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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

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Arbeiterinnenschutz, der größten Masse der Proletarierinnen gar nicht
zu Theil werden. Sie können zwar durch besondere Verordnung auf
Hausindustrielle und Landarbeiterinnen ausgedehnt werden, es ist
das aber bisher nur in Bezug auf einen Theil der ersteren geschehen;
bei den Landarbeiterinnen scheint die Romanfigur des "rosigen,
derben Landmädchens" die Krankenfürsorge überflüssig machen zu
sollen. Aber nein; so sentimental sind unsere Gesetzgeber nicht
einmal; es ist vielmehr das Jammergeschrei der nothleidenden
Junker, das sie kopfscheu macht. Es trägt auch die Schuld daran,
wenn die Dienstboten von der Krankenversicherung bisher ganz aus-
geschlossen blieben. Wahrscheinlich sind die endlosen Arbeitsstunden
der Dienstboten, das Stehen am Heerd und Waschfaß, die spärlich
zugemessene Ruhezeit, das ungenügende Essen, die schlechte Be-
handlung so gesundheitsförderlich, daß jede Krankheit dadurch un-
möglich gemacht wird!

Einen weiteren Kreis von Arbeitern umfaßt die Unfall-
versicherung,
obwohl auch hier eine Menge kleiner Gewerbetreibender
und so gut wie alle hausindustriellen Arbeiter unberücksichtigt blieben.
Das fällt um so schwerer ins Gewicht, als, wie wir schon erörterten,
viele Unternehmer Hausindustrielle in wachsender Zahl beschäftigen,
um dadurch den Ausgaben für die Versicherung zu entgehen, sich
gewissermaßen aller Verantwortlichkeit für die Sicherstellung der
Arbeiter los und ledig zu erklären. Für die Versicherten jedoch sind
die Leistungen der Versicherung immerhin bedeutsame. Sie bestehen
in freier Kur oder Anstaltspflege, in einer Unfallrente, die auch an
die Angehörigen ausgezahlt werden kann, falls der Kranke sich im
Hospital befindet, bis zu 66 pCt. des Jahreslohnes, in einem Sterbe-
geld bis zur zwanzigfachen Höhe des Tagelohnes und in einer Hinter-
bliebenen-Rente, die 60 pCt. der jährlichen Einnahmen des Ver-
storbenen erreichen kann. Diese letzte Bestimmung ist die wichtigste,
denn sie bildet den Anfang einer nothwendigen großen Reform: der
Wittwen- und Waisenversorgung, und ist schon heute eine große
Hilfe für die Wenigen, auf die sie Anwendung findet. Also auch
hier stehen Jnteressen auf dem Spiel, deren Bedeutung jeder Frau
ohne Weiteres klar werden müßten.

Noch mehr gilt dies für die Alters- und Jnvalidenversicherung.
Sie ist in Bezug auf den Kreis der Versicherten die umfassendste
aller Versicherungen, und gleicht nur darin den anderen, daß sie die
Einbeziehung der Kleinunternehmer und Hausindustriellen dem be-
sonderen Beschluß des Bundesraths überläßt. Aber so umfassend
sie ist, so großartig der ihr zu Grunde liegende Gedanke erscheinen
muß, seine Verwirklichung blieb weit zurück hinter dem Jdeal, jedem
Arbeiter, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot aß, ein sorgen-
loses Alter zu verschaffen, ihn der Angst zu berauben, daß Arbeits-
unfähigkeit ihn zum Betteln verdammt oder ihn der Armenpflege
anheimfallen lässt, die - charakteristisch genug für die moralischen

Arbeiterinnenschutz, der größten Masse der Proletarierinnen gar nicht
zu Theil werden. Sie können zwar durch besondere Verordnung auf
Hausindustrielle und Landarbeiterinnen ausgedehnt werden, es ist
das aber bisher nur in Bezug auf einen Theil der ersteren geschehen;
bei den Landarbeiterinnen scheint die Romanfigur des „rosigen,
derben Landmädchens“ die Krankenfürsorge überflüssig machen zu
sollen. Aber nein; so sentimental sind unsere Gesetzgeber nicht
einmal; es ist vielmehr das Jammergeschrei der nothleidenden
Junker, das sie kopfscheu macht. Es trägt auch die Schuld daran,
wenn die Dienstboten von der Krankenversicherung bisher ganz aus-
geschlossen blieben. Wahrscheinlich sind die endlosen Arbeitsstunden
der Dienstboten, das Stehen am Heerd und Waschfaß, die spärlich
zugemessene Ruhezeit, das ungenügende Essen, die schlechte Be-
handlung so gesundheitsförderlich, daß jede Krankheit dadurch un-
möglich gemacht wird!

Einen weiteren Kreis von Arbeitern umfaßt die Unfall-
versicherung,
obwohl auch hier eine Menge kleiner Gewerbetreibender
und so gut wie alle hausindustriellen Arbeiter unberücksichtigt blieben.
Das fällt um so schwerer ins Gewicht, als, wie wir schon erörterten,
viele Unternehmer Hausindustrielle in wachsender Zahl beschäftigen,
um dadurch den Ausgaben für die Versicherung zu entgehen, sich
gewissermaßen aller Verantwortlichkeit für die Sicherstellung der
Arbeiter los und ledig zu erklären. Für die Versicherten jedoch sind
die Leistungen der Versicherung immerhin bedeutsame. Sie bestehen
in freier Kur oder Anstaltspflege, in einer Unfallrente, die auch an
die Angehörigen ausgezahlt werden kann, falls der Kranke sich im
Hospital befindet, bis zu 66 pCt. des Jahreslohnes, in einem Sterbe-
geld bis zur zwanzigfachen Höhe des Tagelohnes und in einer Hinter-
bliebenen-Rente, die 60 pCt. der jährlichen Einnahmen des Ver-
storbenen erreichen kann. Diese letzte Bestimmung ist die wichtigste,
denn sie bildet den Anfang einer nothwendigen großen Reform: der
Wittwen- und Waisenversorgung, und ist schon heute eine große
Hilfe für die Wenigen, auf die sie Anwendung findet. Also auch
hier stehen Jnteressen auf dem Spiel, deren Bedeutung jeder Frau
ohne Weiteres klar werden müßten.

Noch mehr gilt dies für die Alters- und Jnvalidenversicherung.
Sie ist in Bezug auf den Kreis der Versicherten die umfassendste
aller Versicherungen, und gleicht nur darin den anderen, daß sie die
Einbeziehung der Kleinunternehmer und Hausindustriellen dem be-
sonderen Beschluß des Bundesraths überläßt. Aber so umfassend
sie ist, so großartig der ihr zu Grunde liegende Gedanke erscheinen
muß, seine Verwirklichung blieb weit zurück hinter dem Jdeal, jedem
Arbeiter, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot aß, ein sorgen-
loses Alter zu verschaffen, ihn der Angst zu berauben, daß Arbeits-
unfähigkeit ihn zum Betteln verdammt oder ihn der Armenpflege
anheimfallen lässt, die – charakteristisch genug für die moralischen

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[21/0020] Arbeiterinnenschutz, der größten Masse der Proletarierinnen gar nicht zu Theil werden. Sie können zwar durch besondere Verordnung auf Hausindustrielle und Landarbeiterinnen ausgedehnt werden, es ist das aber bisher nur in Bezug auf einen Theil der ersteren geschehen; bei den Landarbeiterinnen scheint die Romanfigur des „rosigen, derben Landmädchens“ die Krankenfürsorge überflüssig machen zu sollen. Aber nein; so sentimental sind unsere Gesetzgeber nicht einmal; es ist vielmehr das Jammergeschrei der nothleidenden Junker, das sie kopfscheu macht. Es trägt auch die Schuld daran, wenn die Dienstboten von der Krankenversicherung bisher ganz aus- geschlossen blieben. Wahrscheinlich sind die endlosen Arbeitsstunden der Dienstboten, das Stehen am Heerd und Waschfaß, die spärlich zugemessene Ruhezeit, das ungenügende Essen, die schlechte Be- handlung so gesundheitsförderlich, daß jede Krankheit dadurch un- möglich gemacht wird! Einen weiteren Kreis von Arbeitern umfaßt die Unfall- versicherung, obwohl auch hier eine Menge kleiner Gewerbetreibender und so gut wie alle hausindustriellen Arbeiter unberücksichtigt blieben. Das fällt um so schwerer ins Gewicht, als, wie wir schon erörterten, viele Unternehmer Hausindustrielle in wachsender Zahl beschäftigen, um dadurch den Ausgaben für die Versicherung zu entgehen, sich gewissermaßen aller Verantwortlichkeit für die Sicherstellung der Arbeiter los und ledig zu erklären. Für die Versicherten jedoch sind die Leistungen der Versicherung immerhin bedeutsame. Sie bestehen in freier Kur oder Anstaltspflege, in einer Unfallrente, die auch an die Angehörigen ausgezahlt werden kann, falls der Kranke sich im Hospital befindet, bis zu 66 pCt. des Jahreslohnes, in einem Sterbe- geld bis zur zwanzigfachen Höhe des Tagelohnes und in einer Hinter- bliebenen-Rente, die 60 pCt. der jährlichen Einnahmen des Ver- storbenen erreichen kann. Diese letzte Bestimmung ist die wichtigste, denn sie bildet den Anfang einer nothwendigen großen Reform: der Wittwen- und Waisenversorgung, und ist schon heute eine große Hilfe für die Wenigen, auf die sie Anwendung findet. Also auch hier stehen Jnteressen auf dem Spiel, deren Bedeutung jeder Frau ohne Weiteres klar werden müßten. Noch mehr gilt dies für die Alters- und Jnvalidenversicherung. Sie ist in Bezug auf den Kreis der Versicherten die umfassendste aller Versicherungen, und gleicht nur darin den anderen, daß sie die Einbeziehung der Kleinunternehmer und Hausindustriellen dem be- sonderen Beschluß des Bundesraths überläßt. Aber so umfassend sie ist, so großartig der ihr zu Grunde liegende Gedanke erscheinen muß, seine Verwirklichung blieb weit zurück hinter dem Jdeal, jedem Arbeiter, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot aß, ein sorgen- loses Alter zu verschaffen, ihn der Angst zu berauben, daß Arbeits- unfähigkeit ihn zum Betteln verdammt oder ihn der Armenpflege anheimfallen lässt, die – charakteristisch genug für die moralischen

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Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/20>, abgerufen am 24.11.2024.