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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864.

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Gefangenleben der Loris. -- Beschreibung der Langfüßer.
als ich nach obigen Berichten erwartet hatte. Mochte ihn die Störung, welche wir ihm anthaten,
verstimmt haben oder er vom Hause aus ein reizbarer Gesell sein: er war augenscheinlich äußerst
entrüstet über die ihm zugefügte Unbill. Der Gesichtsausdruck des eben erweckten Thieres hatte wohl
etwas Fremdartiges, keineswegs aber etwas "Mitleidanrufendes", wie Weinland von einem im
Londoner Garten beobachteten Tevang sagt. Unser Amsterdamer Gefangener fauchte sehr verständlich
und erläuterte seine Gesinnungen noch besonders durch die Bestrebungen, die störende Hand des
Wärters mit Bissen zu züchtigen, wie er früher schon einige Male gethan hatte. Heute gelang ihm
seine Rache nicht, und ärgerlich darüber, zog er sich langsam zurück. Dies geschah in einer Weise,
die mich, trotz der trefflichen Abbildung, welche Harvey schon vor dreißig Jahren gab, sehr über-
raschte. Seine großen Augen starr auf uns geheftet, ging er äußerst langsam Schritt um Schritt rück-
wärts
zurück, und zwar nach aufwärts an einem nur wenig von der senkrechten Linie abweichenden
Pfahle. Er klettert also von unten nach oben mit niederwärts gerichtetem Gesicht. Dies thut meines
Wissens kein anderes Thier! An einer Gabel angelangt, machte er Halt und verharrte nunmehr so
regungslos in seiner Stellung, daß er unserm Zeichner seine Arbeit sehr erleichterte.



Die zweite Familie unserer Ordnung umfaßt die Langfüßer (Maerotarsi).

Alle hierher gehörigen Thiere erscheinen als Mittelglieder zwischen den Affen und Bilchen
oder Schlafmäufen. Jhre Hände sind Affenhände, ihr Gebiß zeigt noch seine geschlossenen
Zahnreihen: in dem übrigen Leibesbau aber und ihrem ganzen Wesen ähneln sie den Sieben-
schläfern
weit mehr, als den Aeffern. Der Leib der Langfüßer ist ziemlich gedrungen, und
die Gliedmaßen sind kräftig. Jhre Fußwurzeln sind länger, als das Schienbein; alle Füße haben
einen Daumen, welcher den übrigen Zehen gegenübergestellt werden kann. Nur der Zeigefinger,
seltner auch noch der Mittelfinger besitzen krallenartige, alle übrigen Finger dagegen platte Nägel.
Ein großer, runder Kopf mit ziemlich langen, nackten Fledermausohren und dicht neben einander
stehenden Augen, eine stumpfe Schnauze und ein echtes Halbaffengebiß (4 Schneide- und 6 Backzähne
oben, 6 Schneide- und 5 Backzähne unten) kennzeichnen sie noch außerdem.

Die Langfüßer bewohnen, mit Ausnahme einer einzigen Art, welche wir kennen lernen werden,
Afrika und namentlich wieder das durch seine Thierwelt überhaupt so ausgezeichnete Madagaskar.
Sie leben entweder paarweise oder in Gesellschaften auf den Bäumen größerer Waldungen und ver-
stecken sich hier bei Tage entweder in dem Gezweig oder in Baumhöhlen. Nachts kommen sie hervor
und beginnen ihre Jagdwanderungen auf Kerfe oder kleine Vögel und Eier; wenn sie es haben können,
fressen sie auch Früchte. Sie sind, abweichend von den Vorigen, rasch und behend und klettern mit
der Gewandtheit unserer Eichhörnchen, verstehen es auch, weite Sprünge auszuführen. Auch bei
ihnen sind die langschwänzigen Arten schneller und gewandter, als diejenigen, denen das zum Klettern
wesentliche Steuer mangelt oder wegen seiner Kürze nicht vollkommen genügt -- wenn ich so sagen
darf. Während ihres Schlafes rollen sie ihre Ohren ein, wie es die Fledermäuse auch thun: allein
schon das geringste Geräüsch ist ihnen Auregung genug, sie zu spannen und zum Auffangen des
Schalles wieder vollkommen fähig zu machen.

Jn ihrem geistigen Wesen ähneln die Langfüßer ganz den übrigen Halbaffen. Sie sind sanft,
friedlich, harmlos und wenig befähigt; sie lassen sich leicht zähmen, bleiben aber immer ziemlich gleich-
giltig gegen ihren Pfleger, dessen Liebkosungen ihnen eben auch nicht mehr werth sind, als die fremder
Leute. Wahrscheinlich verstehen sie nicht, zwischen diesem und anderen Menschen zu unterscheiden.

Jhr Fortpflanzungsgeschäft erinnert an das der Eichhörnchen. Einige bringen ein bis zwei
Junge in Baumlöchern zur Welt, andere bauen sich zwischen Astgabeln ein Nest und kleiden es innen
mit weichem Grase aus.

Gefangenleben der Loris. — Beſchreibung der Langfüßer.
als ich nach obigen Berichten erwartet hatte. Mochte ihn die Störung, welche wir ihm anthaten,
verſtimmt haben oder er vom Hauſe aus ein reizbarer Geſell ſein: er war augenſcheinlich äußerſt
entrüſtet über die ihm zugefügte Unbill. Der Geſichtsausdruck des eben erweckten Thieres hatte wohl
etwas Fremdartiges, keineswegs aber etwas „Mitleidanrufendes‟, wie Weinland von einem im
Londoner Garten beobachteten Tevang ſagt. Unſer Amſterdamer Gefangener fauchte ſehr verſtändlich
und erläuterte ſeine Geſinnungen noch beſonders durch die Beſtrebungen, die ſtörende Hand des
Wärters mit Biſſen zu züchtigen, wie er früher ſchon einige Male gethan hatte. Heute gelang ihm
ſeine Rache nicht, und ärgerlich darüber, zog er ſich langſam zurück. Dies geſchah in einer Weiſe,
die mich, trotz der trefflichen Abbildung, welche Harvey ſchon vor dreißig Jahren gab, ſehr über-
raſchte. Seine großen Augen ſtarr auf uns geheftet, ging er äußerſt langſam Schritt um Schritt rück-
wärts
zurück, und zwar nach aufwärts an einem nur wenig von der ſenkrechten Linie abweichenden
Pfahle. Er klettert alſo von unten nach oben mit niederwärts gerichtetem Geſicht. Dies thut meines
Wiſſens kein anderes Thier! An einer Gabel angelangt, machte er Halt und verharrte nunmehr ſo
regungslos in ſeiner Stellung, daß er unſerm Zeichner ſeine Arbeit ſehr erleichterte.



Die zweite Familie unſerer Ordnung umfaßt die Langfüßer (Maerotarsi).

Alle hierher gehörigen Thiere erſcheinen als Mittelglieder zwiſchen den Affen und Bilchen
oder Schlafmäufen. Jhre Hände ſind Affenhände, ihr Gebiß zeigt noch ſeine geſchloſſenen
Zahnreihen: in dem übrigen Leibesbau aber und ihrem ganzen Weſen ähneln ſie den Sieben-
ſchläfern
weit mehr, als den Aeffern. Der Leib der Langfüßer iſt ziemlich gedrungen, und
die Gliedmaßen ſind kräftig. Jhre Fußwurzeln ſind länger, als das Schienbein; alle Füße haben
einen Daumen, welcher den übrigen Zehen gegenübergeſtellt werden kann. Nur der Zeigefinger,
ſeltner auch noch der Mittelfinger beſitzen krallenartige, alle übrigen Finger dagegen platte Nägel.
Ein großer, runder Kopf mit ziemlich langen, nackten Fledermausohren und dicht neben einander
ſtehenden Augen, eine ſtumpfe Schnauze und ein echtes Halbaffengebiß (4 Schneide- und 6 Backzähne
oben, 6 Schneide- und 5 Backzähne unten) kennzeichnen ſie noch außerdem.

Die Langfüßer bewohnen, mit Ausnahme einer einzigen Art, welche wir kennen lernen werden,
Afrika und namentlich wieder das durch ſeine Thierwelt überhaupt ſo ausgezeichnete Madagaskar.
Sie leben entweder paarweiſe oder in Geſellſchaften auf den Bäumen größerer Waldungen und ver-
ſtecken ſich hier bei Tage entweder in dem Gezweig oder in Baumhöhlen. Nachts kommen ſie hervor
und beginnen ihre Jagdwanderungen auf Kerfe oder kleine Vögel und Eier; wenn ſie es haben können,
freſſen ſie auch Früchte. Sie ſind, abweichend von den Vorigen, raſch und behend und klettern mit
der Gewandtheit unſerer Eichhörnchen, verſtehen es auch, weite Sprünge auszuführen. Auch bei
ihnen ſind die langſchwänzigen Arten ſchneller und gewandter, als diejenigen, denen das zum Klettern
weſentliche Steuer mangelt oder wegen ſeiner Kürze nicht vollkommen genügt — wenn ich ſo ſagen
darf. Während ihres Schlafes rollen ſie ihre Ohren ein, wie es die Fledermäuſe auch thun: allein
ſchon das geringſte Geräuͤſch iſt ihnen Auregung genug, ſie zu ſpannen und zum Auffangen des
Schalles wieder vollkommen fähig zu machen.

Jn ihrem geiſtigen Weſen ähneln die Langfüßer ganz den übrigen Halbaffen. Sie ſind ſanft,
friedlich, harmlos und wenig befähigt; ſie laſſen ſich leicht zähmen, bleiben aber immer ziemlich gleich-
giltig gegen ihren Pfleger, deſſen Liebkoſungen ihnen eben auch nicht mehr werth ſind, als die fremder
Leute. Wahrſcheinlich verſtehen ſie nicht, zwiſchen dieſem und anderen Menſchen zu unterſcheiden.

Jhr Fortpflanzungsgeſchäft erinnert an das der Eichhörnchen. Einige bringen ein bis zwei
Junge in Baumlöchern zur Welt, andere bauen ſich zwiſchen Aſtgabeln ein Neſt und kleiden es innen
mit weichem Graſe aus.

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[143/0201] Gefangenleben der Loris. — Beſchreibung der Langfüßer. als ich nach obigen Berichten erwartet hatte. Mochte ihn die Störung, welche wir ihm anthaten, verſtimmt haben oder er vom Hauſe aus ein reizbarer Geſell ſein: er war augenſcheinlich äußerſt entrüſtet über die ihm zugefügte Unbill. Der Geſichtsausdruck des eben erweckten Thieres hatte wohl etwas Fremdartiges, keineswegs aber etwas „Mitleidanrufendes‟, wie Weinland von einem im Londoner Garten beobachteten Tevang ſagt. Unſer Amſterdamer Gefangener fauchte ſehr verſtändlich und erläuterte ſeine Geſinnungen noch beſonders durch die Beſtrebungen, die ſtörende Hand des Wärters mit Biſſen zu züchtigen, wie er früher ſchon einige Male gethan hatte. Heute gelang ihm ſeine Rache nicht, und ärgerlich darüber, zog er ſich langſam zurück. Dies geſchah in einer Weiſe, die mich, trotz der trefflichen Abbildung, welche Harvey ſchon vor dreißig Jahren gab, ſehr über- raſchte. Seine großen Augen ſtarr auf uns geheftet, ging er äußerſt langſam Schritt um Schritt rück- wärts zurück, und zwar nach aufwärts an einem nur wenig von der ſenkrechten Linie abweichenden Pfahle. Er klettert alſo von unten nach oben mit niederwärts gerichtetem Geſicht. Dies thut meines Wiſſens kein anderes Thier! An einer Gabel angelangt, machte er Halt und verharrte nunmehr ſo regungslos in ſeiner Stellung, daß er unſerm Zeichner ſeine Arbeit ſehr erleichterte. Die zweite Familie unſerer Ordnung umfaßt die Langfüßer (Maerotarsi). Alle hierher gehörigen Thiere erſcheinen als Mittelglieder zwiſchen den Affen und Bilchen oder Schlafmäufen. Jhre Hände ſind Affenhände, ihr Gebiß zeigt noch ſeine geſchloſſenen Zahnreihen: in dem übrigen Leibesbau aber und ihrem ganzen Weſen ähneln ſie den Sieben- ſchläfern weit mehr, als den Aeffern. Der Leib der Langfüßer iſt ziemlich gedrungen, und die Gliedmaßen ſind kräftig. Jhre Fußwurzeln ſind länger, als das Schienbein; alle Füße haben einen Daumen, welcher den übrigen Zehen gegenübergeſtellt werden kann. Nur der Zeigefinger, ſeltner auch noch der Mittelfinger beſitzen krallenartige, alle übrigen Finger dagegen platte Nägel. Ein großer, runder Kopf mit ziemlich langen, nackten Fledermausohren und dicht neben einander ſtehenden Augen, eine ſtumpfe Schnauze und ein echtes Halbaffengebiß (4 Schneide- und 6 Backzähne oben, 6 Schneide- und 5 Backzähne unten) kennzeichnen ſie noch außerdem. Die Langfüßer bewohnen, mit Ausnahme einer einzigen Art, welche wir kennen lernen werden, Afrika und namentlich wieder das durch ſeine Thierwelt überhaupt ſo ausgezeichnete Madagaskar. Sie leben entweder paarweiſe oder in Geſellſchaften auf den Bäumen größerer Waldungen und ver- ſtecken ſich hier bei Tage entweder in dem Gezweig oder in Baumhöhlen. Nachts kommen ſie hervor und beginnen ihre Jagdwanderungen auf Kerfe oder kleine Vögel und Eier; wenn ſie es haben können, freſſen ſie auch Früchte. Sie ſind, abweichend von den Vorigen, raſch und behend und klettern mit der Gewandtheit unſerer Eichhörnchen, verſtehen es auch, weite Sprünge auszuführen. Auch bei ihnen ſind die langſchwänzigen Arten ſchneller und gewandter, als diejenigen, denen das zum Klettern weſentliche Steuer mangelt oder wegen ſeiner Kürze nicht vollkommen genügt — wenn ich ſo ſagen darf. Während ihres Schlafes rollen ſie ihre Ohren ein, wie es die Fledermäuſe auch thun: allein ſchon das geringſte Geräuͤſch iſt ihnen Auregung genug, ſie zu ſpannen und zum Auffangen des Schalles wieder vollkommen fähig zu machen. Jn ihrem geiſtigen Weſen ähneln die Langfüßer ganz den übrigen Halbaffen. Sie ſind ſanft, friedlich, harmlos und wenig befähigt; ſie laſſen ſich leicht zähmen, bleiben aber immer ziemlich gleich- giltig gegen ihren Pfleger, deſſen Liebkoſungen ihnen eben auch nicht mehr werth ſind, als die fremder Leute. Wahrſcheinlich verſtehen ſie nicht, zwiſchen dieſem und anderen Menſchen zu unterſcheiden. Jhr Fortpflanzungsgeſchäft erinnert an das der Eichhörnchen. Einige bringen ein bis zwei Junge in Baumlöchern zur Welt, andere bauen ſich zwiſchen Aſtgabeln ein Neſt und kleiden es innen mit weichem Graſe aus.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/201>, abgerufen am 22.11.2024.