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Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

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lenzen und auf Kosten der Gemeinschaft zu leben, diese Conse-
quenz der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortlichkeit
nicht ziehen dürfen? Ein anerkannter schweizerischer Schriftsteller
J. J. Vogt (von Thun), welcher Gelegenheit hatte, reichliche
praktische Erfahrungen über das Armen-, Bettel- und Vaga-
bunden-Wesen zu machen, sagt in seinem Buche "Das Armen-
wesen. Beleuchtung der Armutszustände und Vorschläge zu
einer gründlichen Armen-Reform. Ein Beitrag zur glücklichen
Lösung gesellschaftlicher Lebensfragen" (Zwei Bände, Bern 1856):
"Wenn Jemand aus beharrlicher Mißachtung der ihm obliegenden
persönlichen Selbsterhaltungspflicht die zur Ausübung derselben
vorhandenen Möglichkeiten und Gelegenheiten verschmäht und
ohne Gegenleistung auf Kosten der Gemeinheit zu leben begehrt,
und wenn eine dem Gemeinwohl Schädigung drohende Anhäu-
fung solcher Selbsterhaltungs-Verweigerungsfälle eintritt, dann ist
die öffentliche Zwangs-Arbeits-Anstalt eine Nothwendigkeit, viel-
leicht eine traurige Nothwendigkeit, oder ein nothwendiges Uebel.
Ihre Aufgabe ist, die ihr übergebenen Individuen auf dem Wege
der bessernden Zucht und der (nöthigenfalls zu erzwingenden)
Arbeit zur freien Selbsterhaltung zurückzuführen durch Beseiti-
gung der obwaltenden Ursachen der Nichterfüllung dieser Pflicht.
Diese Ursachen finden sich vorzugsweise im gewerbsmäßigen
Betteln und Vagabundiren. Arme solchen Schlags sind nur
schwer und selten auf gewöhnlichem Wege zu bessern. Sie
werden auf so lange mit aller Gewißheit in ihr altes Unwesen
zurückfallen, bis sie eine andere Lebensanschauung gewonnen
und in ihnen, auf Grund des wieder gewonnenen Selbstvertrauens
und Hoffens ein geistiger Neubau oder Wiederaufbau bewirkt ist."

So J. J. Vogt.

Was nun die Zustände in Deutschland anlangt, so ist die
Armengesetzgebung zur Zeit noch Sache der einzelnen Staaten,
wodurch die Ausführung durchgreifender einheitlicher Maßregeln
erschwert wird.

In Betreff der Einrichtung von Zwangsarbeitshäusern besteht
eine ziemlich buntscheckige Gesetzgebung. Es wäre daher in
einem jedem Einzelstaate die Frage der Arbeitshäuser an sich
und die ihrer Verwendbarkeit zur Repression und zur Heilung
der Vagabondage zu untersuchen.

Es fragt sich also, ob unsere Arbeitshäuser, wo solche

lenzen und auf Kosten der Gemeinschaft zu leben, diese Conse-
quenz der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortlichkeit
nicht ziehen dürfen? Ein anerkannter schweizerischer Schriftsteller
J. J. Vogt (von Thun), welcher Gelegenheit hatte, reichliche
praktische Erfahrungen über das Armen-, Bettel- und Vaga-
bunden-Wesen zu machen, sagt in seinem Buche «Das Armen-
wesen. Beleuchtung der Armutszustände und Vorschläge zu
einer gründlichen Armen-Reform. Ein Beitrag zur glücklichen
Lösung gesellschaftlicher Lebensfragen» (Zwei Bände, Bern 1856):
«Wenn Jemand aus beharrlicher Mißachtung der ihm obliegenden
persönlichen Selbsterhaltungspflicht die zur Ausübung derselben
vorhandenen Möglichkeiten und Gelegenheiten verschmäht und
ohne Gegenleistung auf Kosten der Gemeinheit zu leben begehrt,
und wenn eine dem Gemeinwohl Schädigung drohende Anhäu-
fung solcher Selbsterhaltungs-Verweigerungsfälle eintritt, dann ist
die öffentliche Zwangs-Arbeits-Anstalt eine Nothwendigkeit, viel-
leicht eine traurige Nothwendigkeit, oder ein nothwendiges Uebel.
Ihre Aufgabe ist, die ihr übergebenen Individuen auf dem Wege
der bessernden Zucht und der (nöthigenfalls zu erzwingenden)
Arbeit zur freien Selbsterhaltung zurückzuführen durch Beseiti-
gung der obwaltenden Ursachen der Nichterfüllung dieser Pflicht.
Diese Ursachen finden sich vorzugsweise im gewerbsmäßigen
Betteln und Vagabundiren. Arme solchen Schlags sind nur
schwer und selten auf gewöhnlichem Wege zu bessern. Sie
werden auf so lange mit aller Gewißheit in ihr altes Unwesen
zurückfallen, bis sie eine andere Lebensanschauung gewonnen
und in ihnen, auf Grund des wieder gewonnenen Selbstvertrauens
und Hoffens ein geistiger Neubau oder Wiederaufbau bewirkt ist.»

So J. J. Vogt.

Was nun die Zustände in Deutschland anlangt, so ist die
Armengesetzgebung zur Zeit noch Sache der einzelnen Staaten,
wodurch die Ausführung durchgreifender einheitlicher Maßregeln
erschwert wird.

In Betreff der Einrichtung von Zwangsarbeitshäusern besteht
eine ziemlich buntscheckige Gesetzgebung. Es wäre daher in
einem jedem Einzelstaate die Frage der Arbeitshäuser an sich
und die ihrer Verwendbarkeit zur Repression und zur Heilung
der Vagabondage zu untersuchen.

Es fragt sich also, ob unsere Arbeitshäuser, wo solche

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[16/0018] lenzen und auf Kosten der Gemeinschaft zu leben, diese Conse- quenz der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortlichkeit nicht ziehen dürfen? Ein anerkannter schweizerischer Schriftsteller J. J. Vogt (von Thun), welcher Gelegenheit hatte, reichliche praktische Erfahrungen über das Armen-, Bettel- und Vaga- bunden-Wesen zu machen, sagt in seinem Buche «Das Armen- wesen. Beleuchtung der Armutszustände und Vorschläge zu einer gründlichen Armen-Reform. Ein Beitrag zur glücklichen Lösung gesellschaftlicher Lebensfragen» (Zwei Bände, Bern 1856): «Wenn Jemand aus beharrlicher Mißachtung der ihm obliegenden persönlichen Selbsterhaltungspflicht die zur Ausübung derselben vorhandenen Möglichkeiten und Gelegenheiten verschmäht und ohne Gegenleistung auf Kosten der Gemeinheit zu leben begehrt, und wenn eine dem Gemeinwohl Schädigung drohende Anhäu- fung solcher Selbsterhaltungs-Verweigerungsfälle eintritt, dann ist die öffentliche Zwangs-Arbeits-Anstalt eine Nothwendigkeit, viel- leicht eine traurige Nothwendigkeit, oder ein nothwendiges Uebel. Ihre Aufgabe ist, die ihr übergebenen Individuen auf dem Wege der bessernden Zucht und der (nöthigenfalls zu erzwingenden) Arbeit zur freien Selbsterhaltung zurückzuführen durch Beseiti- gung der obwaltenden Ursachen der Nichterfüllung dieser Pflicht. Diese Ursachen finden sich vorzugsweise im gewerbsmäßigen Betteln und Vagabundiren. Arme solchen Schlags sind nur schwer und selten auf gewöhnlichem Wege zu bessern. Sie werden auf so lange mit aller Gewißheit in ihr altes Unwesen zurückfallen, bis sie eine andere Lebensanschauung gewonnen und in ihnen, auf Grund des wieder gewonnenen Selbstvertrauens und Hoffens ein geistiger Neubau oder Wiederaufbau bewirkt ist.» So J. J. Vogt. Was nun die Zustände in Deutschland anlangt, so ist die Armengesetzgebung zur Zeit noch Sache der einzelnen Staaten, wodurch die Ausführung durchgreifender einheitlicher Maßregeln erschwert wird. In Betreff der Einrichtung von Zwangsarbeitshäusern besteht eine ziemlich buntscheckige Gesetzgebung. Es wäre daher in einem jedem Einzelstaate die Frage der Arbeitshäuser an sich und die ihrer Verwendbarkeit zur Repression und zur Heilung der Vagabondage zu untersuchen. Es fragt sich also, ob unsere Arbeitshäuser, wo solche

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Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/18>, abgerufen am 09.11.2024.