chen leben einsiedlerisch; sonst halten sie sich stets mit anderen ihrer Art treu zusammen. Sie sind thätig bei Tag und bei Nacht, obgleich sie dem Tage den Vorzug geben. Jhre Eigenschaften offen- baren sich bei jeder Gelegenheit. Sie sind überaus geschickt im Klettern und Springen und bekunden dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Entschiedenheit, welche ihnen alle Ehre machen. Sichern Tritts überschreiten sie die gefährlichsten Stellen im Gebirge; schwindelfrei stehen sie auf den schmal- sten Kanten, und gleichgiltig schauen sie in die furchtbarsten Abgründe hinab; ja, sie äßen sich noch auf den bedenklichsten Stellen mit einer Tollkühnheit ohne Gleichen. Dabei besitzen sie eine verhält- nißmäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer. Somit sind sie ganz geeignet, ein armes Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erwor- ben werden muß. Neckisch und spiellustig unter sich, zeigen sie sich vorsichtig und scheu anderen Geschöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem geringsten Geräusch, obwohl man nicht eben behaupten darf, daß es die Furcht ist, welche sie in die Flucht schreckt; denn im Nothfalle kämpfen sie muthig und tapfer und mit einer gewissen Rauflust, welche ihnen sehr gut ansteht.
Die saftigsten Gebirgspflanzen aller Art bilden ihre Nahrung. Sie sind sehr lecker und suchen sich nur die besten Bissen heraus, verstehen es auch vortrefflich, immer Orte auszuwählen, welche ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb von einer Gegend in die andere, oft durch viele Meilen weit. Alle Arten sind große Freunde vom Salz und suchen deshalb Stellen, wo diese Leckerei sich findet, gierig auf. Wasser ist für sie ein Bedürfniß, daher meiden sie Gegenden, in denen es weder Quellen, noch Bäche gibt. Jhre höheren Sinne scheinen ziemlich gleich entwickelt zu sein. Sie äugen, vernehmen und wittern sehr scharf, manche Arten wirklich auf unglaubliche Entfernungen hin. Das Gesicht ist wahrscheinlich noch ihr stumpfster Sinn. Jhre geistigen Fähig- keiten stehen, wie schon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß sie als kluge, geweckte Thiere bezeichnen. Das Gedächtniß ist zwar nicht besonders; aber Erfahrung witzigt sie doch bald in hohem Grade, und dann wissen sie mit vieler Schlauheit und List drohenden Gefahren zu begegnen. Manche Arten muß man launenhaft nennen, und andere sind wirklich boshaft und tückisch.
Die Zahl ihrer Jungen schwankt zwischen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten werfen höchstens zwei, die gezähmten nur in sehr seltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit offenen Augen zur Welt und sind schon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen. Die wildlebenden Arten laufen schon am ersten Tage ihres Lebens ebenso kühn und sicher auf den Ge- birgen umher, wie ihre Eltern.
Man darf wohl sagen, daß alle Ziegen nützliche Thiere sind. Der Schaden, welchen sie an- richten, ist so gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen sehr bedeutend, nament- lich in solchen Gegenden, wo man die Ziegen gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren Schätze sonst ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens unseres Erdtheils sind förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an solchen Wänden das Gras abweiden, wo keines Menschen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden wie von den zahmen Arten kann man fast Alles benutzen, Fleisch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen sind nicht blos der Armen liebster Freund, sondern im Süden auch die beinahe ausschließlichen Milcherzeuger.
Noch gegenwärtig herrscht großer Streit unter den Naturforschern, wie viele Arten die bisjetzt bekannten Ziegen bilden. Die Unterscheidung dieser Thiere ist außerordentlich schwer, weil die Arten sich sehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens große Hindernisse entgegentreten. Soviel scheint festzustehen, daß der Verbreitungskreis der Einzelnen ein verhältnißmäßig sehr beschränkter ist, und daß somit jedes größere Gebirge, welches Mitglieder unserer Familie beherbergt, auch seine eigenen Arten besitzt. Diese Arten lassen sich in drei verschiedene Sippen ordnen, in die der Steinböcke, Ziegen und Halbziegen. Noch können wir nicht sagen, in wieweit sich das Leben der einzelnen Arten unterscheidet; denn bisjetzt sind wir blos im Stande, das Treiben von einzelnen in allgemei- nen Umrissen zu zeichnen: schwebt doch selbst über der Herkunft und dem Freileben unserer Hausziege noch ein unerklärliches Dunkel!
Die Ziegen.
chen leben einſiedleriſch; ſonſt halten ſie ſich ſtets mit anderen ihrer Art treu zuſammen. Sie ſind thätig bei Tag und bei Nacht, obgleich ſie dem Tage den Vorzug geben. Jhre Eigenſchaften offen- baren ſich bei jeder Gelegenheit. Sie ſind überaus geſchickt im Klettern und Springen und bekunden dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Entſchiedenheit, welche ihnen alle Ehre machen. Sichern Tritts überſchreiten ſie die gefährlichſten Stellen im Gebirge; ſchwindelfrei ſtehen ſie auf den ſchmal- ſten Kanten, und gleichgiltig ſchauen ſie in die furchtbarſten Abgründe hinab; ja, ſie äßen ſich noch auf den bedenklichſten Stellen mit einer Tollkühnheit ohne Gleichen. Dabei beſitzen ſie eine verhält- nißmäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer. Somit ſind ſie ganz geeignet, ein armes Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erwor- ben werden muß. Neckiſch und ſpielluſtig unter ſich, zeigen ſie ſich vorſichtig und ſcheu anderen Geſchöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem geringſten Geräuſch, obwohl man nicht eben behaupten darf, daß es die Furcht iſt, welche ſie in die Flucht ſchreckt; denn im Nothfalle kämpfen ſie muthig und tapfer und mit einer gewiſſen Raufluſt, welche ihnen ſehr gut anſteht.
Die ſaftigſten Gebirgspflanzen aller Art bilden ihre Nahrung. Sie ſind ſehr lecker und ſuchen ſich nur die beſten Biſſen heraus, verſtehen es auch vortrefflich, immer Orte auszuwählen, welche ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb von einer Gegend in die andere, oft durch viele Meilen weit. Alle Arten ſind große Freunde vom Salz und ſuchen deshalb Stellen, wo dieſe Leckerei ſich findet, gierig auf. Waſſer iſt für ſie ein Bedürfniß, daher meiden ſie Gegenden, in denen es weder Quellen, noch Bäche gibt. Jhre höheren Sinne ſcheinen ziemlich gleich entwickelt zu ſein. Sie äugen, vernehmen und wittern ſehr ſcharf, manche Arten wirklich auf unglaubliche Entfernungen hin. Das Geſicht iſt wahrſcheinlich noch ihr ſtumpfſter Sinn. Jhre geiſtigen Fähig- keiten ſtehen, wie ſchon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß ſie als kluge, geweckte Thiere bezeichnen. Das Gedächtniß iſt zwar nicht beſonders; aber Erfahrung witzigt ſie doch bald in hohem Grade, und dann wiſſen ſie mit vieler Schlauheit und Liſt drohenden Gefahren zu begegnen. Manche Arten muß man launenhaft nennen, und andere ſind wirklich boshaft und tückiſch.
Die Zahl ihrer Jungen ſchwankt zwiſchen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten werfen höchſtens zwei, die gezähmten nur in ſehr ſeltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit offenen Augen zur Welt und ſind ſchon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen. Die wildlebenden Arten laufen ſchon am erſten Tage ihres Lebens ebenſo kühn und ſicher auf den Ge- birgen umher, wie ihre Eltern.
Man darf wohl ſagen, daß alle Ziegen nützliche Thiere ſind. Der Schaden, welchen ſie an- richten, iſt ſo gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen ſehr bedeutend, nament- lich in ſolchen Gegenden, wo man die Ziegen gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren Schätze ſonſt ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens unſeres Erdtheils ſind förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an ſolchen Wänden das Gras abweiden, wo keines Menſchen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden wie von den zahmen Arten kann man faſt Alles benutzen, Fleiſch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen ſind nicht blos der Armen liebſter Freund, ſondern im Süden auch die beinahe ausſchließlichen Milcherzeuger.
Noch gegenwärtig herrſcht großer Streit unter den Naturforſchern, wie viele Arten die bisjetzt bekannten Ziegen bilden. Die Unterſcheidung dieſer Thiere iſt außerordentlich ſchwer, weil die Arten ſich ſehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens große Hinderniſſe entgegentreten. Soviel ſcheint feſtzuſtehen, daß der Verbreitungskreis der Einzelnen ein verhältnißmäßig ſehr beſchränkter iſt, und daß ſomit jedes größere Gebirge, welches Mitglieder unſerer Familie beherbergt, auch ſeine eigenen Arten beſitzt. Dieſe Arten laſſen ſich in drei verſchiedene Sippen ordnen, in die der Steinböcke, Ziegen und Halbziegen. Noch können wir nicht ſagen, in wieweit ſich das Leben der einzelnen Arten unterſcheidet; denn bisjetzt ſind wir blos im Stande, das Treiben von einzelnen in allgemei- nen Umriſſen zu zeichnen: ſchwebt doch ſelbſt über der Herkunft und dem Freileben unſerer Hausziege noch ein unerklärliches Dunkel!
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Die Ziegen.
chen leben einſiedleriſch; ſonſt halten ſie ſich ſtets mit anderen ihrer Art treu zuſammen. Sie ſind
thätig bei Tag und bei Nacht, obgleich ſie dem Tage den Vorzug geben. Jhre Eigenſchaften offen-
baren ſich bei jeder Gelegenheit. Sie ſind überaus geſchickt im Klettern und Springen und bekunden
dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Entſchiedenheit, welche ihnen alle Ehre machen. Sichern
Tritts überſchreiten ſie die gefährlichſten Stellen im Gebirge; ſchwindelfrei ſtehen ſie auf den ſchmal-
ſten Kanten, und gleichgiltig ſchauen ſie in die furchtbarſten Abgründe hinab; ja, ſie äßen ſich noch
auf den bedenklichſten Stellen mit einer Tollkühnheit ohne Gleichen. Dabei beſitzen ſie eine verhält-
nißmäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer. Somit ſind ſie ganz geeignet, ein armes
Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erwor-
ben werden muß. Neckiſch und ſpielluſtig unter ſich, zeigen ſie ſich vorſichtig und ſcheu anderen
Geſchöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem geringſten Geräuſch, obwohl man nicht eben
behaupten darf, daß es die Furcht iſt, welche ſie in die Flucht ſchreckt; denn im Nothfalle kämpfen
ſie muthig und tapfer und mit einer gewiſſen Raufluſt, welche ihnen ſehr gut anſteht.
Die ſaftigſten Gebirgspflanzen aller Art bilden ihre Nahrung. Sie ſind ſehr lecker und ſuchen
ſich nur die beſten Biſſen heraus, verſtehen es auch vortrefflich, immer Orte auszuwählen, welche
ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb von einer Gegend in die andere, oft durch viele
Meilen weit. Alle Arten ſind große Freunde vom Salz und ſuchen deshalb Stellen, wo dieſe
Leckerei ſich findet, gierig auf. Waſſer iſt für ſie ein Bedürfniß, daher meiden ſie Gegenden,
in denen es weder Quellen, noch Bäche gibt. Jhre höheren Sinne ſcheinen ziemlich gleich entwickelt
zu ſein. Sie äugen, vernehmen und wittern ſehr ſcharf, manche Arten wirklich auf unglaubliche
Entfernungen hin. Das Geſicht iſt wahrſcheinlich noch ihr ſtumpfſter Sinn. Jhre geiſtigen Fähig-
keiten ſtehen, wie ſchon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß ſie als kluge, geweckte
Thiere bezeichnen. Das Gedächtniß iſt zwar nicht beſonders; aber Erfahrung witzigt ſie doch bald in
hohem Grade, und dann wiſſen ſie mit vieler Schlauheit und Liſt drohenden Gefahren zu begegnen.
Manche Arten muß man launenhaft nennen, und andere ſind wirklich boshaft und tückiſch.
Die Zahl ihrer Jungen ſchwankt zwiſchen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten werfen höchſtens
zwei, die gezähmten nur in ſehr ſeltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit
offenen Augen zur Welt und ſind ſchon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen.
Die wildlebenden Arten laufen ſchon am erſten Tage ihres Lebens ebenſo kühn und ſicher auf den Ge-
birgen umher, wie ihre Eltern.
Man darf wohl ſagen, daß alle Ziegen nützliche Thiere ſind. Der Schaden, welchen ſie an-
richten, iſt ſo gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen ſehr bedeutend, nament-
lich in ſolchen Gegenden, wo man die Ziegen gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren
Schätze ſonſt ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens unſeres Erdtheils ſind
förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an ſolchen Wänden das Gras abweiden, wo keines
Menſchen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden wie von den zahmen Arten kann man faſt
Alles benutzen, Fleiſch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen ſind nicht blos der
Armen liebſter Freund, ſondern im Süden auch die beinahe ausſchließlichen Milcherzeuger.
Noch gegenwärtig herrſcht großer Streit unter den Naturforſchern, wie viele Arten die bisjetzt
bekannten Ziegen bilden. Die Unterſcheidung dieſer Thiere iſt außerordentlich ſchwer, weil die Arten
ſich ſehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens große Hinderniſſe entgegentreten. Soviel ſcheint
feſtzuſtehen, daß der Verbreitungskreis der Einzelnen ein verhältnißmäßig ſehr beſchränkter iſt, und
daß ſomit jedes größere Gebirge, welches Mitglieder unſerer Familie beherbergt, auch ſeine eigenen
Arten beſitzt. Dieſe Arten laſſen ſich in drei verſchiedene Sippen ordnen, in die der Steinböcke,
Ziegen und Halbziegen. Noch können wir nicht ſagen, in wieweit ſich das Leben der einzelnen
Arten unterſcheidet; denn bisjetzt ſind wir blos im Stande, das Treiben von einzelnen in allgemei-
nen Umriſſen zu zeichnen: ſchwebt doch ſelbſt über der Herkunft und dem Freileben unſerer Hausziege
noch ein unerklärliches Dunkel!
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/596>, abgerufen am 26.06.2024.
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