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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Ratten.

"Man kann die Sandmaus den hübschesten Thieren beizählen, die man aus der Ordnung der
Nager zum Vergnügen hält. Sie wird ungemein zahm, verläßt den Kasig, läuft sorglos auf dem
Tisch umher und läßt sich ergreifen und nehmen, ohne Miene zum Beißen zu machen. Dabei ist sie
sehr reinlich und verbreitet gar keinen unangenehmen Geruch; namentlich die Jungen sind allerliebst.
Jhre großen, nicht sehr vorstehenden Augen und ihr schöner Pelz tragen viel zum angenehmen Ein-
drucke bei, welchen diese netten Thierchen auf den Beschauer machen; selbst ihre dichtbehaarten Schwänze
mit schwarzen Endquasten gereichen ihnen sehr zur Zierde."

"Da die Wüstensandmaus, als Nachtthier, vorzugsweise von der Abend- bis zur Mor-
gendämmerung ihr Wesen treibt, ihrer Nahrung nachgeht und unter Hüpfen, Laufen und Spie-
len die Zeit hinbringt, so bietet ihr natürlich der enge Käfig zu wenig Raum dar, um unbe-
schadet des Nestes die manchfaltigen Körperübungen vorzunehmen. Daher sah man auch von dem
Neste, solange die Jungen blind waren, in der Nacht fast keine Spur, und Alles war gleichförmig
zusammengetreten. Die Jungen waren zugedeckt, und, wenn sie nicht zuweilen sich durch eine Be-
wegung bemerklich gemacht hätten, man würde kaum geglaubt haben, daß außer der Mutter noch
lebende Junge im Käfig waren."



Die eigentlichen Ur- und Vorbilder der ganzen Familie, die Ratten und Mäuse, sind Dank
ihrer Zudringlichkeit als Gäste des Menschen in ihrem Treiben und Wesen nur zu bekannt. Unter
ihnen finden sich jene Arten, welche mit den Menschen über die ganze Erde gezogen sind und sich gegen-
wärtig auch auf den ödesten Jnseln angesiedelt haben. Es ist noch nicht so lange her, daß diese Welt-
verbreitung der Thiere stattfand; ja, man kennt an vielen Orten noch genau die Jahreszahl, in welcher
sie zuerst auftraten: gegenwärtig aber haben sie ihre Rundreise um den Erdball vollendet. Nirgends
dankt ihnen der Mensch die unverwüstliche Anhänglichkeit, welche sie an seine Person, an sein Haus
und seinen Hof an den Tag legen; überall verfolgt und haßt er sie auf das schonungsloseste; alle
Mittel setzt er in Bewegung, um sich von ihnen zu befreien: und dennoch bleiben sie ihm zugethan,
treuer noch, als der Hund, treuer, als irgend ein anderes Thier. Leider hat diese Anhänglichkeit nur
einen unedlen Grund: die Mäuse folgen dem Menschen blos um deshalb, weil sie in ihm ihren Ernährer
und Versorger erblicken; die anhänglichen Hausfreunde sind zugleich die schändlichsten, abscheulichsten
Hausdiebe, welche mit ihren spitzbübischen Werkzeugen sich überall einzunisten wissen, und ihrem Gast-
freunde Schaden auf Schaden, Verlust auf Verlust bereiten. Hierin ist es zu suchen, daß alle wahren
Mäuse schlechtweg für häßliche, garstige Thiere erklärt werden, obgleich sie Dies in Wahrheit durchaus
nicht alle sind. Manche müssen im Gegentheil höchst schmucke, anmuthige, nette Gesellen genannt
werden, und wir würden ihnen unbedingt unsere Zuneigung schenken, wollten sie uns weniger mit
ihren Besuchen beehren, als sie Dies gewöhnlich zu thun pflegen.

Alle wahren Mäuse zeigen die Gesammtkennzeichen ihrer Familie am vollständigsten. Man hat
sie in der Neuzeit in viele größere oder kleinere Gruppen getheilt, ohne für diese stichhaltige Unter-
scheidungsmerkmale aufstellen zu können. Der längere oder kürzere Schwanz und die Beschaffenheit
des Gebisses bilden die hauptsächlichsten Grundlagen zur Trennung in Abtheilungen; doch sind alle
Unterschiede sehr oberflächlich. Jm allgemeinen kennzeichnen die Mäuse die spitze, behaarte Schnauze,
die breite, gespaltene Oberlippe, die in fünf Reihen geordneten, langen und starken Schnurren, die
großen, runden, tiefschwarzen Augen, die frei aus dem Pelze hervorragenden Ohren und vor allem
der lange, nackte, blos spärlich mit steifen Härchen bekleidete, anstatt der Behaarung mit viereckigen
und verschobenviereckigen Schuppen bedeckte Schwanz. Die Vorderfüße haben vier Zehen und eine
Daumenwarze; die Hinterfüße sind fünfzehig. Jm Gebiß finden sich drei Backenzähne in jedem Kiefer,
welche von vorn nach hinten zu an Größe abnehmen. Jhre Kaufläche ist höckerig, schleift sich aber
mit der Zeit mehr und mehr ab, und dann entstehen quere Schmelzbänder, welche in hohem Alter
ebenfalls verschwinden können. Der Pelz besteht aus kurzem, wolligen Grundhaar und längeren,

Die Ratten.

„Man kann die Sandmaus den hübſcheſten Thieren beizählen, die man aus der Ordnung der
Nager zum Vergnügen hält. Sie wird ungemein zahm, verläßt den Kaſig, läuft ſorglos auf dem
Tiſch umher und läßt ſich ergreifen und nehmen, ohne Miene zum Beißen zu machen. Dabei iſt ſie
ſehr reinlich und verbreitet gar keinen unangenehmen Geruch; namentlich die Jungen ſind allerliebſt.
Jhre großen, nicht ſehr vorſtehenden Augen und ihr ſchöner Pelz tragen viel zum angenehmen Ein-
drucke bei, welchen dieſe netten Thierchen auf den Beſchauer machen; ſelbſt ihre dichtbehaarten Schwänze
mit ſchwarzen Endquaſten gereichen ihnen ſehr zur Zierde.‟

„Da die Wüſtenſandmaus, als Nachtthier, vorzugsweiſe von der Abend- bis zur Mor-
gendämmerung ihr Weſen treibt, ihrer Nahrung nachgeht und unter Hüpfen, Laufen und Spie-
len die Zeit hinbringt, ſo bietet ihr natürlich der enge Käfig zu wenig Raum dar, um unbe-
ſchadet des Neſtes die manchfaltigen Körperübungen vorzunehmen. Daher ſah man auch von dem
Neſte, ſolange die Jungen blind waren, in der Nacht faſt keine Spur, und Alles war gleichförmig
zuſammengetreten. Die Jungen waren zugedeckt, und, wenn ſie nicht zuweilen ſich durch eine Be-
wegung bemerklich gemacht hätten, man würde kaum geglaubt haben, daß außer der Mutter noch
lebende Junge im Käfig waren.‟



Die eigentlichen Ur- und Vorbilder der ganzen Familie, die Ratten und Mäuſe, ſind Dank
ihrer Zudringlichkeit als Gäſte des Menſchen in ihrem Treiben und Weſen nur zu bekannt. Unter
ihnen finden ſich jene Arten, welche mit den Menſchen über die ganze Erde gezogen ſind und ſich gegen-
wärtig auch auf den ödeſten Jnſeln angeſiedelt haben. Es iſt noch nicht ſo lange her, daß dieſe Welt-
verbreitung der Thiere ſtattfand; ja, man kennt an vielen Orten noch genau die Jahreszahl, in welcher
ſie zuerſt auftraten: gegenwärtig aber haben ſie ihre Rundreiſe um den Erdball vollendet. Nirgends
dankt ihnen der Menſch die unverwüſtliche Anhänglichkeit, welche ſie an ſeine Perſon, an ſein Haus
und ſeinen Hof an den Tag legen; überall verfolgt und haßt er ſie auf das ſchonungsloſeſte; alle
Mittel ſetzt er in Bewegung, um ſich von ihnen zu befreien: und dennoch bleiben ſie ihm zugethan,
treuer noch, als der Hund, treuer, als irgend ein anderes Thier. Leider hat dieſe Anhänglichkeit nur
einen unedlen Grund: die Mäuſe folgen dem Menſchen blos um deshalb, weil ſie in ihm ihren Ernährer
und Verſorger erblicken; die anhänglichen Hausfreunde ſind zugleich die ſchändlichſten, abſcheulichſten
Hausdiebe, welche mit ihren ſpitzbübiſchen Werkzeugen ſich überall einzuniſten wiſſen, und ihrem Gaſt-
freunde Schaden auf Schaden, Verluſt auf Verluſt bereiten. Hierin iſt es zu ſuchen, daß alle wahren
Mäuſe ſchlechtweg für häßliche, garſtige Thiere erklärt werden, obgleich ſie Dies in Wahrheit durchaus
nicht alle ſind. Manche müſſen im Gegentheil höchſt ſchmucke, anmuthige, nette Geſellen genannt
werden, und wir würden ihnen unbedingt unſere Zuneigung ſchenken, wollten ſie uns weniger mit
ihren Beſuchen beehren, als ſie Dies gewöhnlich zu thun pflegen.

Alle wahren Mäuſe zeigen die Geſammtkennzeichen ihrer Familie am vollſtändigſten. Man hat
ſie in der Neuzeit in viele größere oder kleinere Gruppen getheilt, ohne für dieſe ſtichhaltige Unter-
ſcheidungsmerkmale aufſtellen zu können. Der längere oder kürzere Schwanz und die Beſchaffenheit
des Gebiſſes bilden die hauptſächlichſten Grundlagen zur Trennung in Abtheilungen; doch ſind alle
Unterſchiede ſehr oberflächlich. Jm allgemeinen kennzeichnen die Mäuſe die ſpitze, behaarte Schnauze,
die breite, geſpaltene Oberlippe, die in fünf Reihen geordneten, langen und ſtarken Schnurren, die
großen, runden, tiefſchwarzen Augen, die frei aus dem Pelze hervorragenden Ohren und vor allem
der lange, nackte, blos ſpärlich mit ſteifen Härchen bekleidete, anſtatt der Behaarung mit viereckigen
und verſchobenviereckigen Schuppen bedeckte Schwanz. Die Vorderfüße haben vier Zehen und eine
Daumenwarze; die Hinterfüße ſind fünfzehig. Jm Gebiß finden ſich drei Backenzähne in jedem Kiefer,
welche von vorn nach hinten zu an Größe abnehmen. Jhre Kaufläche iſt höckerig, ſchleift ſich aber
mit der Zeit mehr und mehr ab, und dann entſtehen quere Schmelzbänder, welche in hohem Alter
ebenfalls verſchwinden können. Der Pelz beſteht aus kurzem, wolligen Grundhaar und längeren,

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[117/0131] Die Ratten. „Man kann die Sandmaus den hübſcheſten Thieren beizählen, die man aus der Ordnung der Nager zum Vergnügen hält. Sie wird ungemein zahm, verläßt den Kaſig, läuft ſorglos auf dem Tiſch umher und läßt ſich ergreifen und nehmen, ohne Miene zum Beißen zu machen. Dabei iſt ſie ſehr reinlich und verbreitet gar keinen unangenehmen Geruch; namentlich die Jungen ſind allerliebſt. Jhre großen, nicht ſehr vorſtehenden Augen und ihr ſchöner Pelz tragen viel zum angenehmen Ein- drucke bei, welchen dieſe netten Thierchen auf den Beſchauer machen; ſelbſt ihre dichtbehaarten Schwänze mit ſchwarzen Endquaſten gereichen ihnen ſehr zur Zierde.‟ „Da die Wüſtenſandmaus, als Nachtthier, vorzugsweiſe von der Abend- bis zur Mor- gendämmerung ihr Weſen treibt, ihrer Nahrung nachgeht und unter Hüpfen, Laufen und Spie- len die Zeit hinbringt, ſo bietet ihr natürlich der enge Käfig zu wenig Raum dar, um unbe- ſchadet des Neſtes die manchfaltigen Körperübungen vorzunehmen. Daher ſah man auch von dem Neſte, ſolange die Jungen blind waren, in der Nacht faſt keine Spur, und Alles war gleichförmig zuſammengetreten. Die Jungen waren zugedeckt, und, wenn ſie nicht zuweilen ſich durch eine Be- wegung bemerklich gemacht hätten, man würde kaum geglaubt haben, daß außer der Mutter noch lebende Junge im Käfig waren.‟ Die eigentlichen Ur- und Vorbilder der ganzen Familie, die Ratten und Mäuſe, ſind Dank ihrer Zudringlichkeit als Gäſte des Menſchen in ihrem Treiben und Weſen nur zu bekannt. Unter ihnen finden ſich jene Arten, welche mit den Menſchen über die ganze Erde gezogen ſind und ſich gegen- wärtig auch auf den ödeſten Jnſeln angeſiedelt haben. Es iſt noch nicht ſo lange her, daß dieſe Welt- verbreitung der Thiere ſtattfand; ja, man kennt an vielen Orten noch genau die Jahreszahl, in welcher ſie zuerſt auftraten: gegenwärtig aber haben ſie ihre Rundreiſe um den Erdball vollendet. Nirgends dankt ihnen der Menſch die unverwüſtliche Anhänglichkeit, welche ſie an ſeine Perſon, an ſein Haus und ſeinen Hof an den Tag legen; überall verfolgt und haßt er ſie auf das ſchonungsloſeſte; alle Mittel ſetzt er in Bewegung, um ſich von ihnen zu befreien: und dennoch bleiben ſie ihm zugethan, treuer noch, als der Hund, treuer, als irgend ein anderes Thier. Leider hat dieſe Anhänglichkeit nur einen unedlen Grund: die Mäuſe folgen dem Menſchen blos um deshalb, weil ſie in ihm ihren Ernährer und Verſorger erblicken; die anhänglichen Hausfreunde ſind zugleich die ſchändlichſten, abſcheulichſten Hausdiebe, welche mit ihren ſpitzbübiſchen Werkzeugen ſich überall einzuniſten wiſſen, und ihrem Gaſt- freunde Schaden auf Schaden, Verluſt auf Verluſt bereiten. Hierin iſt es zu ſuchen, daß alle wahren Mäuſe ſchlechtweg für häßliche, garſtige Thiere erklärt werden, obgleich ſie Dies in Wahrheit durchaus nicht alle ſind. Manche müſſen im Gegentheil höchſt ſchmucke, anmuthige, nette Geſellen genannt werden, und wir würden ihnen unbedingt unſere Zuneigung ſchenken, wollten ſie uns weniger mit ihren Beſuchen beehren, als ſie Dies gewöhnlich zu thun pflegen. Alle wahren Mäuſe zeigen die Geſammtkennzeichen ihrer Familie am vollſtändigſten. Man hat ſie in der Neuzeit in viele größere oder kleinere Gruppen getheilt, ohne für dieſe ſtichhaltige Unter- ſcheidungsmerkmale aufſtellen zu können. Der längere oder kürzere Schwanz und die Beſchaffenheit des Gebiſſes bilden die hauptſächlichſten Grundlagen zur Trennung in Abtheilungen; doch ſind alle Unterſchiede ſehr oberflächlich. Jm allgemeinen kennzeichnen die Mäuſe die ſpitze, behaarte Schnauze, die breite, geſpaltene Oberlippe, die in fünf Reihen geordneten, langen und ſtarken Schnurren, die großen, runden, tiefſchwarzen Augen, die frei aus dem Pelze hervorragenden Ohren und vor allem der lange, nackte, blos ſpärlich mit ſteifen Härchen bekleidete, anſtatt der Behaarung mit viereckigen und verſchobenviereckigen Schuppen bedeckte Schwanz. Die Vorderfüße haben vier Zehen und eine Daumenwarze; die Hinterfüße ſind fünfzehig. Jm Gebiß finden ſich drei Backenzähne in jedem Kiefer, welche von vorn nach hinten zu an Größe abnehmen. Jhre Kaufläche iſt höckerig, ſchleift ſich aber mit der Zeit mehr und mehr ab, und dann entſtehen quere Schmelzbänder, welche in hohem Alter ebenfalls verſchwinden können. Der Pelz beſteht aus kurzem, wolligen Grundhaar und längeren,

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/131>, abgerufen am 26.11.2024.