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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Das Renthier.
zusetzen können; die Sache ändert sich aber bei frischem Schneefall. Dann sinkt das Renthier tief
in die flaumige Decke ein, ermüdet leicht und wird von dem irgendwo hinter einem Felsblock oder
dichten Busche lauschenden Räuber viel leichter gefangen, als sonst. Auf den Hochgebirgen rotten
sich starke Meuten von Wölfen gerade um die Zeit zusammen, in welcher sich die Renthiere in
starke Rudel schlagen, und nun beginnt ein ewiger Kampf um das Leben. Durch Hunderte von
Meilen ziehen die Wölfe den wandernden Renthierherden nach, und es kommt dahin, daß selbst
die Menschen, eben der Wölfe wegen, solche Renthierzusammenrottungen verwünschen. Jn Nor-
wegen mußten die Renthierzuchten, die man auf den südlichen Gebirgen anlegen wollte, der Wölfe
wegen aufgegeben werden. Man hatte sich aus Finnmarken oder dem norwegischen Lappland
dreißig Renthiere nebst lappländischen Hirten kommen lassen, und die Zucht gedieh auf den Hochge-
birgen des Bergener Stifts ganz vortrefflich. Schon nach fünf Jahren hatten die dreißig Renthiere
Hunderte von Nachkommen erzeugt, und die Besitzer der Herden begannen schon, sich Reichthum zu
erträumen: da brachen die Wölfe, welche von allem Anfang an sich als die schlimmsten Feinde der
neuen Herde gezeigt hatten, mit Macht herein. Es schien, als ob sich die Wölfe ganz Norwegens
auf einen Punkt zusammengezogen hätten, so häufig waren sie geworden. Weil man nun die Wach-
samkeit verdoppelte, blieb es nicht bei der Renthierjagd allein, sondern die Wölfe kamen nun auch
in Unmassen in das Thal herab, raubten gierig in der Nähe der Gehöfte Rinder und Schafe, be-
drohten Menschen und wurden schließlich so lästig, daß man die Herden theils abschlachten, theils
niederschießen, theils verwildern lassen, mit einem Worte, die Zucht aufgeben mußte. Daß der
Wolf auch den zahmen Renthierherden großen Schaden zufügt, habe ich schon oben gesagt. Und
dieser häßliche Räuber ist noch nicht der einzige Feind. Der Vielfraß stellt den Renthieren, wie
ich selbst gesehen, eifrig nach; der Luchs wird ihnen sehr gefährlich, und der Bär raubt, wenn auch
nicht gerade in derselben Weise wie der Wolf, immer noch viele der bedrohten Thiere. Nächst diesen
großen Räubern sind es kleine, scheinbar erbärmliche Kerbthiere, welche mit zu den schlimmsten Fein-
den der Renthiere gezählt werden müssen. Namentlich drei Arten dieser Klasse bestimmen deren gan-
zes Leben. Es sind Dies eine Stechmücke -- welche Art der blutdürstigen Teufel, kann uns gleich-
giltig sein -- und zwei Dasselfliegen oder Bremsen. Die Mücken sind es, welche die
Wanderungen der Renthiere veranlassen und bestimmen; vor ihnen flüchten sie zum Meer hinab und
in die Gebirge hinauf; von ihnen werden sie Tag und Nacht oder vielmehr während des monatlangen
Sommertages unablässig in der fürchterlichsten Weise gequält. Nur wer selbst von jenen kleinen Un-
geheuern tage- und wochenlang stündlich gestochen und geschröpft worden ist, kann die Qual begrei-
fen, welche die armen Geschöpfe zu leiden haben. Und sie ist noch nicht die schlimmste: die Dassel-
fliegen
bereiten den Renthieren vielleicht noch ärgere Pein. Eine Art legt ihre Eier in die Rücken-
haut, eine zweite in die Nasenlöcher des Renthieres; die Larven entwickeln sich und die der ersten
Art bohren sich durch die Haut in die Zellgewebe ein, leben hier von dem Eiter, welchen sie erregen,
verursachen im höchsten Grade schmerzhafte Beulen, wühlen sich weiter und weiter und bohren sich
endlich, wenn sie der Reise nahe kommen, wieder da heraus. Die Larven der zweiten Art gehen
durch die Nasenhöhle weiter, bohren sich tief bis in das Hirn hinein und verursachen dann die
unheilbare Drehkrankheit, oder sie schlüpfen in den Gaumen und verhindern das Ren wegen des
Schmerzes, welcher beim Kauen entsteht, am Aeßen, bis endlich das gequälte Thier sie durch
heftiges Niesen oft klumpenweise heraus treibt, aber erst, nachdem sie sich dick und voll gemästet
haben. Jm Juli oder zu Anfang Augusts werden die Eier gelegt, im April oder Mai sind die
Larven ausgebildet. Gleich im Anfang geben sich die Leiden des bedauernswerthen Geschöpfes
durch schweres Athmen zu erkennen, und oft genug ist der Tod, namentlich bei jüngeren Thieren,
das wohlthätige Ende aller Qual. Solchen von den Dasselfliegen gepeinigten Renthieren erscheinen
die Nebelkrähe und die Schafstelze als wohlthätige Freunde. Sie vertreten die Stelle der
Kuhvögel, Madenhacker und Kuhreiher, welche wir im zweiten Theile dieses Werkes
kennen lernen werden, fliegen auf den Rücken der armen Thiere und bohren aus den Geschwüren die

Das Renthier.
zuſetzen können; die Sache ändert ſich aber bei friſchem Schneefall. Dann ſinkt das Renthier tief
in die flaumige Decke ein, ermüdet leicht und wird von dem irgendwo hinter einem Felsblock oder
dichten Buſche lauſchenden Räuber viel leichter gefangen, als ſonſt. Auf den Hochgebirgen rotten
ſich ſtarke Meuten von Wölfen gerade um die Zeit zuſammen, in welcher ſich die Renthiere in
ſtarke Rudel ſchlagen, und nun beginnt ein ewiger Kampf um das Leben. Durch Hunderte von
Meilen ziehen die Wölfe den wandernden Renthierherden nach, und es kommt dahin, daß ſelbſt
die Menſchen, eben der Wölfe wegen, ſolche Renthierzuſammenrottungen verwünſchen. Jn Nor-
wegen mußten die Renthierzuchten, die man auf den ſüdlichen Gebirgen anlegen wollte, der Wölfe
wegen aufgegeben werden. Man hatte ſich aus Finnmarken oder dem norwegiſchen Lappland
dreißig Renthiere nebſt lappländiſchen Hirten kommen laſſen, und die Zucht gedieh auf den Hochge-
birgen des Bergener Stifts ganz vortrefflich. Schon nach fünf Jahren hatten die dreißig Renthiere
Hunderte von Nachkommen erzeugt, und die Beſitzer der Herden begannen ſchon, ſich Reichthum zu
erträumen: da brachen die Wölfe, welche von allem Anfang an ſich als die ſchlimmſten Feinde der
neuen Herde gezeigt hatten, mit Macht herein. Es ſchien, als ob ſich die Wölfe ganz Norwegens
auf einen Punkt zuſammengezogen hätten, ſo häufig waren ſie geworden. Weil man nun die Wach-
ſamkeit verdoppelte, blieb es nicht bei der Renthierjagd allein, ſondern die Wölfe kamen nun auch
in Unmaſſen in das Thal herab, raubten gierig in der Nähe der Gehöfte Rinder und Schafe, be-
drohten Menſchen und wurden ſchließlich ſo läſtig, daß man die Herden theils abſchlachten, theils
niederſchießen, theils verwildern laſſen, mit einem Worte, die Zucht aufgeben mußte. Daß der
Wolf auch den zahmen Renthierherden großen Schaden zufügt, habe ich ſchon oben geſagt. Und
dieſer häßliche Räuber iſt noch nicht der einzige Feind. Der Vielfraß ſtellt den Renthieren, wie
ich ſelbſt geſehen, eifrig nach; der Luchs wird ihnen ſehr gefährlich, und der Bär raubt, wenn auch
nicht gerade in derſelben Weiſe wie der Wolf, immer noch viele der bedrohten Thiere. Nächſt dieſen
großen Räubern ſind es kleine, ſcheinbar erbärmliche Kerbthiere, welche mit zu den ſchlimmſten Fein-
den der Renthiere gezählt werden müſſen. Namentlich drei Arten dieſer Klaſſe beſtimmen deren gan-
zes Leben. Es ſind Dies eine Stechmücke — welche Art der blutdürſtigen Teufel, kann uns gleich-
giltig ſein — und zwei Daſſelfliegen oder Bremſen. Die Mücken ſind es, welche die
Wanderungen der Renthiere veranlaſſen und beſtimmen; vor ihnen flüchten ſie zum Meer hinab und
in die Gebirge hinauf; von ihnen werden ſie Tag und Nacht oder vielmehr während des monatlangen
Sommertages unabläſſig in der fürchterlichſten Weiſe gequält. Nur wer ſelbſt von jenen kleinen Un-
geheuern tage- und wochenlang ſtündlich geſtochen und geſchröpft worden iſt, kann die Qual begrei-
fen, welche die armen Geſchöpfe zu leiden haben. Und ſie iſt noch nicht die ſchlimmſte: die Daſſel-
fliegen
bereiten den Renthieren vielleicht noch ärgere Pein. Eine Art legt ihre Eier in die Rücken-
haut, eine zweite in die Naſenlöcher des Renthieres; die Larven entwickeln ſich und die der erſten
Art bohren ſich durch die Haut in die Zellgewebe ein, leben hier von dem Eiter, welchen ſie erregen,
verurſachen im höchſten Grade ſchmerzhafte Beulen, wühlen ſich weiter und weiter und bohren ſich
endlich, wenn ſie der Reiſe nahe kommen, wieder da heraus. Die Larven der zweiten Art gehen
durch die Naſenhöhle weiter, bohren ſich tief bis in das Hirn hinein und verurſachen dann die
unheilbare Drehkrankheit, oder ſie ſchlüpfen in den Gaumen und verhindern das Ren wegen des
Schmerzes, welcher beim Kauen entſteht, am Aeßen, bis endlich das gequälte Thier ſie durch
heftiges Nieſen oft klumpenweiſe heraus treibt, aber erſt, nachdem ſie ſich dick und voll gemäſtet
haben. Jm Juli oder zu Anfang Auguſts werden die Eier gelegt, im April oder Mai ſind die
Larven ausgebildet. Gleich im Anfang geben ſich die Leiden des bedauernswerthen Geſchöpfes
durch ſchweres Athmen zu erkennen, und oft genug iſt der Tod, namentlich bei jüngeren Thieren,
das wohlthätige Ende aller Qual. Solchen von den Daſſelfliegen gepeinigten Renthieren erſcheinen
die Nebelkrähe und die Schafſtelze als wohlthätige Freunde. Sie vertreten die Stelle der
Kuhvögel, Madenhacker und Kuhreiher, welche wir im zweiten Theile dieſes Werkes
kennen lernen werden, fliegen auf den Rücken der armen Thiere und bohren aus den Geſchwüren die

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[441/0467] Das Renthier. zuſetzen können; die Sache ändert ſich aber bei friſchem Schneefall. Dann ſinkt das Renthier tief in die flaumige Decke ein, ermüdet leicht und wird von dem irgendwo hinter einem Felsblock oder dichten Buſche lauſchenden Räuber viel leichter gefangen, als ſonſt. Auf den Hochgebirgen rotten ſich ſtarke Meuten von Wölfen gerade um die Zeit zuſammen, in welcher ſich die Renthiere in ſtarke Rudel ſchlagen, und nun beginnt ein ewiger Kampf um das Leben. Durch Hunderte von Meilen ziehen die Wölfe den wandernden Renthierherden nach, und es kommt dahin, daß ſelbſt die Menſchen, eben der Wölfe wegen, ſolche Renthierzuſammenrottungen verwünſchen. Jn Nor- wegen mußten die Renthierzuchten, die man auf den ſüdlichen Gebirgen anlegen wollte, der Wölfe wegen aufgegeben werden. Man hatte ſich aus Finnmarken oder dem norwegiſchen Lappland dreißig Renthiere nebſt lappländiſchen Hirten kommen laſſen, und die Zucht gedieh auf den Hochge- birgen des Bergener Stifts ganz vortrefflich. Schon nach fünf Jahren hatten die dreißig Renthiere Hunderte von Nachkommen erzeugt, und die Beſitzer der Herden begannen ſchon, ſich Reichthum zu erträumen: da brachen die Wölfe, welche von allem Anfang an ſich als die ſchlimmſten Feinde der neuen Herde gezeigt hatten, mit Macht herein. Es ſchien, als ob ſich die Wölfe ganz Norwegens auf einen Punkt zuſammengezogen hätten, ſo häufig waren ſie geworden. Weil man nun die Wach- ſamkeit verdoppelte, blieb es nicht bei der Renthierjagd allein, ſondern die Wölfe kamen nun auch in Unmaſſen in das Thal herab, raubten gierig in der Nähe der Gehöfte Rinder und Schafe, be- drohten Menſchen und wurden ſchließlich ſo läſtig, daß man die Herden theils abſchlachten, theils niederſchießen, theils verwildern laſſen, mit einem Worte, die Zucht aufgeben mußte. Daß der Wolf auch den zahmen Renthierherden großen Schaden zufügt, habe ich ſchon oben geſagt. Und dieſer häßliche Räuber iſt noch nicht der einzige Feind. Der Vielfraß ſtellt den Renthieren, wie ich ſelbſt geſehen, eifrig nach; der Luchs wird ihnen ſehr gefährlich, und der Bär raubt, wenn auch nicht gerade in derſelben Weiſe wie der Wolf, immer noch viele der bedrohten Thiere. Nächſt dieſen großen Räubern ſind es kleine, ſcheinbar erbärmliche Kerbthiere, welche mit zu den ſchlimmſten Fein- den der Renthiere gezählt werden müſſen. Namentlich drei Arten dieſer Klaſſe beſtimmen deren gan- zes Leben. Es ſind Dies eine Stechmücke — welche Art der blutdürſtigen Teufel, kann uns gleich- giltig ſein — und zwei Daſſelfliegen oder Bremſen. Die Mücken ſind es, welche die Wanderungen der Renthiere veranlaſſen und beſtimmen; vor ihnen flüchten ſie zum Meer hinab und in die Gebirge hinauf; von ihnen werden ſie Tag und Nacht oder vielmehr während des monatlangen Sommertages unabläſſig in der fürchterlichſten Weiſe gequält. Nur wer ſelbſt von jenen kleinen Un- geheuern tage- und wochenlang ſtündlich geſtochen und geſchröpft worden iſt, kann die Qual begrei- fen, welche die armen Geſchöpfe zu leiden haben. Und ſie iſt noch nicht die ſchlimmſte: die Daſſel- fliegen bereiten den Renthieren vielleicht noch ärgere Pein. Eine Art legt ihre Eier in die Rücken- haut, eine zweite in die Naſenlöcher des Renthieres; die Larven entwickeln ſich und die der erſten Art bohren ſich durch die Haut in die Zellgewebe ein, leben hier von dem Eiter, welchen ſie erregen, verurſachen im höchſten Grade ſchmerzhafte Beulen, wühlen ſich weiter und weiter und bohren ſich endlich, wenn ſie der Reiſe nahe kommen, wieder da heraus. Die Larven der zweiten Art gehen durch die Naſenhöhle weiter, bohren ſich tief bis in das Hirn hinein und verurſachen dann die unheilbare Drehkrankheit, oder ſie ſchlüpfen in den Gaumen und verhindern das Ren wegen des Schmerzes, welcher beim Kauen entſteht, am Aeßen, bis endlich das gequälte Thier ſie durch heftiges Nieſen oft klumpenweiſe heraus treibt, aber erſt, nachdem ſie ſich dick und voll gemäſtet haben. Jm Juli oder zu Anfang Auguſts werden die Eier gelegt, im April oder Mai ſind die Larven ausgebildet. Gleich im Anfang geben ſich die Leiden des bedauernswerthen Geſchöpfes durch ſchweres Athmen zu erkennen, und oft genug iſt der Tod, namentlich bei jüngeren Thieren, das wohlthätige Ende aller Qual. Solchen von den Daſſelfliegen gepeinigten Renthieren erſcheinen die Nebelkrähe und die Schafſtelze als wohlthätige Freunde. Sie vertreten die Stelle der Kuhvögel, Madenhacker und Kuhreiher, welche wir im zweiten Theile dieſes Werkes kennen lernen werden, fliegen auf den Rücken der armen Thiere und bohren aus den Geſchwüren die

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/467>, abgerufen am 23.11.2024.