Sache genau untersucht und das eben mitgetheilte Ergebniß gewonnen, hierdurch das ganze große Wunder auf die allerdings etwas ungewöhnliche Erscheinung zurückführend, daß ein verhältnißmäßig kleines Thier 40 Wochen lang hochbeschlagen geht. Wenn man einfach von Dem gefolgert hätte, was man beim Hirsch beobachtete, würde man nie in Verlegenheit gekommen sein, zu jenen kühnen An- nahmen seine Zuflucht zu nehmen.
Etwa vier bis fünf Tage vor dem Setzen entfernt sich die hochbeschlagene Ricke vom Bock, ohne daß dieser es bemerkt, in den ersten Tagen nur auf wenige Stunden, später immer länger und län- ger, bis sie endlich nicht mehr wiederkehrt. Dann sucht sie in einer einsamen, möglichst verborgenen Gegend einen stillen Platz aus und bringt dort ihre Kinder zur Welt. Jüngere Ricken setzen gewöhn- lich nur ein einziges Kalb, ältere deren zwei oder drei. Die Mutter verbirgt ihre Sprößlinge vor jedem sich nahenden Feind mit Sorgfalt und gibt ihnen bei der leisesten Ahnung einer Gefahr war- nende Zeichen durch Aufstampfen mit dem einen Laufe oder durch einen kurzen zirpenden Laut. Jn der zartesten Jugend drücken sich die Kälber, sobald sie Dies vernehmen, auf der Stelle nieder; spä- terhin entfliehen sie mit der Mutter. Während der ersten Tage des Lebens, wo die Kälber noch zu unbehilflich sind, nimmt die Ricke zur Verstellungskunst ihre Zuflucht und lenkt den Feind von sich ab, wie die übrigen Hirsche. Wird ihr ein Junges geraubt, ohne daß sie es hindern kann, so folgt sie dem Räuber, auch dem Menschen, lange nach und gibt ihre Sorgen durch beständiges, ängstliches Hin- und Herlaufen und durch Rufen zu erkennen. "Mich hat diese Mutterzärtlichkeit," sagt Dietrich aus dem Winckell, "mehr als ein Mal dahin vermocht, das Kalb, welches ich schon mitgenommen hatte, wieder in Freiheit zu setzen, und die Mutter belohnte mich reichlich dafür durch die sorgsamen Untersuchungen, ob dem Kinde ein Unfall zugestoßen sei oder nicht. Freudig sprang sie um das unbeschädigt gefundene Kleine herum und schien es mit Liebkosungen zu überhäufen, indem sie ihm zugleich das Gesäuge zur Nahrung darbot." Etwa acht Tage nach der Geburt nimmt die Ricke ihre Kälber mit auf die Weide und nach zehn bis zwölf Tagen sind sie vollkommen stark genug, ihr nachzueilen. Nun kehrt sie mit ihnen auf den alten Stand zurück, gleichsam in der Absicht, dem Vater seine Sprößlinge jetzt vorzusühren. Mit schmeichelhaftem Rufen lockt sie den Bock herbei; die Kälber blöcken ihn liebreich an, während die Mutter die Freude des Wiedersehens durch zärtliche Liebkosungen dem strengen Eheherrn zu erkennen gibt. Von nun an übernimmt der Bock wieder die Leitung der Familie, und nur bei der Flucht trollt die Ricke voran. Die Kälber besaugen ihre Mut- ter bis zum August, auch wohl bis zum September; nehmen aber schon im zweiten Monat ihres Lebens feineres, grünes Geäße mit an; die Mutter lehrt sie die Auswahl treffen. Nach etwa zehn Monaten, nämlich dann, wenn sich die Ricke wieder hochbeschlagen fühlt, trennen sich die Kälber von ihren Eltern; mit dem Alter von 14 Monaten sind sie fortpflanzungsfähig geworden und bilden nunmehr eine Familie für sich.
Schon zu Ende des vierten Monats wölbt sich das Stirnbein des jungen Bockes, in den folgen- den vier Wochen bilden sich kleine, immer höher werdende Kolben, und in den Wintermonaten brechen dann die ersten, drei bis vier Zoll langen Spieße hervor. Jm März fegt der junge Bock "mit Wollust und wahrem Uebermuth," im nächsten Dezember wirft er die Spieße ab. Binnen drei Monaten hat sich das zweite Gehörn gebildet. Es wird seiner Zeit etwas früher als im vorigen Herbst abgeworfen und durch das dritte ersetzt. Alte Böcke werfen schon im November ab. Bei allen hirschartigen Thieren steht die geschlechtliche Erregung mit der Thätigkeit der Haut in einer Wechselfolge. Nach der Befruchtung geht der Wechsel des Haares und des Gehörns vor sich, das Winterkleid bildet sich aus, das Gehörn wird abgeworfen. Während der Wintermonate bildet sich das neue und wenn das Sommerhaar auftritt, hat es seine Ausbildung erreicht. Die Ricke hat ihr Sommerkleid angezogen, wenn sie setzt.
Auch das Reh ist dem Jäger ein sehr befreundetes Thier und wird deshalb durchaus waidmän- nisch betrachtet und waidmännisch benannt. Das erwachsene Männchen heißt Bock, das erwachsene Weibchen Ricke, Hille oder Geis; die Jungen sind Kälber, im zweiten Jahre Spießböcke
Die Hirſche. — Unſer Reh.
Sache genau unterſucht und das eben mitgetheilte Ergebniß gewonnen, hierdurch das ganze große Wunder auf die allerdings etwas ungewöhnliche Erſcheinung zurückführend, daß ein verhältnißmäßig kleines Thier 40 Wochen lang hochbeſchlagen geht. Wenn man einfach von Dem gefolgert hätte, was man beim Hirſch beobachtete, würde man nie in Verlegenheit gekommen ſein, zu jenen kühnen An- nahmen ſeine Zuflucht zu nehmen.
Etwa vier bis fünf Tage vor dem Setzen entfernt ſich die hochbeſchlagene Ricke vom Bock, ohne daß dieſer es bemerkt, in den erſten Tagen nur auf wenige Stunden, ſpäter immer länger und län- ger, bis ſie endlich nicht mehr wiederkehrt. Dann ſucht ſie in einer einſamen, möglichſt verborgenen Gegend einen ſtillen Platz aus und bringt dort ihre Kinder zur Welt. Jüngere Ricken ſetzen gewöhn- lich nur ein einziges Kalb, ältere deren zwei oder drei. Die Mutter verbirgt ihre Sprößlinge vor jedem ſich nahenden Feind mit Sorgfalt und gibt ihnen bei der leiſeſten Ahnung einer Gefahr war- nende Zeichen durch Aufſtampfen mit dem einen Laufe oder durch einen kurzen zirpenden Laut. Jn der zarteſten Jugend drücken ſich die Kälber, ſobald ſie Dies vernehmen, auf der Stelle nieder; ſpä- terhin entfliehen ſie mit der Mutter. Während der erſten Tage des Lebens, wo die Kälber noch zu unbehilflich ſind, nimmt die Ricke zur Verſtellungskunſt ihre Zuflucht und lenkt den Feind von ſich ab, wie die übrigen Hirſche. Wird ihr ein Junges geraubt, ohne daß ſie es hindern kann, ſo folgt ſie dem Räuber, auch dem Menſchen, lange nach und gibt ihre Sorgen durch beſtändiges, ängſtliches Hin- und Herlaufen und durch Rufen zu erkennen. „Mich hat dieſe Mutterzärtlichkeit,‟ ſagt Dietrich aus dem Winckell, „mehr als ein Mal dahin vermocht, das Kalb, welches ich ſchon mitgenommen hatte, wieder in Freiheit zu ſetzen, und die Mutter belohnte mich reichlich dafür durch die ſorgſamen Unterſuchungen, ob dem Kinde ein Unfall zugeſtoßen ſei oder nicht. Freudig ſprang ſie um das unbeſchädigt gefundene Kleine herum und ſchien es mit Liebkoſungen zu überhäufen, indem ſie ihm zugleich das Geſäuge zur Nahrung darbot.‟ Etwa acht Tage nach der Geburt nimmt die Ricke ihre Kälber mit auf die Weide und nach zehn bis zwölf Tagen ſind ſie vollkommen ſtark genug, ihr nachzueilen. Nun kehrt ſie mit ihnen auf den alten Stand zurück, gleichſam in der Abſicht, dem Vater ſeine Sprößlinge jetzt vorzuſühren. Mit ſchmeichelhaftem Rufen lockt ſie den Bock herbei; die Kälber blöcken ihn liebreich an, während die Mutter die Freude des Wiederſehens durch zärtliche Liebkoſungen dem ſtrengen Eheherrn zu erkennen gibt. Von nun an übernimmt der Bock wieder die Leitung der Familie, und nur bei der Flucht trollt die Ricke voran. Die Kälber beſaugen ihre Mut- ter bis zum Auguſt, auch wohl bis zum September; nehmen aber ſchon im zweiten Monat ihres Lebens feineres, grünes Geäße mit an; die Mutter lehrt ſie die Auswahl treffen. Nach etwa zehn Monaten, nämlich dann, wenn ſich die Ricke wieder hochbeſchlagen fühlt, trennen ſich die Kälber von ihren Eltern; mit dem Alter von 14 Monaten ſind ſie fortpflanzungsfähig geworden und bilden nunmehr eine Familie für ſich.
Schon zu Ende des vierten Monats wölbt ſich das Stirnbein des jungen Bockes, in den folgen- den vier Wochen bilden ſich kleine, immer höher werdende Kolben, und in den Wintermonaten brechen dann die erſten, drei bis vier Zoll langen Spieße hervor. Jm März fegt der junge Bock „mit Wolluſt und wahrem Uebermuth,‟ im nächſten Dezember wirft er die Spieße ab. Binnen drei Monaten hat ſich das zweite Gehörn gebildet. Es wird ſeiner Zeit etwas früher als im vorigen Herbſt abgeworfen und durch das dritte erſetzt. Alte Böcke werfen ſchon im November ab. Bei allen hirſchartigen Thieren ſteht die geſchlechtliche Erregung mit der Thätigkeit der Haut in einer Wechſelfolge. Nach der Befruchtung geht der Wechſel des Haares und des Gehörns vor ſich, das Winterkleid bildet ſich aus, das Gehörn wird abgeworfen. Während der Wintermonate bildet ſich das neue und wenn das Sommerhaar auftritt, hat es ſeine Ausbildung erreicht. Die Ricke hat ihr Sommerkleid angezogen, wenn ſie ſetzt.
Auch das Reh iſt dem Jäger ein ſehr befreundetes Thier und wird deshalb durchaus waidmän- niſch betrachtet und waidmänniſch benannt. Das erwachſene Männchen heißt Bock, das erwachſene Weibchen Ricke, Hille oder Geis; die Jungen ſind Kälber, im zweiten Jahre Spießböcke
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Die Hirſche. — Unſer Reh.
Sache genau unterſucht und das eben mitgetheilte Ergebniß gewonnen, hierdurch das ganze große
Wunder auf die allerdings etwas ungewöhnliche Erſcheinung zurückführend, daß ein verhältnißmäßig
kleines Thier 40 Wochen lang hochbeſchlagen geht. Wenn man einfach von Dem gefolgert hätte, was
man beim Hirſch beobachtete, würde man nie in Verlegenheit gekommen ſein, zu jenen kühnen An-
nahmen ſeine Zuflucht zu nehmen.
Etwa vier bis fünf Tage vor dem Setzen entfernt ſich die hochbeſchlagene Ricke vom Bock, ohne
daß dieſer es bemerkt, in den erſten Tagen nur auf wenige Stunden, ſpäter immer länger und län-
ger, bis ſie endlich nicht mehr wiederkehrt. Dann ſucht ſie in einer einſamen, möglichſt verborgenen
Gegend einen ſtillen Platz aus und bringt dort ihre Kinder zur Welt. Jüngere Ricken ſetzen gewöhn-
lich nur ein einziges Kalb, ältere deren zwei oder drei. Die Mutter verbirgt ihre Sprößlinge vor
jedem ſich nahenden Feind mit Sorgfalt und gibt ihnen bei der leiſeſten Ahnung einer Gefahr war-
nende Zeichen durch Aufſtampfen mit dem einen Laufe oder durch einen kurzen zirpenden Laut. Jn
der zarteſten Jugend drücken ſich die Kälber, ſobald ſie Dies vernehmen, auf der Stelle nieder; ſpä-
terhin entfliehen ſie mit der Mutter. Während der erſten Tage des Lebens, wo die Kälber noch zu
unbehilflich ſind, nimmt die Ricke zur Verſtellungskunſt ihre Zuflucht und lenkt den Feind von ſich
ab, wie die übrigen Hirſche. Wird ihr ein Junges geraubt, ohne daß ſie es hindern kann, ſo folgt
ſie dem Räuber, auch dem Menſchen, lange nach und gibt ihre Sorgen durch beſtändiges, ängſtliches
Hin- und Herlaufen und durch Rufen zu erkennen. „Mich hat dieſe Mutterzärtlichkeit,‟ ſagt
Dietrich aus dem Winckell, „mehr als ein Mal dahin vermocht, das Kalb, welches ich ſchon
mitgenommen hatte, wieder in Freiheit zu ſetzen, und die Mutter belohnte mich reichlich dafür durch
die ſorgſamen Unterſuchungen, ob dem Kinde ein Unfall zugeſtoßen ſei oder nicht. Freudig ſprang
ſie um das unbeſchädigt gefundene Kleine herum und ſchien es mit Liebkoſungen zu überhäufen, indem
ſie ihm zugleich das Geſäuge zur Nahrung darbot.‟ Etwa acht Tage nach der Geburt nimmt die
Ricke ihre Kälber mit auf die Weide und nach zehn bis zwölf Tagen ſind ſie vollkommen ſtark genug,
ihr nachzueilen. Nun kehrt ſie mit ihnen auf den alten Stand zurück, gleichſam in der Abſicht, dem
Vater ſeine Sprößlinge jetzt vorzuſühren. Mit ſchmeichelhaftem Rufen lockt ſie den Bock herbei; die
Kälber blöcken ihn liebreich an, während die Mutter die Freude des Wiederſehens durch zärtliche
Liebkoſungen dem ſtrengen Eheherrn zu erkennen gibt. Von nun an übernimmt der Bock wieder die
Leitung der Familie, und nur bei der Flucht trollt die Ricke voran. Die Kälber beſaugen ihre Mut-
ter bis zum Auguſt, auch wohl bis zum September; nehmen aber ſchon im zweiten Monat ihres
Lebens feineres, grünes Geäße mit an; die Mutter lehrt ſie die Auswahl treffen. Nach etwa zehn
Monaten, nämlich dann, wenn ſich die Ricke wieder hochbeſchlagen fühlt, trennen ſich die Kälber
von ihren Eltern; mit dem Alter von 14 Monaten ſind ſie fortpflanzungsfähig geworden und bilden
nunmehr eine Familie für ſich.
Schon zu Ende des vierten Monats wölbt ſich das Stirnbein des jungen Bockes, in den folgen-
den vier Wochen bilden ſich kleine, immer höher werdende Kolben, und in den Wintermonaten
brechen dann die erſten, drei bis vier Zoll langen Spieße hervor. Jm März fegt der junge Bock
„mit Wolluſt und wahrem Uebermuth,‟ im nächſten Dezember wirft er die Spieße ab. Binnen drei
Monaten hat ſich das zweite Gehörn gebildet. Es wird ſeiner Zeit etwas früher als im vorigen
Herbſt abgeworfen und durch das dritte erſetzt. Alte Böcke werfen ſchon im November ab. Bei
allen hirſchartigen Thieren ſteht die geſchlechtliche Erregung mit der Thätigkeit der Haut in einer
Wechſelfolge. Nach der Befruchtung geht der Wechſel des Haares und des Gehörns vor ſich, das
Winterkleid bildet ſich aus, das Gehörn wird abgeworfen. Während der Wintermonate bildet ſich
das neue und wenn das Sommerhaar auftritt, hat es ſeine Ausbildung erreicht. Die Ricke hat ihr
Sommerkleid angezogen, wenn ſie ſetzt.
Auch das Reh iſt dem Jäger ein ſehr befreundetes Thier und wird deshalb durchaus waidmän-
niſch betrachtet und waidmänniſch benannt. Das erwachſene Männchen heißt Bock, das erwachſene
Weibchen Ricke, Hille oder Geis; die Jungen ſind Kälber, im zweiten Jahre Spießböcke
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/508>, abgerufen am 23.11.2024.
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