Die eigentliche Hirschziegenantilope. Die Steppenantilope.
Jn Jndien sind Tiger und Panther schlimme Feinde der Hirschziegenantilope, trotz ihrer Wach- samkeit; sie wissen sich durch listiges Schleichen einer oder der anderen zu bemächtigen. Die Jn- dier stellen ihr ebenfalls eifrig nach und fangen sie auf sonderbare Weise lebendig. Hierzu bedient man sich eines zahmen Männchens, welches man, nachdem man ihm einen mit mehreren Schlingen versehenen Strick um die Hörner gebunden hat, unter die wilde Herde laufen läßt. Sobald der fremde Bock dort anlangt, entspinnt sich zwischen ihm und dem Leitbock des Rudels ein Kampf, an dem bald auch Ricken Theil nehmen, und hierbei verwickeln sich gewöhnlich mehrere Stücke in den Schlingen des Strickes, reißen und zerren nach allen Richtungen hin, stürzen zu Boden und werden nun vollständig wehrlos.
Jung eingefangene Sassis werden außerordentlich zahm. Sie halten die Gefangenschaft jahre- lang aus, selbst in Europa, vertragen sich vortrefflich mit ihres Gleichen und anderen hirschähn- lichen Thieren und erfreuen durch ihre Zuthunlichkeit und Anhänglichkeit. Doch muß man sich hüten, sie zu necken oder zu foppen. Sind sie z. B. gewöhnt, Brod aus der Hand zu fressen, so richten sie sich, wenn man ihnen diese Lieblingsspeise hoch hält, wie die zahmen Hirsche auf die Hinterbeine auf, um dieselbe zu erlangen; täuscht man sie auch dann noch, so werden sie böse, beginnen zu zittern und suchen ihren Unmuth durch Stoßen mit den Hörnern an den Tag zu legen. Am besten halten sie sich, wenn man ihnen freien Spielraum gibt. Jn größeren Parks gewähren sie wegen ihrer außerordentlichen Anmuth und Zierlichkeit ein prächtiges Schauspiel. Sie werden dort auch viel zahmer, als in den Käfigen, wo namentlich die Männchen manchmal ihren Wärter anfallen und nach ihm stoßen. Jn Jndien wird der Sassi als ein heiliges Thier oft zahm gehalten. Frauen werden mit der Pflege des Halbgottes betraut. Sie tränken ihn mit Milch; Musiker spielen ihm Tonstücke vor. Nur die Braminen dürfen sein Fleisch genießen. Aus seinen Hörnern bereiten sich die Geistlichen und Heiligen der Hindus eigenthümliche Waffen. Sie befestigen dieselben unten durch eiserne oder filberne Querzapfen, so daß die Spitzen nach beiden Seiten von einander abstehen. Diese Waffe trägt man wie einen Stock und gebraucht sie wie einen Wurfspieß.
Bezoarkugeln, welche man im Magen dieser Antilope und in dem vieler anderen Wiederkäuer findet, gelten als besonders heilkräftige Arzneimittel und finden vielfache Anwendung.
Zu derselben Gruppe rechnet man die Steppenantilope (Cervicapra Saiga), eine der wenigen Arten, welche Europa bewohnen. Sie ist ein Thier von der Größe des Damhirsches mit weit über den Unterkiefer hinausragender und sehr beweglicher Nase, kurzen und breiten Ohren und kurzer Schnauze. Das dichte, gerade, welche, an dem Nacken, Rücken und der Kehle etwas verlängerte Haar ist am Kopf und Hals aschgrau, auf Schulter, Rücken, Seite und Hüfte schmuzigweiß oder gelbgrau, am Bauche und an der Jnnenseite der Beine glänzendweiß, auf der Rückenmitte aber dunkelbraun.
Die Saiga sindet sich in den Steppen Osteuropas von der polnischen Grenze an bis zum Altai, lebt gesellig, sammelt sich gegen den Herbst in Herden von mehreren tausend Stück, wandert nach wärmeren Steppen und kehrt von dort aus im Frühjahr rudelweise zurück. Jm Oktober treten die Böcke auf die Brunst und kämpfen unter lautem Geschrei eifersüchtig um die Ricken. Jm Mai setzt das alte Thier ein einziges Kalb, welches der Mutter nicht gleich folgen kann und deshalb oft von den Nomaden weggenommen wird. Schon im ersten Monate treiben bei den Böcken die Hörner hervor, im vierten haben sie, wie die Schmalthiere, bereits ihre halbe Größe.
Die Steppenantilopen sind, wie die meisten Wiederkäuer, außerordentlich begierig auf Salz und gehen demselben stundenweit nach. Beim Weiden pflegen sie rückwärts zu gehen, und beim Saufen ziehen sie, wie schon Strabo wußte, das Wasser nicht blos durch das Maul, sondern auch durch die Nase ein. An der Wolga, in der irtischen und tartarischen Steppe sind sie so häufig, daß man ihnen alle Tage begegnet. Manchmal kommen sie bis an die Wagen der Reisenden heran. Während sie sich äßen oder wenn sie ruhen, hält immer ein Leitthier sorgfältig Wacht, und wenn
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Die eigentliche Hirſchziegenantilope. Die Steppenantilope.
Jn Jndien ſind Tiger und Panther ſchlimme Feinde der Hirſchziegenantilope, trotz ihrer Wach- ſamkeit; ſie wiſſen ſich durch liſtiges Schleichen einer oder der anderen zu bemächtigen. Die Jn- dier ſtellen ihr ebenfalls eifrig nach und fangen ſie auf ſonderbare Weiſe lebendig. Hierzu bedient man ſich eines zahmen Männchens, welches man, nachdem man ihm einen mit mehreren Schlingen verſehenen Strick um die Hörner gebunden hat, unter die wilde Herde laufen läßt. Sobald der fremde Bock dort anlangt, entſpinnt ſich zwiſchen ihm und dem Leitbock des Rudels ein Kampf, an dem bald auch Ricken Theil nehmen, und hierbei verwickeln ſich gewöhnlich mehrere Stücke in den Schlingen des Strickes, reißen und zerren nach allen Richtungen hin, ſtürzen zu Boden und werden nun vollſtändig wehrlos.
Jung eingefangene Saſſis werden außerordentlich zahm. Sie halten die Gefangenſchaft jahre- lang aus, ſelbſt in Europa, vertragen ſich vortrefflich mit ihres Gleichen und anderen hirſchähn- lichen Thieren und erfreuen durch ihre Zuthunlichkeit und Anhänglichkeit. Doch muß man ſich hüten, ſie zu necken oder zu foppen. Sind ſie z. B. gewöhnt, Brod aus der Hand zu freſſen, ſo richten ſie ſich, wenn man ihnen dieſe Lieblingsſpeiſe hoch hält, wie die zahmen Hirſche auf die Hinterbeine auf, um dieſelbe zu erlangen; täuſcht man ſie auch dann noch, ſo werden ſie böſe, beginnen zu zittern und ſuchen ihren Unmuth durch Stoßen mit den Hörnern an den Tag zu legen. Am beſten halten ſie ſich, wenn man ihnen freien Spielraum gibt. Jn größeren Parks gewähren ſie wegen ihrer außerordentlichen Anmuth und Zierlichkeit ein prächtiges Schauſpiel. Sie werden dort auch viel zahmer, als in den Käfigen, wo namentlich die Männchen manchmal ihren Wärter anfallen und nach ihm ſtoßen. Jn Jndien wird der Saſſi als ein heiliges Thier oft zahm gehalten. Frauen werden mit der Pflege des Halbgottes betraut. Sie tränken ihn mit Milch; Muſiker ſpielen ihm Tonſtücke vor. Nur die Braminen dürfen ſein Fleiſch genießen. Aus ſeinen Hörnern bereiten ſich die Geiſtlichen und Heiligen der Hindus eigenthümliche Waffen. Sie befeſtigen dieſelben unten durch eiſerne oder filberne Querzapfen, ſo daß die Spitzen nach beiden Seiten von einander abſtehen. Dieſe Waffe trägt man wie einen Stock und gebraucht ſie wie einen Wurfſpieß.
Bezoarkugeln, welche man im Magen dieſer Antilope und in dem vieler anderen Wiederkäuer findet, gelten als beſonders heilkräftige Arzneimittel und finden vielfache Anwendung.
Zu derſelben Gruppe rechnet man die Steppenantilope (Cervicapra Saiga), eine der wenigen Arten, welche Europa bewohnen. Sie iſt ein Thier von der Größe des Damhirſches mit weit über den Unterkiefer hinausragender und ſehr beweglicher Naſe, kurzen und breiten Ohren und kurzer Schnauze. Das dichte, gerade, welche, an dem Nacken, Rücken und der Kehle etwas verlängerte Haar iſt am Kopf und Hals aſchgrau, auf Schulter, Rücken, Seite und Hüfte ſchmuzigweiß oder gelbgrau, am Bauche und an der Jnnenſeite der Beine glänzendweiß, auf der Rückenmitte aber dunkelbraun.
Die Saiga ſindet ſich in den Steppen Oſteuropas von der polniſchen Grenze an bis zum Altai, lebt geſellig, ſammelt ſich gegen den Herbſt in Herden von mehreren tauſend Stück, wandert nach wärmeren Steppen und kehrt von dort aus im Frühjahr rudelweiſe zurück. Jm Oktober treten die Böcke auf die Brunſt und kämpfen unter lautem Geſchrei eiferſüchtig um die Ricken. Jm Mai ſetzt das alte Thier ein einziges Kalb, welches der Mutter nicht gleich folgen kann und deshalb oft von den Nomaden weggenommen wird. Schon im erſten Monate treiben bei den Böcken die Hörner hervor, im vierten haben ſie, wie die Schmalthiere, bereits ihre halbe Größe.
Die Steppenantilopen ſind, wie die meiſten Wiederkäuer, außerordentlich begierig auf Salz und gehen demſelben ſtundenweit nach. Beim Weiden pflegen ſie rückwärts zu gehen, und beim Saufen ziehen ſie, wie ſchon Strabo wußte, das Waſſer nicht blos durch das Maul, ſondern auch durch die Naſe ein. An der Wolga, in der irtiſchen und tartariſchen Steppe ſind ſie ſo häufig, daß man ihnen alle Tage begegnet. Manchmal kommen ſie bis an die Wagen der Reiſenden heran. Während ſie ſich äßen oder wenn ſie ruhen, hält immer ein Leitthier ſorgfältig Wacht, und wenn
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Die eigentliche Hirſchziegenantilope. Die Steppenantilope.
Jn Jndien ſind Tiger und Panther ſchlimme Feinde der Hirſchziegenantilope, trotz ihrer Wach-
ſamkeit; ſie wiſſen ſich durch liſtiges Schleichen einer oder der anderen zu bemächtigen. Die Jn-
dier ſtellen ihr ebenfalls eifrig nach und fangen ſie auf ſonderbare Weiſe lebendig. Hierzu bedient
man ſich eines zahmen Männchens, welches man, nachdem man ihm einen mit mehreren Schlingen
verſehenen Strick um die Hörner gebunden hat, unter die wilde Herde laufen läßt. Sobald der
fremde Bock dort anlangt, entſpinnt ſich zwiſchen ihm und dem Leitbock des Rudels ein Kampf, an
dem bald auch Ricken Theil nehmen, und hierbei verwickeln ſich gewöhnlich mehrere Stücke in den
Schlingen des Strickes, reißen und zerren nach allen Richtungen hin, ſtürzen zu Boden und werden
nun vollſtändig wehrlos.
Jung eingefangene Saſſis werden außerordentlich zahm. Sie halten die Gefangenſchaft jahre-
lang aus, ſelbſt in Europa, vertragen ſich vortrefflich mit ihres Gleichen und anderen hirſchähn-
lichen Thieren und erfreuen durch ihre Zuthunlichkeit und Anhänglichkeit. Doch muß man ſich
hüten, ſie zu necken oder zu foppen. Sind ſie z. B. gewöhnt, Brod aus der Hand zu freſſen, ſo
richten ſie ſich, wenn man ihnen dieſe Lieblingsſpeiſe hoch hält, wie die zahmen Hirſche auf die
Hinterbeine auf, um dieſelbe zu erlangen; täuſcht man ſie auch dann noch, ſo werden ſie böſe,
beginnen zu zittern und ſuchen ihren Unmuth durch Stoßen mit den Hörnern an den Tag zu legen.
Am beſten halten ſie ſich, wenn man ihnen freien Spielraum gibt. Jn größeren Parks gewähren ſie
wegen ihrer außerordentlichen Anmuth und Zierlichkeit ein prächtiges Schauſpiel. Sie werden dort
auch viel zahmer, als in den Käfigen, wo namentlich die Männchen manchmal ihren Wärter anfallen
und nach ihm ſtoßen. Jn Jndien wird der Saſſi als ein heiliges Thier oft zahm gehalten. Frauen
werden mit der Pflege des Halbgottes betraut. Sie tränken ihn mit Milch; Muſiker ſpielen ihm
Tonſtücke vor. Nur die Braminen dürfen ſein Fleiſch genießen. Aus ſeinen Hörnern bereiten
ſich die Geiſtlichen und Heiligen der Hindus eigenthümliche Waffen. Sie befeſtigen dieſelben
unten durch eiſerne oder filberne Querzapfen, ſo daß die Spitzen nach beiden Seiten von einander
abſtehen. Dieſe Waffe trägt man wie einen Stock und gebraucht ſie wie einen Wurfſpieß.
Bezoarkugeln, welche man im Magen dieſer Antilope und in dem vieler anderen Wiederkäuer
findet, gelten als beſonders heilkräftige Arzneimittel und finden vielfache Anwendung.
Zu derſelben Gruppe rechnet man die Steppenantilope (Cervicapra Saiga), eine der wenigen
Arten, welche Europa bewohnen. Sie iſt ein Thier von der Größe des Damhirſches mit weit über
den Unterkiefer hinausragender und ſehr beweglicher Naſe, kurzen und breiten Ohren und kurzer
Schnauze. Das dichte, gerade, welche, an dem Nacken, Rücken und der Kehle etwas verlängerte
Haar iſt am Kopf und Hals aſchgrau, auf Schulter, Rücken, Seite und Hüfte ſchmuzigweiß oder
gelbgrau, am Bauche und an der Jnnenſeite der Beine glänzendweiß, auf der Rückenmitte aber
dunkelbraun.
Die Saiga ſindet ſich in den Steppen Oſteuropas von der polniſchen Grenze an bis zum Altai,
lebt geſellig, ſammelt ſich gegen den Herbſt in Herden von mehreren tauſend Stück, wandert nach
wärmeren Steppen und kehrt von dort aus im Frühjahr rudelweiſe zurück. Jm Oktober treten die
Böcke auf die Brunſt und kämpfen unter lautem Geſchrei eiferſüchtig um die Ricken. Jm Mai
ſetzt das alte Thier ein einziges Kalb, welches der Mutter nicht gleich folgen kann und deshalb oft
von den Nomaden weggenommen wird. Schon im erſten Monate treiben bei den Böcken die Hörner
hervor, im vierten haben ſie, wie die Schmalthiere, bereits ihre halbe Größe.
Die Steppenantilopen ſind, wie die meiſten Wiederkäuer, außerordentlich begierig auf Salz
und gehen demſelben ſtundenweit nach. Beim Weiden pflegen ſie rückwärts zu gehen, und beim
Saufen ziehen ſie, wie ſchon Strabo wußte, das Waſſer nicht blos durch das Maul, ſondern auch
durch die Naſe ein. An der Wolga, in der irtiſchen und tartariſchen Steppe ſind ſie ſo häufig, daß
man ihnen alle Tage begegnet. Manchmal kommen ſie bis an die Wagen der Reiſenden heran.
Während ſie ſich äßen oder wenn ſie ruhen, hält immer ein Leitthier ſorgfältig Wacht, und wenn
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/527>, abgerufen am 23.11.2024.
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