Der mähnenlose Löwe findet sich in Guzerate längs der Ufer der Flüsse und lebt dort in den niederen Gras- und Schilfdickichten, welche wir unter dem Namen Dschungeln kennen. Während der heißen Jahreszeit vertreiben ihn die Einwohner aus diesen Schlupfwinkeln durch das Anzünden der Steppenwaldungen, welches bezweckt, daß der Boden für das nächste Jahr gedüngt wird und frisches, grünes, saftiges Weidegras giebt. Sie sind dort so häufig, daß Smee elf von ihnen in einem Monat erlegen konnte. Gleichwohl wissen die Eingebornen nicht viel von ihnen zu erzählen, höchstens mit Ausnahme der Hirten, welche sie kennen. Die Herden werden freilich oft genug von ihnen heimgesucht und besteuert, aber diese Ueberfälle schreibt man dann dem Tiger zu, welcher in jenen Gegenden gar nicht vorkommt. Diejenigen Eingebornen, welche den Löwen kennen, nennen ihn Ondiabauch oder Kameltiger, wegen der Aehnlichkeit seines Felles mit jenem Thiere. Wie es scheint, fügen diese Löwen den Herden großen Schaden zu. Jnnerhalb zehn Tagen wurden in einem
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Der Löwe von Guzerate (Leo Googratensis).
einzigen Dorfe vier Esel gestohlen. Ob sie Menschen angreifen, ist sehr fraglich; Smee konnte davon Nichts erfahren. Die durch eine Kugel Verwundeten zeigten großen Muth. Sie stellten sich und bereiteten sich zum Widerstand vor oder gingen stolz und langsam davon, während der Tiger unter solchen Umständen so schnell als möglich ausreißt. Außer in genannter Gegend kommt dasselbe Thier auch noch weiter in Jndien vor, und es ist sehr möglich, daß der südpersische Löwe dieser Abart zuzu- rechnen sein dürfte. Jedenfalls ist es derselbe, von welchem schon die Alten behaupteten, daß er keine Mähne trüge.
Die neue Welt erinnert durch ihre Erzeugnisse oft in eigenthümlicher Weise an die ihr entgegen- gesetzten Erdtheile. Erhaben und herrlich sind die lebendigen Gebilde, welche ihr ureigen sind: ver-
Kennzeichen verſchiedener Löwenarten.
Der mähnenloſe Löwe findet ſich in Guzerate längs der Ufer der Flüſſe und lebt dort in den niederen Gras- und Schilfdickichten, welche wir unter dem Namen Dſchungeln kennen. Während der heißen Jahreszeit vertreiben ihn die Einwohner aus dieſen Schlupfwinkeln durch das Anzünden der Steppenwaldungen, welches bezweckt, daß der Boden für das nächſte Jahr gedüngt wird und friſches, grünes, ſaftiges Weidegras giebt. Sie ſind dort ſo häufig, daß Smee elf von ihnen in einem Monat erlegen konnte. Gleichwohl wiſſen die Eingebornen nicht viel von ihnen zu erzählen, höchſtens mit Ausnahme der Hirten, welche ſie kennen. Die Herden werden freilich oft genug von ihnen heimgeſucht und beſteuert, aber dieſe Ueberfälle ſchreibt man dann dem Tiger zu, welcher in jenen Gegenden gar nicht vorkommt. Diejenigen Eingebornen, welche den Löwen kennen, nennen ihn Ondiabauch oder Kameltiger, wegen der Aehnlichkeit ſeines Felles mit jenem Thiere. Wie es ſcheint, fügen dieſe Löwen den Herden großen Schaden zu. Jnnerhalb zehn Tagen wurden in einem
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Der Löwe von Guzerate (Leo Googratensis).
einzigen Dorfe vier Eſel geſtohlen. Ob ſie Menſchen angreifen, iſt ſehr fraglich; Smee konnte davon Nichts erfahren. Die durch eine Kugel Verwundeten zeigten großen Muth. Sie ſtellten ſich und bereiteten ſich zum Widerſtand vor oder gingen ſtolz und langſam davon, während der Tiger unter ſolchen Umſtänden ſo ſchnell als möglich ausreißt. Außer in genannter Gegend kommt daſſelbe Thier auch noch weiter in Jndien vor, und es iſt ſehr möglich, daß der ſüdperſiſche Löwe dieſer Abart zuzu- rechnen ſein dürfte. Jedenfalls iſt es derſelbe, von welchem ſchon die Alten behaupteten, daß er keine Mähne trüge.
Die neue Welt erinnert durch ihre Erzeugniſſe oft in eigenthümlicher Weiſe an die ihr entgegen- geſetzten Erdtheile. Erhaben und herrlich ſind die lebendigen Gebilde, welche ihr ureigen ſind: ver-
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Kennzeichen verſchiedener Löwenarten.
Der mähnenloſe Löwe findet ſich in Guzerate längs der Ufer der Flüſſe und lebt dort in den
niederen Gras- und Schilfdickichten, welche wir unter dem Namen Dſchungeln kennen. Während
der heißen Jahreszeit vertreiben ihn die Einwohner aus dieſen Schlupfwinkeln durch das Anzünden
der Steppenwaldungen, welches bezweckt, daß der Boden für das nächſte Jahr gedüngt wird und
friſches, grünes, ſaftiges Weidegras giebt. Sie ſind dort ſo häufig, daß Smee elf von ihnen in
einem Monat erlegen konnte. Gleichwohl wiſſen die Eingebornen nicht viel von ihnen zu erzählen,
höchſtens mit Ausnahme der Hirten, welche ſie kennen. Die Herden werden freilich oft genug von
ihnen heimgeſucht und beſteuert, aber dieſe Ueberfälle ſchreibt man dann dem Tiger zu, welcher in
jenen Gegenden gar nicht vorkommt. Diejenigen Eingebornen, welche den Löwen kennen, nennen ihn
Ondiabauch oder Kameltiger, wegen der Aehnlichkeit ſeines Felles mit jenem Thiere. Wie es
ſcheint, fügen dieſe Löwen den Herden großen Schaden zu. Jnnerhalb zehn Tagen wurden in einem
[Abbildung Der Löwe von Guzerate (Leo Googratensis).]
einzigen Dorfe vier Eſel geſtohlen. Ob ſie Menſchen angreifen, iſt ſehr fraglich; Smee konnte davon
Nichts erfahren. Die durch eine Kugel Verwundeten zeigten großen Muth. Sie ſtellten ſich und
bereiteten ſich zum Widerſtand vor oder gingen ſtolz und langſam davon, während der Tiger unter
ſolchen Umſtänden ſo ſchnell als möglich ausreißt. Außer in genannter Gegend kommt daſſelbe Thier
auch noch weiter in Jndien vor, und es iſt ſehr möglich, daß der ſüdperſiſche Löwe dieſer Abart zuzu-
rechnen ſein dürfte. Jedenfalls iſt es derſelbe, von welchem ſchon die Alten behaupteten, daß er
keine Mähne trüge.
Die neue Welt erinnert durch ihre Erzeugniſſe oft in eigenthümlicher Weiſe an die ihr entgegen-
geſetzten Erdtheile. Erhaben und herrlich ſind die lebendigen Gebilde, welche ihr ureigen ſind: ver-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/273>, abgerufen am 22.11.2024.
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