen ſehr günſtigen Gegend machte man die Beobachtung, daß ihre Wolle ſich ebenſofein erhielt, wie in ihrem eigentlichen Vater- lande. Dann wurden ſie nach Südkarolina gebracht, und auch dort befanden ſie ſich wohl. Endlich führte die kaiſerlich franzöſiſche Geſellſchaft für Einbürgerung fremder Thiere im Jahre 1854 die Angoraziege von neuem in Frankreich ein, und man hat bisjetzt keine Urſache gehabt, über das Mißge- deihen derſelben zu klagen: es wird ſogar behauptet, daß die Wolle der in Frankreich Geborenen fei- ner wäre, als die ihrer Eltern. Nur die Bockzeit hat das franzöſiſche Klima verändert. Bei der Einführung brunſteten die Ziegen im Oktober, ſpäter aber immer im September. Man ernährt die Thiere mit Heu, Stroh und Kleie; denn ſie ziehen alle trockene Nahrung der grünen vor. Salz freſſen ſie begierig, und reines, gutes Waſſer iſt ihnen ein Bedürfniß. Sie fürchten ebenſowenig Hitze, als große Kälte; nur unmittelbar nach der Schur ſind ſie ſo empfindlich, daß die geringſte Erkältung ſie tödten kann; auch Feuchtigkeit iſt ihnen höchſt verderblich. Nach genauen Berechnungen, welche man angeſtellt hat, ergab ſich ein Reingewinn von jährlich 23 Franes 74 Centimes für jede Ziege. Dabei aber

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/613>, abgerufen am 26.06.2024.