Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Der weißschwänzige Hirsch.
und noch häufiger als im Stalle selbst verunglücken sie in der angegebenen Weise, wenn sie scherzend
in der Nähe der Gitter sich vergnügen oder während der Brunst sich gegenseitig treiben, ohne auf
jeden Schritt zu achten. So sieht sich also der Pfleger dieser liebenswürdigen Thiere nur zu oft ge-
nöthigt, einen derartigen verunglückten Mazamahirsch gewaltsam zu tödten, und Dies kommt dem
wahren Thierfreunde, wie ich aus eigener Erfahrung versichern darf, so hart an, daß er bald schließ-
lich lieber ganz auf solche Gefangene verzichtet.

Mit dem virginischen hat der weißschwänzige Hirsch (Reduncina leucura) täuschende
Aehnlichkeit. Gestalt und Größe unterscheiden ihn kaum oder nicht von jenem. Auch die Art der
Zeichnung, d. h. die Farbenvertheilung, ist fast genau dieselbe. Demungeachtet unterliegt es keinem
Zweifel, daß beide Hirsche als verschiedene Arten betrachtet werden müssen. Besonders auffallend
ist der Unterschied in der Färbung, obgleich die einzelnen Haare sehr ähnlich gezeichnet sind. Bei
beiden Arten hat jedes einzelne Haar einen lichteren Ring vor der dunkleren Spitze; derselbe ist aber
bei dem virginischen Hirsch über doppelt so breit, als beim weißschwänzigen, und rostroth gefärbt,
während er bei letzterem fahlgelb erscheint. Dieser geringe Unterschied bedingt die Abweichung der
Gesammtfärbung; denn im übrigen sind beider Haare gleichgefärbt: lichtgrau an der Wurzel, zuneh-
mend dunkler gegen den Ring hin, schwarz an der Spitze. Weil aber die Ringe bei Bestimmung der
Gesammtfärbung hauptsächlich zur Geltung kommen, erscheint der virginische Hirsch immer rostfar-
bener, als der weißschwänzige, welcher fast genau die Färbung unseres Rehes hat. Doch muß
man beide Arten neben einander haben, wenn man in der Bestimmung sicher sein will. Die ameri-
kanischen Forscher glauben auf die größere Länge des Wedels im Vergleich zu jener des virginischen
Hirsches besonderes Gewicht legen zu müssen: ich kann versichern, daß man bei dem lebenden Thiere
den bezüglichen Unterschied nicht wahrnimmt.

Nach Audubon und Bachmann lebt der weißschwänzige Hirsch östlich von den Felsgebirgen,
hauptsächlich im Flußgebiete des Kolumbia, hier vorzugsweise in den fruchtbaren Steppen, welche
die kleineren Flüsse umgeben; er scheint also den virginischen Hirsch im Nordwesten zu vertreten. Die
französischen Kanadier und die schottischen Hochländer, welche im Dienste der Hudsonsbaigesellschaft
stehen, nennen ihn einfach Reh, und erzählen, daß er im ganzen diesem Thiere durchaus ähnlich
lebe. Seine Lieblingsplätze sind die dichten Gebüsche der Steppen. Hier verbirgt er sich während
des Tages; gegen Abend geht er auf Aeßung aus. Sein Gang ist schleichend, wird aber oft durch
hohe, zierliche Sprünge unterbrochen. Der flüchtige Hirsch hebt seinen Wedel hoch in die Höhe und
bewegt ihn von einer Seite zur anderen. Vom November bis zum April und Mai sieht man dieses
Wild in zahlreichen Trupps; dann zertheilen sich diese, weil die Thiere ihre Kälber setzen. Letztere
sind bis in den ersten Winter mit weißlichen Tupfen gefleckt und erhalten dann das Kleid ihrer El-
tern. Gegen den November hin tritt der Hirsch auf die Brunst und ruft mit dumpfem Schreien das
Thier oder andere Nebenbuhler herbei. Die Jndianer ahmen mit einem kurzen Rohrstücke dieses
Schreien vortrefflich nach, um den Hirsch herbeizulocken. Das Thier ruft sein Kalb mit einem kurz
ausgestoßenen "Mäh mäh". Jn allem übrigen scheint der weißschwänzige Hirsch nicht von dem vir-
ginischen abzuweichen; doch muß ich hervorheben, daß die Berichte über jenen sehr dürftig lauten,
wahrscheinlich weil auch die meisten Reisenden beide Hirsche für gleichartig ansahen.

An unserem Gefangenen ist mir vom ersten Tage an das sonderbare Schleichen aufgefallen. Der
Thiergarten zu Hamburg besitzt allerdings nur ein einziges Thier dieses Hirsches; dasselbe steht aber
mit einem virginischen in ein und demselben Gehege und gibt somit Gelegenheit, beide zu vergleichen.
Bei allen virginischen Hirschen, welche ich sah, habe ich niemals jenes Schleichen beobachtet, welches
der weißschwänzige Hirsch annimmt, sobald er getrieben wird oder sich irgendwie verfolgt glaubt. Er
kriecht dann förmlich auf dem Boden dahin, den Rücken tief nach unten eingebogen, Hals und Kopf
gerade vorgestreckt und jeden Schritt überlegend. Wahrscheinlich ähnelt er im Freien ganz gewissen
Antilopen, welche unter dem Namen Ducker bekannt sind.

Der weißſchwänzige Hirſch.
und noch häufiger als im Stalle ſelbſt verunglücken ſie in der angegebenen Weiſe, wenn ſie ſcherzend
in der Nähe der Gitter ſich vergnügen oder während der Brunſt ſich gegenſeitig treiben, ohne auf
jeden Schritt zu achten. So ſieht ſich alſo der Pfleger dieſer liebenswürdigen Thiere nur zu oft ge-
nöthigt, einen derartigen verunglückten Mazamahirſch gewaltſam zu tödten, und Dies kommt dem
wahren Thierfreunde, wie ich aus eigener Erfahrung verſichern darf, ſo hart an, daß er bald ſchließ-
lich lieber ganz auf ſolche Gefangene verzichtet.

Mit dem virginiſchen hat der weißſchwänzige Hirſch (Reduncina leucura) täuſchende
Aehnlichkeit. Geſtalt und Größe unterſcheiden ihn kaum oder nicht von jenem. Auch die Art der
Zeichnung, d. h. die Farbenvertheilung, iſt faſt genau dieſelbe. Demungeachtet unterliegt es keinem
Zweifel, daß beide Hirſche als verſchiedene Arten betrachtet werden müſſen. Beſonders auffallend
iſt der Unterſchied in der Färbung, obgleich die einzelnen Haare ſehr ähnlich gezeichnet ſind. Bei
beiden Arten hat jedes einzelne Haar einen lichteren Ring vor der dunkleren Spitze; derſelbe iſt aber
bei dem virginiſchen Hirſch über doppelt ſo breit, als beim weißſchwänzigen, und roſtroth gefärbt,
während er bei letzterem fahlgelb erſcheint. Dieſer geringe Unterſchied bedingt die Abweichung der
Geſammtfärbung; denn im übrigen ſind beider Haare gleichgefärbt: lichtgrau an der Wurzel, zuneh-
mend dunkler gegen den Ring hin, ſchwarz an der Spitze. Weil aber die Ringe bei Beſtimmung der
Geſammtfärbung hauptſächlich zur Geltung kommen, erſcheint der virginiſche Hirſch immer roſtfar-
bener, als der weißſchwänzige, welcher faſt genau die Färbung unſeres Rehes hat. Doch muß
man beide Arten neben einander haben, wenn man in der Beſtimmung ſicher ſein will. Die ameri-
kaniſchen Forſcher glauben auf die größere Länge des Wedels im Vergleich zu jener des virginiſchen
Hirſches beſonderes Gewicht legen zu müſſen: ich kann verſichern, daß man bei dem lebenden Thiere
den bezüglichen Unterſchied nicht wahrnimmt.

Nach Audubon und Bachmann lebt der weißſchwänzige Hirſch öſtlich von den Felsgebirgen,
hauptſächlich im Flußgebiete des Kolumbia, hier vorzugsweiſe in den fruchtbaren Steppen, welche
die kleineren Flüſſe umgeben; er ſcheint alſo den virginiſchen Hirſch im Nordweſten zu vertreten. Die
franzöſiſchen Kanadier und die ſchottiſchen Hochländer, welche im Dienſte der Hudſonsbaigeſellſchaft
ſtehen, nennen ihn einfach Reh, und erzählen, daß er im ganzen dieſem Thiere durchaus ähnlich
lebe. Seine Lieblingsplätze ſind die dichten Gebüſche der Steppen. Hier verbirgt er ſich während
des Tages; gegen Abend geht er auf Aeßung aus. Sein Gang iſt ſchleichend, wird aber oft durch
hohe, zierliche Sprünge unterbrochen. Der flüchtige Hirſch hebt ſeinen Wedel hoch in die Höhe und
bewegt ihn von einer Seite zur anderen. Vom November bis zum April und Mai ſieht man dieſes
Wild in zahlreichen Trupps; dann zertheilen ſich dieſe, weil die Thiere ihre Kälber ſetzen. Letztere
ſind bis in den erſten Winter mit weißlichen Tupfen gefleckt und erhalten dann das Kleid ihrer El-
tern. Gegen den November hin tritt der Hirſch auf die Brunſt und ruft mit dumpfem Schreien das
Thier oder andere Nebenbuhler herbei. Die Jndianer ahmen mit einem kurzen Rohrſtücke dieſes
Schreien vortrefflich nach, um den Hirſch herbeizulocken. Das Thier ruft ſein Kalb mit einem kurz
ausgeſtoßenen „Mäh mäh‟. Jn allem übrigen ſcheint der weißſchwänzige Hirſch nicht von dem vir-
giniſchen abzuweichen; doch muß ich hervorheben, daß die Berichte über jenen ſehr dürftig lauten,
wahrſcheinlich weil auch die meiſten Reiſenden beide Hirſche für gleichartig anſahen.

An unſerem Gefangenen iſt mir vom erſten Tage an das ſonderbare Schleichen aufgefallen. Der
Thiergarten zu Hamburg beſitzt allerdings nur ein einziges Thier dieſes Hirſches; daſſelbe ſteht aber
mit einem virginiſchen in ein und demſelben Gehege und gibt ſomit Gelegenheit, beide zu vergleichen.
Bei allen virginiſchen Hirſchen, welche ich ſah, habe ich niemals jenes Schleichen beobachtet, welches
der weißſchwänzige Hirſch annimmt, ſobald er getrieben wird oder ſich irgendwie verfolgt glaubt. Er
kriecht dann förmlich auf dem Boden dahin, den Rücken tief nach unten eingebogen, Hals und Kopf
gerade vorgeſtreckt und jeden Schritt überlegend. Wahrſcheinlich ähnelt er im Freien ganz gewiſſen
Antilopen, welche unter dem Namen Ducker bekannt ſind.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0501" n="475"/><fw place="top" type="header">Der weiß&#x017F;chwänzige Hir&#x017F;ch.</fw><lb/>
und noch häufiger als im Stalle &#x017F;elb&#x017F;t verunglücken &#x017F;ie in der angegebenen Wei&#x017F;e, wenn &#x017F;ie &#x017F;cherzend<lb/>
in der Nähe der Gitter &#x017F;ich vergnügen oder während der Brun&#x017F;t &#x017F;ich gegen&#x017F;eitig treiben, ohne auf<lb/>
jeden Schritt zu achten. So &#x017F;ieht &#x017F;ich al&#x017F;o der Pfleger die&#x017F;er liebenswürdigen Thiere nur zu oft ge-<lb/>
nöthigt, einen derartigen verunglückten Mazamahir&#x017F;ch gewalt&#x017F;am zu tödten, und Dies kommt dem<lb/>
wahren Thierfreunde, wie ich aus eigener Erfahrung ver&#x017F;ichern darf, &#x017F;o hart an, daß er bald &#x017F;chließ-<lb/>
lich lieber ganz auf &#x017F;olche Gefangene verzichtet.</p><lb/>
              <p>Mit dem virgini&#x017F;chen hat der <hi rendition="#g">weiß&#x017F;chwänzige Hir&#x017F;ch</hi> (<hi rendition="#aq">Reduncina leucura</hi>) täu&#x017F;chende<lb/>
Aehnlichkeit. Ge&#x017F;talt und Größe unter&#x017F;cheiden ihn kaum oder nicht von jenem. Auch die Art der<lb/>
Zeichnung, d. h. die Farbenvertheilung, i&#x017F;t fa&#x017F;t genau die&#x017F;elbe. Demungeachtet unterliegt es keinem<lb/>
Zweifel, daß beide Hir&#x017F;che als ver&#x017F;chiedene Arten betrachtet werden mü&#x017F;&#x017F;en. Be&#x017F;onders auffallend<lb/>
i&#x017F;t der Unter&#x017F;chied in der Färbung, obgleich die einzelnen Haare &#x017F;ehr ähnlich gezeichnet &#x017F;ind. Bei<lb/>
beiden Arten hat jedes einzelne Haar einen lichteren Ring vor der dunkleren Spitze; der&#x017F;elbe i&#x017F;t aber<lb/>
bei dem virgini&#x017F;chen Hir&#x017F;ch über doppelt &#x017F;o breit, als beim weiß&#x017F;chwänzigen, und ro&#x017F;troth gefärbt,<lb/>
während er bei letzterem fahlgelb er&#x017F;cheint. Die&#x017F;er geringe Unter&#x017F;chied bedingt die Abweichung der<lb/>
Ge&#x017F;ammtfärbung; denn im übrigen &#x017F;ind beider Haare gleichgefärbt: lichtgrau an der Wurzel, zuneh-<lb/>
mend dunkler gegen den Ring hin, &#x017F;chwarz an der Spitze. Weil aber die Ringe bei Be&#x017F;timmung der<lb/>
Ge&#x017F;ammtfärbung haupt&#x017F;ächlich zur Geltung kommen, er&#x017F;cheint der virgini&#x017F;che Hir&#x017F;ch immer ro&#x017F;tfar-<lb/>
bener, als der weiß&#x017F;chwänzige, welcher fa&#x017F;t genau die Färbung un&#x017F;eres Rehes hat. Doch muß<lb/>
man beide Arten neben einander haben, wenn man in der Be&#x017F;timmung &#x017F;icher &#x017F;ein will. Die ameri-<lb/>
kani&#x017F;chen For&#x017F;cher glauben auf die größere Länge des Wedels im Vergleich zu jener des virgini&#x017F;chen<lb/>
Hir&#x017F;ches be&#x017F;onderes Gewicht legen zu mü&#x017F;&#x017F;en: ich kann ver&#x017F;ichern, daß man bei dem lebenden Thiere<lb/>
den bezüglichen Unter&#x017F;chied nicht wahrnimmt.</p><lb/>
              <p>Nach <hi rendition="#g">Audubon</hi> und <hi rendition="#g">Bachmann</hi> lebt der weiß&#x017F;chwänzige Hir&#x017F;ch ö&#x017F;tlich von den Felsgebirgen,<lb/>
haupt&#x017F;ächlich im Flußgebiete des Kolumbia, hier vorzugswei&#x017F;e in den fruchtbaren Steppen, welche<lb/>
die kleineren Flü&#x017F;&#x017F;e umgeben; er &#x017F;cheint al&#x017F;o den virgini&#x017F;chen Hir&#x017F;ch im Nordwe&#x017F;ten zu vertreten. Die<lb/>
franzö&#x017F;i&#x017F;chen Kanadier und die &#x017F;chotti&#x017F;chen Hochländer, welche im Dien&#x017F;te der Hud&#x017F;onsbaige&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
&#x017F;tehen, nennen ihn einfach <hi rendition="#g">Reh,</hi> und erzählen, daß er im ganzen die&#x017F;em Thiere durchaus ähnlich<lb/>
lebe. Seine Lieblingsplätze &#x017F;ind die dichten Gebü&#x017F;che der Steppen. Hier verbirgt er &#x017F;ich während<lb/>
des Tages; gegen Abend geht er auf Aeßung aus. Sein Gang i&#x017F;t &#x017F;chleichend, wird aber oft durch<lb/>
hohe, zierliche Sprünge unterbrochen. Der flüchtige Hir&#x017F;ch hebt &#x017F;einen Wedel hoch in die Höhe und<lb/>
bewegt ihn von einer Seite zur anderen. Vom November bis zum April und Mai &#x017F;ieht man die&#x017F;es<lb/>
Wild in zahlreichen Trupps; dann zertheilen &#x017F;ich die&#x017F;e, weil die Thiere ihre Kälber &#x017F;etzen. Letztere<lb/>
&#x017F;ind bis in den er&#x017F;ten Winter mit weißlichen Tupfen gefleckt und erhalten dann das Kleid ihrer El-<lb/>
tern. Gegen den November hin tritt der Hir&#x017F;ch auf die Brun&#x017F;t und ruft mit dumpfem Schreien das<lb/>
Thier oder andere Nebenbuhler herbei. Die Jndianer ahmen mit einem kurzen Rohr&#x017F;tücke die&#x017F;es<lb/>
Schreien vortrefflich nach, um den Hir&#x017F;ch herbeizulocken. Das Thier ruft &#x017F;ein Kalb mit einem kurz<lb/>
ausge&#x017F;toßenen &#x201E;Mäh mäh&#x201F;. Jn allem übrigen &#x017F;cheint der weiß&#x017F;chwänzige Hir&#x017F;ch nicht von dem vir-<lb/>
gini&#x017F;chen abzuweichen; doch muß ich hervorheben, daß die Berichte über jenen &#x017F;ehr dürftig lauten,<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich weil auch die mei&#x017F;ten Rei&#x017F;enden beide Hir&#x017F;che für gleichartig an&#x017F;ahen.</p><lb/>
              <p>An un&#x017F;erem Gefangenen i&#x017F;t mir vom er&#x017F;ten Tage an das &#x017F;onderbare Schleichen aufgefallen. Der<lb/>
Thiergarten zu Hamburg be&#x017F;itzt allerdings nur ein einziges Thier die&#x017F;es Hir&#x017F;ches; da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;teht aber<lb/>
mit einem virgini&#x017F;chen in ein und dem&#x017F;elben Gehege und gibt &#x017F;omit Gelegenheit, beide zu vergleichen.<lb/>
Bei allen virgini&#x017F;chen Hir&#x017F;chen, welche ich &#x017F;ah, habe ich niemals jenes Schleichen beobachtet, welches<lb/>
der weiß&#x017F;chwänzige Hir&#x017F;ch annimmt, &#x017F;obald er getrieben wird oder &#x017F;ich irgendwie verfolgt glaubt. Er<lb/>
kriecht dann förmlich auf dem Boden dahin, den Rücken tief nach unten eingebogen, Hals und Kopf<lb/>
gerade vorge&#x017F;treckt und jeden Schritt überlegend. Wahr&#x017F;cheinlich ähnelt er im Freien ganz gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/><hi rendition="#g">Antilopen,</hi> welche unter dem Namen <hi rendition="#g">Ducker</hi> bekannt &#x017F;ind.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[475/0501] Der weißſchwänzige Hirſch. und noch häufiger als im Stalle ſelbſt verunglücken ſie in der angegebenen Weiſe, wenn ſie ſcherzend in der Nähe der Gitter ſich vergnügen oder während der Brunſt ſich gegenſeitig treiben, ohne auf jeden Schritt zu achten. So ſieht ſich alſo der Pfleger dieſer liebenswürdigen Thiere nur zu oft ge- nöthigt, einen derartigen verunglückten Mazamahirſch gewaltſam zu tödten, und Dies kommt dem wahren Thierfreunde, wie ich aus eigener Erfahrung verſichern darf, ſo hart an, daß er bald ſchließ- lich lieber ganz auf ſolche Gefangene verzichtet. Mit dem virginiſchen hat der weißſchwänzige Hirſch (Reduncina leucura) täuſchende Aehnlichkeit. Geſtalt und Größe unterſcheiden ihn kaum oder nicht von jenem. Auch die Art der Zeichnung, d. h. die Farbenvertheilung, iſt faſt genau dieſelbe. Demungeachtet unterliegt es keinem Zweifel, daß beide Hirſche als verſchiedene Arten betrachtet werden müſſen. Beſonders auffallend iſt der Unterſchied in der Färbung, obgleich die einzelnen Haare ſehr ähnlich gezeichnet ſind. Bei beiden Arten hat jedes einzelne Haar einen lichteren Ring vor der dunkleren Spitze; derſelbe iſt aber bei dem virginiſchen Hirſch über doppelt ſo breit, als beim weißſchwänzigen, und roſtroth gefärbt, während er bei letzterem fahlgelb erſcheint. Dieſer geringe Unterſchied bedingt die Abweichung der Geſammtfärbung; denn im übrigen ſind beider Haare gleichgefärbt: lichtgrau an der Wurzel, zuneh- mend dunkler gegen den Ring hin, ſchwarz an der Spitze. Weil aber die Ringe bei Beſtimmung der Geſammtfärbung hauptſächlich zur Geltung kommen, erſcheint der virginiſche Hirſch immer roſtfar- bener, als der weißſchwänzige, welcher faſt genau die Färbung unſeres Rehes hat. Doch muß man beide Arten neben einander haben, wenn man in der Beſtimmung ſicher ſein will. Die ameri- kaniſchen Forſcher glauben auf die größere Länge des Wedels im Vergleich zu jener des virginiſchen Hirſches beſonderes Gewicht legen zu müſſen: ich kann verſichern, daß man bei dem lebenden Thiere den bezüglichen Unterſchied nicht wahrnimmt. Nach Audubon und Bachmann lebt der weißſchwänzige Hirſch öſtlich von den Felsgebirgen, hauptſächlich im Flußgebiete des Kolumbia, hier vorzugsweiſe in den fruchtbaren Steppen, welche die kleineren Flüſſe umgeben; er ſcheint alſo den virginiſchen Hirſch im Nordweſten zu vertreten. Die franzöſiſchen Kanadier und die ſchottiſchen Hochländer, welche im Dienſte der Hudſonsbaigeſellſchaft ſtehen, nennen ihn einfach Reh, und erzählen, daß er im ganzen dieſem Thiere durchaus ähnlich lebe. Seine Lieblingsplätze ſind die dichten Gebüſche der Steppen. Hier verbirgt er ſich während des Tages; gegen Abend geht er auf Aeßung aus. Sein Gang iſt ſchleichend, wird aber oft durch hohe, zierliche Sprünge unterbrochen. Der flüchtige Hirſch hebt ſeinen Wedel hoch in die Höhe und bewegt ihn von einer Seite zur anderen. Vom November bis zum April und Mai ſieht man dieſes Wild in zahlreichen Trupps; dann zertheilen ſich dieſe, weil die Thiere ihre Kälber ſetzen. Letztere ſind bis in den erſten Winter mit weißlichen Tupfen gefleckt und erhalten dann das Kleid ihrer El- tern. Gegen den November hin tritt der Hirſch auf die Brunſt und ruft mit dumpfem Schreien das Thier oder andere Nebenbuhler herbei. Die Jndianer ahmen mit einem kurzen Rohrſtücke dieſes Schreien vortrefflich nach, um den Hirſch herbeizulocken. Das Thier ruft ſein Kalb mit einem kurz ausgeſtoßenen „Mäh mäh‟. Jn allem übrigen ſcheint der weißſchwänzige Hirſch nicht von dem vir- giniſchen abzuweichen; doch muß ich hervorheben, daß die Berichte über jenen ſehr dürftig lauten, wahrſcheinlich weil auch die meiſten Reiſenden beide Hirſche für gleichartig anſahen. An unſerem Gefangenen iſt mir vom erſten Tage an das ſonderbare Schleichen aufgefallen. Der Thiergarten zu Hamburg beſitzt allerdings nur ein einziges Thier dieſes Hirſches; daſſelbe ſteht aber mit einem virginiſchen in ein und demſelben Gehege und gibt ſomit Gelegenheit, beide zu vergleichen. Bei allen virginiſchen Hirſchen, welche ich ſah, habe ich niemals jenes Schleichen beobachtet, welches der weißſchwänzige Hirſch annimmt, ſobald er getrieben wird oder ſich irgendwie verfolgt glaubt. Er kriecht dann förmlich auf dem Boden dahin, den Rücken tief nach unten eingebogen, Hals und Kopf gerade vorgeſtreckt und jeden Schritt überlegend. Wahrſcheinlich ähnelt er im Freien ganz gewiſſen Antilopen, welche unter dem Namen Ducker bekannt ſind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/501
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/501>, abgerufen am 23.11.2024.