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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Der Goral. Die Gemse.

Ueber die Fortpflanzung wissen wir noch Richts; wohl aber ist es bekannt, daß jung einge-
fangene Thiere, welche man durch Ziegen groß ziehen läßt, sehr leicht zahm werden, während ältere
Gefangene auch bei der sorgfältigsten Behandlung immer scheu und wild bleiben. Dabei sind sie
schwer zu halten, weil sie, wie die Steinböcke, an den Wänden emporklettern und regelmäßig zu ent-
fliehen wissen, wenn man nicht besondere Vorkehrungen trifft.

Ein Goral, welcher sich im Besitz eines englischen Statthalters befand und auf einem vier-
eckigen Platze gehalten wurde, versuchte mehrmals, die etwa zehn Fuß hohe Umzäunung zu über-
springen und erreichte auch bei jedem Satze fast die erwünschte Höhe. Nach Europa ist bisjetzt noch
kein lebender Goral gekommen, und selbst die Bälge dieser Thiere gehören noch zu großen Selten-
heiten in den Museen.



An diese fremden Antilopen können wir unsere deutsche anschließen, das liebliche, vielfach
verfolgte Kind unserer Gebirge, die Gemse. Sie gilt als der Vertreter einer eigenen Sippe (Ca-
pella
), deren Hauptkennzeichen in den gerade nach aufwärts gerichteten, gegen das Ende hakenförmig
nach rückwärts gekrümmten Hörnern liegen. Weichengruben und Klauendrüsen fehlen.

Die Gemse (Capella rupicapra) ist der Ziege sehr ähnlich, unterscheidet sich aber durch den
kurzen, gedrungenen Körperbau, die längeren und stärkeren Läufe, den gestreckten Hals, die spitzen,
nach vorwärts gerichteten Lauscher und durch ihr Gehörn. Die Länge beträgt 3 Fuß 8 bis 10 Zoll,
die Schwanzlänge 3 Zoll, die Höhe am Widerrist 2 Fuß 4 Zoll und die am Kreuze noch etwas
mehr. Die Hörner sind 10 bis 11 Zoll lang. Sehr schwere Böcke wiegen 80 bis 100 Pfund;
durchschnittlich aber erreichen sie nur selten ein Gewicht von 60 Pfund. Bei den Böcken stehen die
Hörner weiter aus einander und sind auch größer, als bei der Geis; im übrigen sind beide Ge-
schlechter fast gleich. Je nach der Jahreszeit tragen die Gemsen ein verschiedenes Kleid. Jm Som-
mer ist die allgemeine Färbung ein schmuziges Rothbraun oder Rostroth, welches auf der Unterseite
ins Hellrothgelbe übergeht. Längs der Mittellinie des Rückens verläuft ein schwarzbrauner Strei-
sen; die Kehle ist fahlgelb, der Nacken weißgelblich. An den Schultern, auf den Schenkeln und der
Brust und in den Weichen geht die allgemeine Färbung in das Dunkelbraungrau über; die Hin-
terseite der Schenkel ist weiß, der Schwanz auf der Oberseite und an der Wurzel rothgrau, auf der
Unterseite und der Spitze schwarz. Von den Ohren an über die Augen hin läuft eine nach vorn ge-
theilte, schmale, schwärzliche Längsbinde, welche scharf von der fahlen Färbung absticht. Ueber den
vorderen Augenwinkel, zwischen den Nasenlöchern und der Oberlippe stehen rothgelbe Flecken.
Während des Winters ist die Gemse oben dunkelbraun oder glänzend braunschwarz, am Bauche weiß;
die Beine sind unten heller, als oben, und ziehen mehr ins Rothfarbene; die Füße und der Kopf
sind gelblichweiß, auf dem Scheitel und der Schnauze etwas dunkler. Die Längsbinde von der
Schnauzenspitze zu den Ohren ist dunkelschwarzbraun. Beide Kleider gehen so allmählich in einander
über, daß das reine Sommer- und Winterkleid immer nur sehr kurze Zeit getragen werden. Junge
Thiere sind rothbraun und heller um die Augen gefärbt. -- Die Jäger unterscheiden hauptsächlich
zwei verschiedene Abarten, die große dunkelbraune, welche sie "Waldthier" nennen, und eine kleine
rothbraune, die sie mit dem Namen "Gratthier" bezeichnen; ein Forscher kann diese Unterscheidungen
jedoch nicht gelten lassen.

Unsere Alpen sind die eigentliche Heimat der Gemse. Von Savoyen aus reicht sie westwärts
bis nach dem Süden Frankreichs und nach Süden hin bis in die Abruzzen, nach Südost über die
Gebirge Dalmatiens hinweg bis nach Griechenland, wo sie auf den Klippen des Veluzi getroffen
wird, nordwärts begrenzen die Karpathen, namentlich die hohen Gipfel der Tatra, ihren Aufent-
halt. Ob die Gemse, welche die Pyrenäen und einen Theil der von da aus in das eigentliche Spa-
nien streifenden Gebirgszüge bewohnt, von der der Alpen verschieden ist oder nicht, steht dahin. Jn
ihrer eigentlichen Heimat ist sie häufig, nur in Unterösterreich nicht, wo sie durch die sortwährende

Der Goral. Die Gemſe.

Ueber die Fortpflanzung wiſſen wir noch Richts; wohl aber iſt es bekannt, daß jung einge-
fangene Thiere, welche man durch Ziegen groß ziehen läßt, ſehr leicht zahm werden, während ältere
Gefangene auch bei der ſorgfältigſten Behandlung immer ſcheu und wild bleiben. Dabei ſind ſie
ſchwer zu halten, weil ſie, wie die Steinböcke, an den Wänden emporklettern und regelmäßig zu ent-
fliehen wiſſen, wenn man nicht beſondere Vorkehrungen trifft.

Ein Goral, welcher ſich im Beſitz eines engliſchen Statthalters befand und auf einem vier-
eckigen Platze gehalten wurde, verſuchte mehrmals, die etwa zehn Fuß hohe Umzäunung zu über-
ſpringen und erreichte auch bei jedem Satze faſt die erwünſchte Höhe. Nach Europa iſt bisjetzt noch
kein lebender Goral gekommen, und ſelbſt die Bälge dieſer Thiere gehören noch zu großen Selten-
heiten in den Muſeen.



An dieſe fremden Antilopen können wir unſere deutſche anſchließen, das liebliche, vielfach
verfolgte Kind unſerer Gebirge, die Gemſe. Sie gilt als der Vertreter einer eigenen Sippe (Ca-
pella
), deren Hauptkennzeichen in den gerade nach aufwärts gerichteten, gegen das Ende hakenförmig
nach rückwärts gekrümmten Hörnern liegen. Weichengruben und Klauendrüſen fehlen.

Die Gemſe (Capella rupicapra) iſt der Ziege ſehr ähnlich, unterſcheidet ſich aber durch den
kurzen, gedrungenen Körperbau, die längeren und ſtärkeren Läufe, den geſtreckten Hals, die ſpitzen,
nach vorwärts gerichteten Lauſcher und durch ihr Gehörn. Die Länge beträgt 3 Fuß 8 bis 10 Zoll,
die Schwanzlänge 3 Zoll, die Höhe am Widerriſt 2 Fuß 4 Zoll und die am Kreuze noch etwas
mehr. Die Hörner ſind 10 bis 11 Zoll lang. Sehr ſchwere Böcke wiegen 80 bis 100 Pfund;
durchſchnittlich aber erreichen ſie nur ſelten ein Gewicht von 60 Pfund. Bei den Böcken ſtehen die
Hörner weiter aus einander und ſind auch größer, als bei der Geis; im übrigen ſind beide Ge-
ſchlechter faſt gleich. Je nach der Jahreszeit tragen die Gemſen ein verſchiedenes Kleid. Jm Som-
mer iſt die allgemeine Färbung ein ſchmuziges Rothbraun oder Roſtroth, welches auf der Unterſeite
ins Hellrothgelbe übergeht. Längs der Mittellinie des Rückens verläuft ein ſchwarzbrauner Strei-
ſen; die Kehle iſt fahlgelb, der Nacken weißgelblich. An den Schultern, auf den Schenkeln und der
Bruſt und in den Weichen geht die allgemeine Färbung in das Dunkelbraungrau über; die Hin-
terſeite der Schenkel iſt weiß, der Schwanz auf der Oberſeite und an der Wurzel rothgrau, auf der
Unterſeite und der Spitze ſchwarz. Von den Ohren an über die Augen hin läuft eine nach vorn ge-
theilte, ſchmale, ſchwärzliche Längsbinde, welche ſcharf von der fahlen Färbung abſticht. Ueber den
vorderen Augenwinkel, zwiſchen den Naſenlöchern und der Oberlippe ſtehen rothgelbe Flecken.
Während des Winters iſt die Gemſe oben dunkelbraun oder glänzend braunſchwarz, am Bauche weiß;
die Beine ſind unten heller, als oben, und ziehen mehr ins Rothfarbene; die Füße und der Kopf
ſind gelblichweiß, auf dem Scheitel und der Schnauze etwas dunkler. Die Längsbinde von der
Schnauzenſpitze zu den Ohren iſt dunkelſchwarzbraun. Beide Kleider gehen ſo allmählich in einander
über, daß das reine Sommer- und Winterkleid immer nur ſehr kurze Zeit getragen werden. Junge
Thiere ſind rothbraun und heller um die Augen gefärbt. — Die Jäger unterſcheiden hauptſächlich
zwei verſchiedene Abarten, die große dunkelbraune, welche ſie „Waldthier‟ nennen, und eine kleine
rothbraune, die ſie mit dem Namen „Gratthier‟ bezeichnen; ein Forſcher kann dieſe Unterſcheidungen
jedoch nicht gelten laſſen.

Unſere Alpen ſind die eigentliche Heimat der Gemſe. Von Savoyen aus reicht ſie weſtwärts
bis nach dem Süden Frankreichs und nach Süden hin bis in die Abruzzen, nach Südoſt über die
Gebirge Dalmatiens hinweg bis nach Griechenland, wo ſie auf den Klippen des Veluzi getroffen
wird, nordwärts begrenzen die Karpathen, namentlich die hohen Gipfel der Tatra, ihren Aufent-
halt. Ob die Gemſe, welche die Pyrenäen und einen Theil der von da aus in das eigentliche Spa-
nien ſtreifenden Gebirgszüge bewohnt, von der der Alpen verſchieden iſt oder nicht, ſteht dahin. Jn
ihrer eigentlichen Heimat iſt ſie häufig, nur in Unteröſterreich nicht, wo ſie durch die ſortwährende

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[527/0557] Der Goral. Die Gemſe. Ueber die Fortpflanzung wiſſen wir noch Richts; wohl aber iſt es bekannt, daß jung einge- fangene Thiere, welche man durch Ziegen groß ziehen läßt, ſehr leicht zahm werden, während ältere Gefangene auch bei der ſorgfältigſten Behandlung immer ſcheu und wild bleiben. Dabei ſind ſie ſchwer zu halten, weil ſie, wie die Steinböcke, an den Wänden emporklettern und regelmäßig zu ent- fliehen wiſſen, wenn man nicht beſondere Vorkehrungen trifft. Ein Goral, welcher ſich im Beſitz eines engliſchen Statthalters befand und auf einem vier- eckigen Platze gehalten wurde, verſuchte mehrmals, die etwa zehn Fuß hohe Umzäunung zu über- ſpringen und erreichte auch bei jedem Satze faſt die erwünſchte Höhe. Nach Europa iſt bisjetzt noch kein lebender Goral gekommen, und ſelbſt die Bälge dieſer Thiere gehören noch zu großen Selten- heiten in den Muſeen. An dieſe fremden Antilopen können wir unſere deutſche anſchließen, das liebliche, vielfach verfolgte Kind unſerer Gebirge, die Gemſe. Sie gilt als der Vertreter einer eigenen Sippe (Ca- pella), deren Hauptkennzeichen in den gerade nach aufwärts gerichteten, gegen das Ende hakenförmig nach rückwärts gekrümmten Hörnern liegen. Weichengruben und Klauendrüſen fehlen. Die Gemſe (Capella rupicapra) iſt der Ziege ſehr ähnlich, unterſcheidet ſich aber durch den kurzen, gedrungenen Körperbau, die längeren und ſtärkeren Läufe, den geſtreckten Hals, die ſpitzen, nach vorwärts gerichteten Lauſcher und durch ihr Gehörn. Die Länge beträgt 3 Fuß 8 bis 10 Zoll, die Schwanzlänge 3 Zoll, die Höhe am Widerriſt 2 Fuß 4 Zoll und die am Kreuze noch etwas mehr. Die Hörner ſind 10 bis 11 Zoll lang. Sehr ſchwere Böcke wiegen 80 bis 100 Pfund; durchſchnittlich aber erreichen ſie nur ſelten ein Gewicht von 60 Pfund. Bei den Böcken ſtehen die Hörner weiter aus einander und ſind auch größer, als bei der Geis; im übrigen ſind beide Ge- ſchlechter faſt gleich. Je nach der Jahreszeit tragen die Gemſen ein verſchiedenes Kleid. Jm Som- mer iſt die allgemeine Färbung ein ſchmuziges Rothbraun oder Roſtroth, welches auf der Unterſeite ins Hellrothgelbe übergeht. Längs der Mittellinie des Rückens verläuft ein ſchwarzbrauner Strei- ſen; die Kehle iſt fahlgelb, der Nacken weißgelblich. An den Schultern, auf den Schenkeln und der Bruſt und in den Weichen geht die allgemeine Färbung in das Dunkelbraungrau über; die Hin- terſeite der Schenkel iſt weiß, der Schwanz auf der Oberſeite und an der Wurzel rothgrau, auf der Unterſeite und der Spitze ſchwarz. Von den Ohren an über die Augen hin läuft eine nach vorn ge- theilte, ſchmale, ſchwärzliche Längsbinde, welche ſcharf von der fahlen Färbung abſticht. Ueber den vorderen Augenwinkel, zwiſchen den Naſenlöchern und der Oberlippe ſtehen rothgelbe Flecken. Während des Winters iſt die Gemſe oben dunkelbraun oder glänzend braunſchwarz, am Bauche weiß; die Beine ſind unten heller, als oben, und ziehen mehr ins Rothfarbene; die Füße und der Kopf ſind gelblichweiß, auf dem Scheitel und der Schnauze etwas dunkler. Die Längsbinde von der Schnauzenſpitze zu den Ohren iſt dunkelſchwarzbraun. Beide Kleider gehen ſo allmählich in einander über, daß das reine Sommer- und Winterkleid immer nur ſehr kurze Zeit getragen werden. Junge Thiere ſind rothbraun und heller um die Augen gefärbt. — Die Jäger unterſcheiden hauptſächlich zwei verſchiedene Abarten, die große dunkelbraune, welche ſie „Waldthier‟ nennen, und eine kleine rothbraune, die ſie mit dem Namen „Gratthier‟ bezeichnen; ein Forſcher kann dieſe Unterſcheidungen jedoch nicht gelten laſſen. Unſere Alpen ſind die eigentliche Heimat der Gemſe. Von Savoyen aus reicht ſie weſtwärts bis nach dem Süden Frankreichs und nach Süden hin bis in die Abruzzen, nach Südoſt über die Gebirge Dalmatiens hinweg bis nach Griechenland, wo ſie auf den Klippen des Veluzi getroffen wird, nordwärts begrenzen die Karpathen, namentlich die hohen Gipfel der Tatra, ihren Aufent- halt. Ob die Gemſe, welche die Pyrenäen und einen Theil der von da aus in das eigentliche Spa- nien ſtreifenden Gebirgszüge bewohnt, von der der Alpen verſchieden iſt oder nicht, ſteht dahin. Jn ihrer eigentlichen Heimat iſt ſie häufig, nur in Unteröſterreich nicht, wo ſie durch die ſortwährende

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/557>, abgerufen am 23.11.2024.