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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Hirsche. -- Das Renthier.
zahmen Renthieren nehmen die Schalen so an Breite zu, daß man wildes und zahmes Renwild
unbedingt als Arten trennen müßte, wenn man den Bau der Hufe allein in Betracht ziehen wollte.
Ueberhaupt sind die wilden Renthiere bei weitem zierlicher und anmuthiger gebaut, als die
zahmen, welche gleichsam verkrüppelt und verhäßlicht erscheinen.

Die Decke oder der Pelz des Renthieres ist so dicht, wie bei keinem anderen Hirsche.
Das Haar ist dick, gewunden, gewellt, zellig, spröde und brüchig, nur am Kopf und Vorder-
hals, sowie an den Beinen, da, wo es sich verlängert, biegsamer und haltbarer. An der Vor-
derseite des Halses bildet sich eine Mähne -- zuweilen reicht sie auch bis zur Brust herab
-- und auch an den Backen verlängern sich die Haare. Jm Winter werden sie überall bis
dritthalb Zoll lang, und weil sie sehr dicht über einander liegen, bildet sich dann eine Decke von
mindestens anderthalb Zoll Dicke, welche es sehr erklärlich macht, daß das Renthier mit Leichtig-
keit eine bedeutende Kälte ertragen kann. Nach dem Vorkommen und noch mehr nach der Jahreszeit
ist die allgemeine Färbung verschieden. Die wilden Renthiere ändern mit ziemlicher Regelmäßigkeit
zwei Mal im Jahre ihr Haarkleid und dessen Färbung. Mit Beginn des Frühlings fällt das reiche
Winterhaar aus, und ein kurzes, einfarbig graues Haar tritt an dessen Stelle; es wachsen nun
mehr und mehr andere Haare dazwischen hervor, deren weiße Spitzen das graue Haar immer voll-
ständiger verdrängen, bis endlich das ganze Thier weißgrau, fast fahl erscheint, der Färbung schmel-
zenden, schmuzigen Schnees täuschend ähnlich. Diese Umfärbung beginnt immer zuerst am Kopfe,
zunächst in der Augengegend, und verbreitet sich dann weiter und weiter. Die Jnnenseite der Ohren
ist immer mit weißen Haaren besetzt; dieselbe Farbe hat auch ein Haarbüschel an der Jnnenseite
der Ferse; die Wimpern sind schwarz. Beim zahmen Renthier ist die Färbung im Sommer am
Kopfe, Rücken, Bauch und an den Füßen dunkelbraun, am dunkelsten, fast schwärzlich, auf dem
Rückgrat, heller an den Seiten des Leibes, über welche aber gewöhnlich zwei lichtere Längsstreifen
laufen. Der Hals ist viel lichter, als der Rücken, die Unterseite weiß, die Stirn gewöhnlich schwarz-
braun, ein Kreis um die Augen schwarz; die Kopfseiten sind weiß. Jm Winter verschwindet die
braune Farbe, und das weiße Haar tritt ebenfalls mehr hervor; doch gibt es auch viele Renthiere, welche
sich im Winter nur durch verlängerte Haare auszeichnen, in der Färbung aber sich gleichbleiben. Je
nach den Gegenden kommen Verschiedenheiten aller Art häufig vor.

Schon die Alten kannten das Ren. Julius Cäsar beschrieb es ziemlich richtig. "Jm
hercynischen Walde", sagt er, "gibt es einen Ochsen von der Gestalt des Hirsches, dem mitten auf
der Stirn ein viel größeres Horn steht, als es die übrigen haben; die Krone desselben breitet sich
handförmig in viele Zacken aus. Das Weibchen hat eben solche Hörner." Plinius mengt die Be-
schreibung des Renthiers und Elenthiers unter einander. Aelian erzählt, daß die wilden Scythen
auf gezähmten Hirschen wie auf Pferden reiten. Olaus Magnus kennt (im Jahre 1530) unser
Thier genauer, gibt ihm aber noch drei Hörner: "Zwei größere Hörner", sagt er, "stehen, wie bei
den Hirschen, sind aber ästiger; denn sie haben manchmal 15 Aeste. Ein anderes Horn steht in der
Mitte des Kopfes und dient zur Vertheidigung gegen die Wölfe." Dieser Schriftsteller weiß, daß die
Nahrung des Renthieres aus Bergmos besteht, welches es unter dem Schnee hervorscharrt, weiß, daß
man es in Herden hält und hütet; daß es in einem anderen Klima bald zu Grunde geht; er erzählt,
daß der König von Schweden im Jahre 1533 einigen Herren aus Preußen zehn Stück geschenkt hat,
welche von diesen frei gelassen wurden; er berichtet, daß die Fuhrleute mit ihren ziehenden Hirschen
in den Thälern jeden Tag 50,000 Schritte machen und daß diese zu weiten Reisen benutzt werden;
er gibt auch schon den Nutzen und die Verwendung des Thieres an; denn er sagt, daß das Fell zu
Kleidern, Betten, Sätteln und Blasebälgen, die Sehnen zu Schnüren und als Zwirn, die Knochen
und Hörner zu Bogen und Pfeilen, die Klauen als Krampfmittel benutzt werden etc. Die auf ihn
folgenden Naturforscher mischen sehr viel Wahres und Falsches durch einander, bis auf Scheffer aus
Straßburg, welcher im Jahre 1675 in seinem Werke über Lappland schon vieles Wahre bringt.
Doch erst der große Linne ist es, welcher das Thier selbst und zwar genau beobachtet hat. Nach ihm

Die Hirſche. — Das Renthier.
zahmen Renthieren nehmen die Schalen ſo an Breite zu, daß man wildes und zahmes Renwild
unbedingt als Arten trennen müßte, wenn man den Bau der Hufe allein in Betracht ziehen wollte.
Ueberhaupt ſind die wilden Renthiere bei weitem zierlicher und anmuthiger gebaut, als die
zahmen, welche gleichſam verkrüppelt und verhäßlicht erſcheinen.

Die Decke oder der Pelz des Renthieres iſt ſo dicht, wie bei keinem anderen Hirſche.
Das Haar iſt dick, gewunden, gewellt, zellig, ſpröde und brüchig, nur am Kopf und Vorder-
hals, ſowie an den Beinen, da, wo es ſich verlängert, biegſamer und haltbarer. An der Vor-
derſeite des Halſes bildet ſich eine Mähne — zuweilen reicht ſie auch bis zur Bruſt herab
— und auch an den Backen verlängern ſich die Haare. Jm Winter werden ſie überall bis
dritthalb Zoll lang, und weil ſie ſehr dicht über einander liegen, bildet ſich dann eine Decke von
mindeſtens anderthalb Zoll Dicke, welche es ſehr erklärlich macht, daß das Renthier mit Leichtig-
keit eine bedeutende Kälte ertragen kann. Nach dem Vorkommen und noch mehr nach der Jahreszeit
iſt die allgemeine Färbung verſchieden. Die wilden Renthiere ändern mit ziemlicher Regelmäßigkeit
zwei Mal im Jahre ihr Haarkleid und deſſen Färbung. Mit Beginn des Frühlings fällt das reiche
Winterhaar aus, und ein kurzes, einfarbig graues Haar tritt an deſſen Stelle; es wachſen nun
mehr und mehr andere Haare dazwiſchen hervor, deren weiße Spitzen das graue Haar immer voll-
ſtändiger verdrängen, bis endlich das ganze Thier weißgrau, faſt fahl erſcheint, der Färbung ſchmel-
zenden, ſchmuzigen Schnees täuſchend ähnlich. Dieſe Umfärbung beginnt immer zuerſt am Kopfe,
zunächſt in der Augengegend, und verbreitet ſich dann weiter und weiter. Die Jnnenſeite der Ohren
iſt immer mit weißen Haaren beſetzt; dieſelbe Farbe hat auch ein Haarbüſchel an der Jnnenſeite
der Ferſe; die Wimpern ſind ſchwarz. Beim zahmen Renthier iſt die Färbung im Sommer am
Kopfe, Rücken, Bauch und an den Füßen dunkelbraun, am dunkelſten, faſt ſchwärzlich, auf dem
Rückgrat, heller an den Seiten des Leibes, über welche aber gewöhnlich zwei lichtere Längsſtreifen
laufen. Der Hals iſt viel lichter, als der Rücken, die Unterſeite weiß, die Stirn gewöhnlich ſchwarz-
braun, ein Kreis um die Augen ſchwarz; die Kopfſeiten ſind weiß. Jm Winter verſchwindet die
braune Farbe, und das weiße Haar tritt ebenfalls mehr hervor; doch gibt es auch viele Renthiere, welche
ſich im Winter nur durch verlängerte Haare auszeichnen, in der Färbung aber ſich gleichbleiben. Je
nach den Gegenden kommen Verſchiedenheiten aller Art häufig vor.

Schon die Alten kannten das Ren. Julius Cäſar beſchrieb es ziemlich richtig. „Jm
hercyniſchen Walde‟, ſagt er, „gibt es einen Ochſen von der Geſtalt des Hirſches, dem mitten auf
der Stirn ein viel größeres Horn ſteht, als es die übrigen haben; die Krone deſſelben breitet ſich
handförmig in viele Zacken aus. Das Weibchen hat eben ſolche Hörner.‟ Plinius mengt die Be-
ſchreibung des Renthiers und Elenthiers unter einander. Aelian erzählt, daß die wilden Scythen
auf gezähmten Hirſchen wie auf Pferden reiten. Olaus Magnus kennt (im Jahre 1530) unſer
Thier genauer, gibt ihm aber noch drei Hörner: „Zwei größere Hörner‟, ſagt er, „ſtehen, wie bei
den Hirſchen, ſind aber äſtiger; denn ſie haben manchmal 15 Aeſte. Ein anderes Horn ſteht in der
Mitte des Kopfes und dient zur Vertheidigung gegen die Wölfe.‟ Dieſer Schriftſteller weiß, daß die
Nahrung des Renthieres aus Bergmos beſteht, welches es unter dem Schnee hervorſcharrt, weiß, daß
man es in Herden hält und hütet; daß es in einem anderen Klima bald zu Grunde geht; er erzählt,
daß der König von Schweden im Jahre 1533 einigen Herren aus Preußen zehn Stück geſchenkt hat,
welche von dieſen frei gelaſſen wurden; er berichtet, daß die Fuhrleute mit ihren ziehenden Hirſchen
in den Thälern jeden Tag 50,000 Schritte machen und daß dieſe zu weiten Reiſen benutzt werden;
er gibt auch ſchon den Nutzen und die Verwendung des Thieres an; denn er ſagt, daß das Fell zu
Kleidern, Betten, Sätteln und Blaſebälgen, die Sehnen zu Schnüren und als Zwirn, die Knochen
und Hörner zu Bogen und Pfeilen, die Klauen als Krampfmittel benutzt werden ꝛc. Die auf ihn
folgenden Naturforſcher miſchen ſehr viel Wahres und Falſches durch einander, bis auf Scheffer aus
Straßburg, welcher im Jahre 1675 in ſeinem Werke über Lappland ſchon vieles Wahre bringt.
Doch erſt der große Linné iſt es, welcher das Thier ſelbſt und zwar genau beobachtet hat. Nach ihm

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[434/0460] Die Hirſche. — Das Renthier. zahmen Renthieren nehmen die Schalen ſo an Breite zu, daß man wildes und zahmes Renwild unbedingt als Arten trennen müßte, wenn man den Bau der Hufe allein in Betracht ziehen wollte. Ueberhaupt ſind die wilden Renthiere bei weitem zierlicher und anmuthiger gebaut, als die zahmen, welche gleichſam verkrüppelt und verhäßlicht erſcheinen. Die Decke oder der Pelz des Renthieres iſt ſo dicht, wie bei keinem anderen Hirſche. Das Haar iſt dick, gewunden, gewellt, zellig, ſpröde und brüchig, nur am Kopf und Vorder- hals, ſowie an den Beinen, da, wo es ſich verlängert, biegſamer und haltbarer. An der Vor- derſeite des Halſes bildet ſich eine Mähne — zuweilen reicht ſie auch bis zur Bruſt herab — und auch an den Backen verlängern ſich die Haare. Jm Winter werden ſie überall bis dritthalb Zoll lang, und weil ſie ſehr dicht über einander liegen, bildet ſich dann eine Decke von mindeſtens anderthalb Zoll Dicke, welche es ſehr erklärlich macht, daß das Renthier mit Leichtig- keit eine bedeutende Kälte ertragen kann. Nach dem Vorkommen und noch mehr nach der Jahreszeit iſt die allgemeine Färbung verſchieden. Die wilden Renthiere ändern mit ziemlicher Regelmäßigkeit zwei Mal im Jahre ihr Haarkleid und deſſen Färbung. Mit Beginn des Frühlings fällt das reiche Winterhaar aus, und ein kurzes, einfarbig graues Haar tritt an deſſen Stelle; es wachſen nun mehr und mehr andere Haare dazwiſchen hervor, deren weiße Spitzen das graue Haar immer voll- ſtändiger verdrängen, bis endlich das ganze Thier weißgrau, faſt fahl erſcheint, der Färbung ſchmel- zenden, ſchmuzigen Schnees täuſchend ähnlich. Dieſe Umfärbung beginnt immer zuerſt am Kopfe, zunächſt in der Augengegend, und verbreitet ſich dann weiter und weiter. Die Jnnenſeite der Ohren iſt immer mit weißen Haaren beſetzt; dieſelbe Farbe hat auch ein Haarbüſchel an der Jnnenſeite der Ferſe; die Wimpern ſind ſchwarz. Beim zahmen Renthier iſt die Färbung im Sommer am Kopfe, Rücken, Bauch und an den Füßen dunkelbraun, am dunkelſten, faſt ſchwärzlich, auf dem Rückgrat, heller an den Seiten des Leibes, über welche aber gewöhnlich zwei lichtere Längsſtreifen laufen. Der Hals iſt viel lichter, als der Rücken, die Unterſeite weiß, die Stirn gewöhnlich ſchwarz- braun, ein Kreis um die Augen ſchwarz; die Kopfſeiten ſind weiß. Jm Winter verſchwindet die braune Farbe, und das weiße Haar tritt ebenfalls mehr hervor; doch gibt es auch viele Renthiere, welche ſich im Winter nur durch verlängerte Haare auszeichnen, in der Färbung aber ſich gleichbleiben. Je nach den Gegenden kommen Verſchiedenheiten aller Art häufig vor. Schon die Alten kannten das Ren. Julius Cäſar beſchrieb es ziemlich richtig. „Jm hercyniſchen Walde‟, ſagt er, „gibt es einen Ochſen von der Geſtalt des Hirſches, dem mitten auf der Stirn ein viel größeres Horn ſteht, als es die übrigen haben; die Krone deſſelben breitet ſich handförmig in viele Zacken aus. Das Weibchen hat eben ſolche Hörner.‟ Plinius mengt die Be- ſchreibung des Renthiers und Elenthiers unter einander. Aelian erzählt, daß die wilden Scythen auf gezähmten Hirſchen wie auf Pferden reiten. Olaus Magnus kennt (im Jahre 1530) unſer Thier genauer, gibt ihm aber noch drei Hörner: „Zwei größere Hörner‟, ſagt er, „ſtehen, wie bei den Hirſchen, ſind aber äſtiger; denn ſie haben manchmal 15 Aeſte. Ein anderes Horn ſteht in der Mitte des Kopfes und dient zur Vertheidigung gegen die Wölfe.‟ Dieſer Schriftſteller weiß, daß die Nahrung des Renthieres aus Bergmos beſteht, welches es unter dem Schnee hervorſcharrt, weiß, daß man es in Herden hält und hütet; daß es in einem anderen Klima bald zu Grunde geht; er erzählt, daß der König von Schweden im Jahre 1533 einigen Herren aus Preußen zehn Stück geſchenkt hat, welche von dieſen frei gelaſſen wurden; er berichtet, daß die Fuhrleute mit ihren ziehenden Hirſchen in den Thälern jeden Tag 50,000 Schritte machen und daß dieſe zu weiten Reiſen benutzt werden; er gibt auch ſchon den Nutzen und die Verwendung des Thieres an; denn er ſagt, daß das Fell zu Kleidern, Betten, Sätteln und Blaſebälgen, die Sehnen zu Schnüren und als Zwirn, die Knochen und Hörner zu Bogen und Pfeilen, die Klauen als Krampfmittel benutzt werden ꝛc. Die auf ihn folgenden Naturforſcher miſchen ſehr viel Wahres und Falſches durch einander, bis auf Scheffer aus Straßburg, welcher im Jahre 1675 in ſeinem Werke über Lappland ſchon vieles Wahre bringt. Doch erſt der große Linné iſt es, welcher das Thier ſelbſt und zwar genau beobachtet hat. Nach ihm

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/460>, abgerufen am 23.11.2024.