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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864.

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Lebensweise. Tschudi's Schilderung.
sein durchdringendes, widerliches Heulen. So lange es geht, liegt er in der tiefsten Verborgenheit und
jagt, auf dem Anstand lauernd, der Länge nach auf einem bequemen untern Baumast im Dickicht
hingestreckt, wo ihn das Laubwerk halb verhüllt, ohne ihn beim Absprunge zu hindern. Auge und
Ohr in schärfster Spannung liegt er Tage lang auf dem gleichen Fleck und scheint mit halb gesenkten
Lidern zu schlafen, wenn seine verrätherische Wachsamkeit am größten ist. Er lebt von der List, da
sein (wie aller Katzen) stumpfer Geruchsinn, seine verhältnißmäßig geringe Schnelligkeit ihn zum
offnen Angriff nicht befähigen. Geduldiges Lauern, außerordentlich leises, katzenartiges Schleichen
bringt ihn zu Beute. Er ist nicht so schlau, als der Fuchs, aber geduldiger; nicht so frech, als der
Wolf, aber ausdauernder, von gewandterm Sprung; nicht so kräftig, wie der Bär, aber scharfsinniger,
aufmerksamer. Seine größte Kraft liegt in den Füßen, der Kinnlade und dem Nacken. Er weiß sich
die Jagd bequem zu machen und ist nur wählerisch in der Beute, wenn er Fülle hat. Was er mit
seinem langen, sichern Sprung erreicht, wird niedergerissen; erreicht er sein Thier nicht, so läßt er es
gleichgiltig fliehen und kehrt ohne ein Zeichen von Gemüthsbewegung auf seinen Baumast zurück. Er
ist nicht gefräßig, aber liebt das frische, warme Blut und wird durch diese Liebhaberei unvorsichtig.
Erlauert er am Tage Nichts und wird er hungrig, so streift er des Nachts umher, oft ungeheuer weit,
auf drei bis vier Alpen; der Hunger macht ihn muthig und schärft seine Klugheit und seine Sinne.
Trifft er eine weidende Schaf- oder Ziegenherde, so schleicht er, schlangenartig auf dem Bauche sich
windend, heran, schnellt sich im günstigen Augenblicke vom Boden auf, dem aufspringenden Thiere auf
den Rücken, zerbeißt ihm die Pulsader oder das Genick und tödtet es so augenblicklich. Dann leckt er
zuerst das Blut, reißt dann den Bauch auf, frißt die Eingeweide und etwas von Kopf, Hals und
Schultern und läßt das Uebrige liegen. Daß er den Rest verscharre, ist nicht erwiesen, wenigstens in
unseren Alpen geschieht es nicht; auch frißt der Luchs schwerlich Aas. Seine eigenthümliche Art der
Zerfleischung läßt die Hirten über den Thäter nie im Zweifel. Nicht selten aber reißt er drei bis vier
Ziegen oder Schafe auf einmal nieder, ja er fällt im Hunger selbst Kälber und Kühe an. Ein im
Februar 1813 im Kanton Schwyz am Axenberge geschossener hatte in wenigen Wochen an vierzig
Schafe und Ziegen zerfleischt. Jm Sommer 1814 zerrissen drei oder vier Luchse in den Gebirgen des
Simmenthales 160 Schafe und Ziegen."

"Hat der Luchs aber Wildpret genug, so hält er sich an dieses und scheint eine gewisse Scheu zu
haben, sich durch Zerreißung der Hausthiere zu verrathen. Die in den Alpen lebenden Gemsen fällt
er mit Vorliebe an; doch übertreffen ihn diese an Feinheit der Witterung und entgehen ihm häufig,
selbst wenn er sich an ihre Wechsel und Sulzen in Hinterhalt legt. Häufiger erbeutet er Dachse,
Murmelthiere, Alpenhasen, Hasel-, Schnee-, Birk-
und Urhühner und greift im Nothfall
selbst zu Eichhörnchen und Mäusen. Selten fällt ihm bei uns im Winter, wo er sich oft in die
unteren Berge und selbst in die Thäler wagen muß, ein Reh zu; dagegen versucht er es wohl, sich
unter der Erde nach den Ziegen- oder Schafställen durchzugraben, wobei einst ein Ziegenbock, der
den unterirdischen Feind bemerkte, als er eben den Kopf aus der Erde hob, diesem so derbe Stöße
zutheilte, daß der Räuber todt in seiner Mine liegen blieb."

"Die Luchse vermehren sich nicht stark. Jm Januar oder Februar sollen sie sich ohne das ge-
wöhnliche, abscheuliche Katzengeschrei begatten und nach zehn Wochen wirft das Weibchen in einer
tiefverborgenen Höhle, oft auch in einem erweiterten Dachs- oder Fuchsbau, unter einer Baumwurzel
oder einem Felsen zwei bis höchstens drei blinde Junge, denen es Mäuse, Maulwürfe, kleine
Vögel und dergleichen zuträgt."

"Regelmäßige Luchsjagden finden bei der Seltenheit des Raubthieres nicht statt. Findet man
auch Spuren seiner Mordgier, so ist doch der Thäter gewöhnlich sehr weit weg und flieht, wenn er
förmlich gejagt wird, in ganz andere Gegenden. Stößt ihm aber der Jäger unvermuthet auf, so weicht
der Luchs nicht von der Stelle und ist sehr leicht zu schießen. Er bleibt ruhig auf seinem Baume liegen
und starrt den Menschen unverwandt an, wie die wilde Katze, ja der unbewaffnete Jäger überlistet ihn
sogar, indem er ein Paar Kleidungsstücke vor ihn hinpflanzt und inzwischen zu Hause seine Flinte holt.

Lebensweiſe. Tſchudi’s Schilderung.
ſein durchdringendes, widerliches Heulen. So lange es geht, liegt er in der tiefſten Verborgenheit und
jagt, auf dem Anſtand lauernd, der Länge nach auf einem bequemen untern Baumaſt im Dickicht
hingeſtreckt, wo ihn das Laubwerk halb verhüllt, ohne ihn beim Abſprunge zu hindern. Auge und
Ohr in ſchärfſter Spannung liegt er Tage lang auf dem gleichen Fleck und ſcheint mit halb geſenkten
Lidern zu ſchlafen, wenn ſeine verrätheriſche Wachſamkeit am größten iſt. Er lebt von der Liſt, da
ſein (wie aller Katzen) ſtumpfer Geruchſinn, ſeine verhältnißmäßig geringe Schnelligkeit ihn zum
offnen Angriff nicht befähigen. Geduldiges Lauern, außerordentlich leiſes, katzenartiges Schleichen
bringt ihn zu Beute. Er iſt nicht ſo ſchlau, als der Fuchs, aber geduldiger; nicht ſo frech, als der
Wolf, aber ausdauernder, von gewandterm Sprung; nicht ſo kräftig, wie der Bär, aber ſcharfſinniger,
aufmerkſamer. Seine größte Kraft liegt in den Füßen, der Kinnlade und dem Nacken. Er weiß ſich
die Jagd bequem zu machen und iſt nur wähleriſch in der Beute, wenn er Fülle hat. Was er mit
ſeinem langen, ſichern Sprung erreicht, wird niedergeriſſen; erreicht er ſein Thier nicht, ſo läßt er es
gleichgiltig fliehen und kehrt ohne ein Zeichen von Gemüthsbewegung auf ſeinen Baumaſt zurück. Er
iſt nicht gefräßig, aber liebt das friſche, warme Blut und wird durch dieſe Liebhaberei unvorſichtig.
Erlauert er am Tage Nichts und wird er hungrig, ſo ſtreift er des Nachts umher, oft ungeheuer weit,
auf drei bis vier Alpen; der Hunger macht ihn muthig und ſchärft ſeine Klugheit und ſeine Sinne.
Trifft er eine weidende Schaf- oder Ziegenherde, ſo ſchleicht er, ſchlangenartig auf dem Bauche ſich
windend, heran, ſchnellt ſich im günſtigen Augenblicke vom Boden auf, dem aufſpringenden Thiere auf
den Rücken, zerbeißt ihm die Pulsader oder das Genick und tödtet es ſo augenblicklich. Dann leckt er
zuerſt das Blut, reißt dann den Bauch auf, frißt die Eingeweide und etwas von Kopf, Hals und
Schultern und läßt das Uebrige liegen. Daß er den Reſt verſcharre, iſt nicht erwieſen, wenigſtens in
unſeren Alpen geſchieht es nicht; auch frißt der Luchs ſchwerlich Aas. Seine eigenthümliche Art der
Zerfleiſchung läßt die Hirten über den Thäter nie im Zweifel. Nicht ſelten aber reißt er drei bis vier
Ziegen oder Schafe auf einmal nieder, ja er fällt im Hunger ſelbſt Kälber und Kühe an. Ein im
Februar 1813 im Kanton Schwyz am Axenberge geſchoſſener hatte in wenigen Wochen an vierzig
Schafe und Ziegen zerfleiſcht. Jm Sommer 1814 zerriſſen drei oder vier Luchſe in den Gebirgen des
Simmenthales 160 Schafe und Ziegen.‟

„Hat der Luchs aber Wildpret genug, ſo hält er ſich an dieſes und ſcheint eine gewiſſe Scheu zu
haben, ſich durch Zerreißung der Hausthiere zu verrathen. Die in den Alpen lebenden Gemſen fällt
er mit Vorliebe an; doch übertreffen ihn dieſe an Feinheit der Witterung und entgehen ihm häufig,
ſelbſt wenn er ſich an ihre Wechſel und Sulzen in Hinterhalt legt. Häufiger erbeutet er Dachſe,
Murmelthiere, Alpenhaſen, Haſel-, Schnee-, Birk-
und Urhühner und greift im Nothfall
ſelbſt zu Eichhörnchen und Mäuſen. Selten fällt ihm bei uns im Winter, wo er ſich oft in die
unteren Berge und ſelbſt in die Thäler wagen muß, ein Reh zu; dagegen verſucht er es wohl, ſich
unter der Erde nach den Ziegen- oder Schafſtällen durchzugraben, wobei einſt ein Ziegenbock, der
den unterirdiſchen Feind bemerkte, als er eben den Kopf aus der Erde hob, dieſem ſo derbe Stöße
zutheilte, daß der Räuber todt in ſeiner Mine liegen blieb.‟

„Die Luchſe vermehren ſich nicht ſtark. Jm Januar oder Februar ſollen ſie ſich ohne das ge-
wöhnliche, abſcheuliche Katzengeſchrei begatten und nach zehn Wochen wirft das Weibchen in einer
tiefverborgenen Höhle, oft auch in einem erweiterten Dachs- oder Fuchsbau, unter einer Baumwurzel
oder einem Felſen zwei bis höchſtens drei blinde Junge, denen es Mäuſe, Maulwürfe, kleine
Vögel und dergleichen zuträgt.‟

„Regelmäßige Luchsjagden finden bei der Seltenheit des Raubthieres nicht ſtatt. Findet man
auch Spuren ſeiner Mordgier, ſo iſt doch der Thäter gewöhnlich ſehr weit weg und flieht, wenn er
förmlich gejagt wird, in ganz andere Gegenden. Stößt ihm aber der Jäger unvermuthet auf, ſo weicht
der Luchs nicht von der Stelle und iſt ſehr leicht zu ſchießen. Er bleibt ruhig auf ſeinem Baume liegen
und ſtarrt den Menſchen unverwandt an, wie die wilde Katze, ja der unbewaffnete Jäger überliſtet ihn
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[297/0361] Lebensweiſe. Tſchudi’s Schilderung. ſein durchdringendes, widerliches Heulen. So lange es geht, liegt er in der tiefſten Verborgenheit und jagt, auf dem Anſtand lauernd, der Länge nach auf einem bequemen untern Baumaſt im Dickicht hingeſtreckt, wo ihn das Laubwerk halb verhüllt, ohne ihn beim Abſprunge zu hindern. Auge und Ohr in ſchärfſter Spannung liegt er Tage lang auf dem gleichen Fleck und ſcheint mit halb geſenkten Lidern zu ſchlafen, wenn ſeine verrätheriſche Wachſamkeit am größten iſt. Er lebt von der Liſt, da ſein (wie aller Katzen) ſtumpfer Geruchſinn, ſeine verhältnißmäßig geringe Schnelligkeit ihn zum offnen Angriff nicht befähigen. Geduldiges Lauern, außerordentlich leiſes, katzenartiges Schleichen bringt ihn zu Beute. Er iſt nicht ſo ſchlau, als der Fuchs, aber geduldiger; nicht ſo frech, als der Wolf, aber ausdauernder, von gewandterm Sprung; nicht ſo kräftig, wie der Bär, aber ſcharfſinniger, aufmerkſamer. Seine größte Kraft liegt in den Füßen, der Kinnlade und dem Nacken. Er weiß ſich die Jagd bequem zu machen und iſt nur wähleriſch in der Beute, wenn er Fülle hat. Was er mit ſeinem langen, ſichern Sprung erreicht, wird niedergeriſſen; erreicht er ſein Thier nicht, ſo läßt er es gleichgiltig fliehen und kehrt ohne ein Zeichen von Gemüthsbewegung auf ſeinen Baumaſt zurück. Er iſt nicht gefräßig, aber liebt das friſche, warme Blut und wird durch dieſe Liebhaberei unvorſichtig. Erlauert er am Tage Nichts und wird er hungrig, ſo ſtreift er des Nachts umher, oft ungeheuer weit, auf drei bis vier Alpen; der Hunger macht ihn muthig und ſchärft ſeine Klugheit und ſeine Sinne. Trifft er eine weidende Schaf- oder Ziegenherde, ſo ſchleicht er, ſchlangenartig auf dem Bauche ſich windend, heran, ſchnellt ſich im günſtigen Augenblicke vom Boden auf, dem aufſpringenden Thiere auf den Rücken, zerbeißt ihm die Pulsader oder das Genick und tödtet es ſo augenblicklich. Dann leckt er zuerſt das Blut, reißt dann den Bauch auf, frißt die Eingeweide und etwas von Kopf, Hals und Schultern und läßt das Uebrige liegen. Daß er den Reſt verſcharre, iſt nicht erwieſen, wenigſtens in unſeren Alpen geſchieht es nicht; auch frißt der Luchs ſchwerlich Aas. Seine eigenthümliche Art der Zerfleiſchung läßt die Hirten über den Thäter nie im Zweifel. Nicht ſelten aber reißt er drei bis vier Ziegen oder Schafe auf einmal nieder, ja er fällt im Hunger ſelbſt Kälber und Kühe an. Ein im Februar 1813 im Kanton Schwyz am Axenberge geſchoſſener hatte in wenigen Wochen an vierzig Schafe und Ziegen zerfleiſcht. Jm Sommer 1814 zerriſſen drei oder vier Luchſe in den Gebirgen des Simmenthales 160 Schafe und Ziegen.‟ „Hat der Luchs aber Wildpret genug, ſo hält er ſich an dieſes und ſcheint eine gewiſſe Scheu zu haben, ſich durch Zerreißung der Hausthiere zu verrathen. Die in den Alpen lebenden Gemſen fällt er mit Vorliebe an; doch übertreffen ihn dieſe an Feinheit der Witterung und entgehen ihm häufig, ſelbſt wenn er ſich an ihre Wechſel und Sulzen in Hinterhalt legt. Häufiger erbeutet er Dachſe, Murmelthiere, Alpenhaſen, Haſel-, Schnee-, Birk- und Urhühner und greift im Nothfall ſelbſt zu Eichhörnchen und Mäuſen. Selten fällt ihm bei uns im Winter, wo er ſich oft in die unteren Berge und ſelbſt in die Thäler wagen muß, ein Reh zu; dagegen verſucht er es wohl, ſich unter der Erde nach den Ziegen- oder Schafſtällen durchzugraben, wobei einſt ein Ziegenbock, der den unterirdiſchen Feind bemerkte, als er eben den Kopf aus der Erde hob, dieſem ſo derbe Stöße zutheilte, daß der Räuber todt in ſeiner Mine liegen blieb.‟ „Die Luchſe vermehren ſich nicht ſtark. Jm Januar oder Februar ſollen ſie ſich ohne das ge- wöhnliche, abſcheuliche Katzengeſchrei begatten und nach zehn Wochen wirft das Weibchen in einer tiefverborgenen Höhle, oft auch in einem erweiterten Dachs- oder Fuchsbau, unter einer Baumwurzel oder einem Felſen zwei bis höchſtens drei blinde Junge, denen es Mäuſe, Maulwürfe, kleine Vögel und dergleichen zuträgt.‟ „Regelmäßige Luchsjagden finden bei der Seltenheit des Raubthieres nicht ſtatt. Findet man auch Spuren ſeiner Mordgier, ſo iſt doch der Thäter gewöhnlich ſehr weit weg und flieht, wenn er förmlich gejagt wird, in ganz andere Gegenden. Stößt ihm aber der Jäger unvermuthet auf, ſo weicht der Luchs nicht von der Stelle und iſt ſehr leicht zu ſchießen. Er bleibt ruhig auf ſeinem Baume liegen und ſtarrt den Menſchen unverwandt an, wie die wilde Katze, ja der unbewaffnete Jäger überliſtet ihn ſogar, indem er ein Paar Kleidungsſtücke vor ihn hinpflanzt und inzwiſchen zu Hauſe ſeine Flinte holt.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/361>, abgerufen am 27.11.2024.