das Bewußtsein seiner unerreichbaren Fertigkeit ihm großes Vergnügen gewährt. Der Gibbon springt ohne Noth über Zwischenräume, welche er durch kleine Umwege leicht vermeiden könnte; er ändert im Sprunge die Richtung und hängt sich an den ersten, besten Zweig, schaukelt und wiegt sich an ihm, ersteigt ihn rasch, federt ihn auf und nieder und wirft sich wieder hinaus in die Luft, mit unfehlbarer Sicherheit einem neuen Ziele zustrebend. Es scheint, als ob er Zauberkräfte besäße und ohne Flügel gleichwohl fliegen könnte: er lebt mehr in der Luft, als in dem Gezweig. Was bedarf solch begabtes Wesen noch der Erde?! Sie bleibt ihm fremd, wie er ihr; sie bietet ihm höchstens die Labung des Trunkes, sonst stößt sie ihn zurück in sein lustiges Reich. Hier findet er seine Heimat; hier genießt er Ruhe, Frieden, Sicherheit; hier wird es ihm möglich, jedem Feinde zu trotzen oder zu entrinnen; hier darf er erleben, erglühen in der Lust seiner Bewegung.
Diese Lust zeigte sich recht deutlich an einem weiblichen Ungko, den man lebend nach London brachte. Man wollte an ihm die Bewegungsfähigkeit seiner Sippschaft prüfen und richtete ihm des- halb einen großen Raum besonders her. Hier und da, in verschiedenen Entfernungen, setzte man Bäume ein für das Kind der Höhe, um seinen wundervollen Bewegungen Spielraum zu gewähren. Die größte Weite von einem Ast zum andern betrug nur achtzehn Fuß, -- wenig für einen Affen, welcher in der Freiheit das Doppelte überspringen kann, viel, sehr viel für ein Thier, welches seiner Freiheit beraubt, in ein ihm fremdes und feindseliges Klima gebracht und seiner ursprünglichen Nah- rung entwöhnt worden war, welches eben erst eine so lange, entkräftende Seereife überstanden hatte. Doch trotz all dieser mißlichen Umstände gab der Gibbon derartige Beweise seiner Bewegungsfähig- keit zum besten, daß, wie mein Gewährsmann sagt, "alle Zuschauer vor Erstaunen und Bewunderung gerade zu außer sich waren."
Es war ihm eine Kleinigkeit, sich von einem Aste auf den andern zu schwingen, ohne die ge- ringste Vorbereitung dazu bemerklich werden zu lassen, und er erreichte sein erstrebtes Ziel mit un- wandelbarer Sicherheit. Er konnte seine Luftsprünge lange Zeit ununterbrochen fortsetzen, ohne dazu einen neuen sichtlichen Ansatz zu nehmen; den zum Sprunge nöthigen Abstoß gab er sich während der augenblicklichen Berührung der Aeste, welche er sich zum Auffußen erwählt hatte. Ebenso sicher, wie seine Bewegungen, waren bei ihm Auge und Hand. Die Zuschauer belustigten sich, ihm während seiner Sprünge Früchte zuzuwerfen: er fing sie auf, während er die Luft durchschnitt, ohne es der Mühe werth zu achten, deshalb seinen Flug zu unterbrechen. Er hatte sich stets und vollkommen in seiner Gewalt. Mitten im schnellsten Sprunge konnte er die begonnene Richtung ändern; während des kräftigsten Dahinschießens erfaßte er einen Zweig mit einer seiner Vorderhände, zog mit einem Rucke die Hinterfüße zu gleicher Höhe empor, packte mit ihnen den Ast und saß nun einen Augenblick später so ruhig da, als wäre er nie in Bewegung gewesen.
Es läßt sich denken, daß der Gibbon in der Freiheit noch ganz andere Proben seiner Beweglich- keit bieten kann, und die Erzählungen der Beobachter dürfen deshalb wohl auch allen Glauben ver- dienen, obgleich sie uns übertrieben zu sein scheinen. Die Berichterstatter vergleichen die Bewegungen der freilebenden Langarmaffen mit dem Fluge der Schwalben! Damit ist wohl Alles gesagt.
Die Beobachtung der Thiere im wilden Zustande ist übrigens sehr schwierig; denn sie sollen außerordentlich furchtsam und scheu sein, bei der geringsten Störung augenblicklich die Flucht ergreifen und dann in wenig Minuten dem Auge entschwinden. Nur ein gutes Fernrohr -- das unersetz- liche Werkzeug zur Beobachtung des Freilebens aller scheueren Thiere -- gestattet dem vorsichtigen Forscher, Einiges von ihrem gewöhnlichen Treiben zu erspähen. Durch dieses beobachtete Duvau- cel auch das gesellige Leben der Gibbons, namentlich das Verhältniß zwischen Mutter und Kind. Er erzählt von der außerordentlichen Liebe der erstern zu ihrem Sprößlinge und versichert unter Anderm, daß sie diesem noch eine andere Art der Reinigung zu Theil werden lasse, als man sonst bei den Affen kennen gelernt hat. "Ein wunderliches und anziehendes Schauspiel," sagt er, "habe ich, ob- schon mit einiger Vorsicht, oft beobachtet. Die Mütter bringen nämlich ihre Kinder von Zeit zu Zeit an das Wasser und waschen ihnen hier, ohne sich durch ihr abwehrendes Geschrei stören zu lassen,
Die Affen. Gibbons — Siamang, Ungko und Oa.
das Bewußtſein ſeiner unerreichbaren Fertigkeit ihm großes Vergnügen gewährt. Der Gibbon ſpringt ohne Noth über Zwiſchenräume, welche er durch kleine Umwege leicht vermeiden könnte; er ändert im Sprunge die Richtung und hängt ſich an den erſten, beſten Zweig, ſchaukelt und wiegt ſich an ihm, erſteigt ihn raſch, federt ihn auf und nieder und wirft ſich wieder hinaus in die Luft, mit unfehlbarer Sicherheit einem neuen Ziele zuſtrebend. Es ſcheint, als ob er Zauberkräfte beſäße und ohne Flügel gleichwohl fliegen könnte: er lebt mehr in der Luft, als in dem Gezweig. Was bedarf ſolch begabtes Weſen noch der Erde?! Sie bleibt ihm fremd, wie er ihr; ſie bietet ihm höchſtens die Labung des Trunkes, ſonſt ſtößt ſie ihn zurück in ſein luſtiges Reich. Hier findet er ſeine Heimat; hier genießt er Ruhe, Frieden, Sicherheit; hier wird es ihm möglich, jedem Feinde zu trotzen oder zu entrinnen; hier darf er erleben, erglühen in der Luſt ſeiner Bewegung.
Dieſe Luſt zeigte ſich recht deutlich an einem weiblichen Ungko, den man lebend nach London brachte. Man wollte an ihm die Bewegungsfähigkeit ſeiner Sippſchaft prüfen und richtete ihm des- halb einen großen Raum beſonders her. Hier und da, in verſchiedenen Entfernungen, ſetzte man Bäume ein für das Kind der Höhe, um ſeinen wundervollen Bewegungen Spielraum zu gewähren. Die größte Weite von einem Aſt zum andern betrug nur achtzehn Fuß, — wenig für einen Affen, welcher in der Freiheit das Doppelte überſpringen kann, viel, ſehr viel für ein Thier, welches ſeiner Freiheit beraubt, in ein ihm fremdes und feindſeliges Klima gebracht und ſeiner urſprünglichen Nah- rung entwöhnt worden war, welches eben erſt eine ſo lange, entkräftende Seereife überſtanden hatte. Doch trotz all dieſer mißlichen Umſtände gab der Gibbon derartige Beweiſe ſeiner Bewegungsfähig- keit zum beſten, daß, wie mein Gewährsmann ſagt, „alle Zuſchauer vor Erſtaunen und Bewunderung gerade zu außer ſich waren.‟
Es war ihm eine Kleinigkeit, ſich von einem Aſte auf den andern zu ſchwingen, ohne die ge- ringſte Vorbereitung dazu bemerklich werden zu laſſen, und er erreichte ſein erſtrebtes Ziel mit un- wandelbarer Sicherheit. Er konnte ſeine Luftſprünge lange Zeit ununterbrochen fortſetzen, ohne dazu einen neuen ſichtlichen Anſatz zu nehmen; den zum Sprunge nöthigen Abſtoß gab er ſich während der augenblicklichen Berührung der Aeſte, welche er ſich zum Auffußen erwählt hatte. Ebenſo ſicher, wie ſeine Bewegungen, waren bei ihm Auge und Hand. Die Zuſchauer beluſtigten ſich, ihm während ſeiner Sprünge Früchte zuzuwerfen: er fing ſie auf, während er die Luft durchſchnitt, ohne es der Mühe werth zu achten, deshalb ſeinen Flug zu unterbrechen. Er hatte ſich ſtets und vollkommen in ſeiner Gewalt. Mitten im ſchnellſten Sprunge konnte er die begonnene Richtung ändern; während des kräftigſten Dahinſchießens erfaßte er einen Zweig mit einer ſeiner Vorderhände, zog mit einem Rucke die Hinterfüße zu gleicher Höhe empor, packte mit ihnen den Aſt und ſaß nun einen Augenblick ſpäter ſo ruhig da, als wäre er nie in Bewegung geweſen.
Es läßt ſich denken, daß der Gibbon in der Freiheit noch ganz andere Proben ſeiner Beweglich- keit bieten kann, und die Erzählungen der Beobachter dürfen deshalb wohl auch allen Glauben ver- dienen, obgleich ſie uns übertrieben zu ſein ſcheinen. Die Berichterſtatter vergleichen die Bewegungen der freilebenden Langarmaffen mit dem Fluge der Schwalben! Damit iſt wohl Alles geſagt.
Die Beobachtung der Thiere im wilden Zuſtande iſt übrigens ſehr ſchwierig; denn ſie ſollen außerordentlich furchtſam und ſcheu ſein, bei der geringſten Störung augenblicklich die Flucht ergreifen und dann in wenig Minuten dem Auge entſchwinden. Nur ein gutes Fernrohr — das unerſetz- liche Werkzeug zur Beobachtung des Freilebens aller ſcheueren Thiere — geſtattet dem vorſichtigen Forſcher, Einiges von ihrem gewöhnlichen Treiben zu erſpähen. Durch dieſes beobachtete Duvau- cel auch das geſellige Leben der Gibbons, namentlich das Verhältniß zwiſchen Mutter und Kind. Er erzählt von der außerordentlichen Liebe der erſtern zu ihrem Sprößlinge und verſichert unter Anderm, daß ſie dieſem noch eine andere Art der Reinigung zu Theil werden laſſe, als man ſonſt bei den Affen kennen gelernt hat. „Ein wunderliches und anziehendes Schauſpiel,‟ ſagt er, „habe ich, ob- ſchon mit einiger Vorſicht, oft beobachtet. Die Mütter bringen nämlich ihre Kinder von Zeit zu Zeit an das Waſſer und waſchen ihnen hier, ohne ſich durch ihr abwehrendes Geſchrei ſtören zu laſſen,
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[38/0090]
Die Affen. Gibbons — Siamang, Ungko und Oa.
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ſpringt ohne Noth über Zwiſchenräume, welche er durch kleine Umwege leicht vermeiden könnte; er
ändert im Sprunge die Richtung und hängt ſich an den erſten, beſten Zweig, ſchaukelt und wiegt
ſich an ihm, erſteigt ihn raſch, federt ihn auf und nieder und wirft ſich wieder hinaus in die Luft, mit
unfehlbarer Sicherheit einem neuen Ziele zuſtrebend. Es ſcheint, als ob er Zauberkräfte beſäße und
ohne Flügel gleichwohl fliegen könnte: er lebt mehr in der Luft, als in dem Gezweig. Was bedarf
ſolch begabtes Weſen noch der Erde?! Sie bleibt ihm fremd, wie er ihr; ſie bietet ihm höchſtens die
Labung des Trunkes, ſonſt ſtößt ſie ihn zurück in ſein luſtiges Reich. Hier findet er ſeine Heimat;
hier genießt er Ruhe, Frieden, Sicherheit; hier wird es ihm möglich, jedem Feinde zu trotzen oder zu
entrinnen; hier darf er erleben, erglühen in der Luſt ſeiner Bewegung.
Dieſe Luſt zeigte ſich recht deutlich an einem weiblichen Ungko, den man lebend nach London
brachte. Man wollte an ihm die Bewegungsfähigkeit ſeiner Sippſchaft prüfen und richtete ihm des-
halb einen großen Raum beſonders her. Hier und da, in verſchiedenen Entfernungen, ſetzte man
Bäume ein für das Kind der Höhe, um ſeinen wundervollen Bewegungen Spielraum zu gewähren.
Die größte Weite von einem Aſt zum andern betrug nur achtzehn Fuß, — wenig für einen Affen,
welcher in der Freiheit das Doppelte überſpringen kann, viel, ſehr viel für ein Thier, welches ſeiner
Freiheit beraubt, in ein ihm fremdes und feindſeliges Klima gebracht und ſeiner urſprünglichen Nah-
rung entwöhnt worden war, welches eben erſt eine ſo lange, entkräftende Seereife überſtanden hatte.
Doch trotz all dieſer mißlichen Umſtände gab der Gibbon derartige Beweiſe ſeiner Bewegungsfähig-
keit zum beſten, daß, wie mein Gewährsmann ſagt, „alle Zuſchauer vor Erſtaunen und Bewunderung
gerade zu außer ſich waren.‟
Es war ihm eine Kleinigkeit, ſich von einem Aſte auf den andern zu ſchwingen, ohne die ge-
ringſte Vorbereitung dazu bemerklich werden zu laſſen, und er erreichte ſein erſtrebtes Ziel mit un-
wandelbarer Sicherheit. Er konnte ſeine Luftſprünge lange Zeit ununterbrochen fortſetzen, ohne dazu
einen neuen ſichtlichen Anſatz zu nehmen; den zum Sprunge nöthigen Abſtoß gab er ſich während der
augenblicklichen Berührung der Aeſte, welche er ſich zum Auffußen erwählt hatte. Ebenſo ſicher, wie
ſeine Bewegungen, waren bei ihm Auge und Hand. Die Zuſchauer beluſtigten ſich, ihm während
ſeiner Sprünge Früchte zuzuwerfen: er fing ſie auf, während er die Luft durchſchnitt, ohne es der
Mühe werth zu achten, deshalb ſeinen Flug zu unterbrechen. Er hatte ſich ſtets und vollkommen in
ſeiner Gewalt. Mitten im ſchnellſten Sprunge konnte er die begonnene Richtung ändern; während des
kräftigſten Dahinſchießens erfaßte er einen Zweig mit einer ſeiner Vorderhände, zog mit einem Rucke
die Hinterfüße zu gleicher Höhe empor, packte mit ihnen den Aſt und ſaß nun einen Augenblick ſpäter
ſo ruhig da, als wäre er nie in Bewegung geweſen.
Es läßt ſich denken, daß der Gibbon in der Freiheit noch ganz andere Proben ſeiner Beweglich-
keit bieten kann, und die Erzählungen der Beobachter dürfen deshalb wohl auch allen Glauben ver-
dienen, obgleich ſie uns übertrieben zu ſein ſcheinen. Die Berichterſtatter vergleichen die Bewegungen
der freilebenden Langarmaffen mit dem Fluge der Schwalben! Damit iſt wohl Alles geſagt.
Die Beobachtung der Thiere im wilden Zuſtande iſt übrigens ſehr ſchwierig; denn ſie ſollen
außerordentlich furchtſam und ſcheu ſein, bei der geringſten Störung augenblicklich die Flucht ergreifen
und dann in wenig Minuten dem Auge entſchwinden. Nur ein gutes Fernrohr — das unerſetz-
liche Werkzeug zur Beobachtung des Freilebens aller ſcheueren Thiere — geſtattet dem vorſichtigen
Forſcher, Einiges von ihrem gewöhnlichen Treiben zu erſpähen. Durch dieſes beobachtete Duvau-
cel auch das geſellige Leben der Gibbons, namentlich das Verhältniß zwiſchen Mutter und Kind.
Er erzählt von der außerordentlichen Liebe der erſtern zu ihrem Sprößlinge und verſichert unter
Anderm, daß ſie dieſem noch eine andere Art der Reinigung zu Theil werden laſſe, als man ſonſt bei
den Affen kennen gelernt hat. „Ein wunderliches und anziehendes Schauſpiel,‟ ſagt er, „habe ich, ob-
ſchon mit einiger Vorſicht, oft beobachtet. Die Mütter bringen nämlich ihre Kinder von Zeit zu Zeit
an das Waſſer und waſchen ihnen hier, ohne ſich durch ihr abwehrendes Geſchrei ſtören zu laſſen,
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/90>, abgerufen am 16.07.2024.
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