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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

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Die Voraussetzung dafür ist, daß die Betheiligten selbst ihn bahnen
helfen. Das gilt auf einem Gebiet, dem der Krankenversicherung,
besonders für die Frauen, weil sie, wie wir sehen werden, im höchsten
Grade daran interessirt sein müssen. Hier haben sie auch die Macht
dazu; denn hier besitzen sie Rechte, die ihnen in Deutschland sonst
nirgends gewährt worden sind: das Krankenversicherungs-Gesetz hat
ihnen nämlich das aktive und passive Wahlrecht zugestanden, d. h.
mit anderen Worten: sie können sich nicht nur an der Wahl der
Verwaltungen betheiligen, sie können auch selbst hineingewählt
werden. Was das für die Frauen bedeutet, läßt sich aus den Auf-
gaben ersehen, die die Krankenkassen zu erfüllen haben. Es sind,
kurz zusammengefaßt, folgende: sie müssen den Versicherten freie
ärztliche Behandlung und Arznei auf die Dauer von höchstens
13 Wochen - nach dem neuen Gesetzentwurf auf die Dauer von
höchstens 26 Wochen -, oder statt dessen Krankengeld bis zu 75 pCt.
des Lohnes, Wochenbett-Unterstützung bis auf die Dauer von
6 Wochen - nach dem neuen Gesetzentwurf volle 6 Wochen -,
eine bis zu einem Jahre auszudehnende Rekonvaleszentenpflege
und den Hinterbliebenen ein Sterbegeld, das das 20-40 fache des
Tagelohnes betragen kann, gewähren. Das Alles ist zweifellos besser
als nichts und entspricht doch nicht im mindesten dem, was noth-
wendig ist. Wenn eine kranke Arbeiterin oder Wöchnerin wöchent-
lich zwischen 4 und 6 Mk. bekommt, so ist dadurch der Lohnausfall
für die Familie, deren Ernährerin sie vielleicht ist, natürlich nicht
gedeckt, noch weniger aber ist sie in den Stand gesetzt, sich gehörig
zu pflegen und gut zu ernähren. An eine Hilfskraft zur Besorgung
des Hausstandes und zur Wartung des Neugeborenen ist schon gar
nicht zu denken; dazu kommt, daß die Wöchnerinnen keinen Anspruch
auf freie ärztliche Behandlung und die Krankenkassen nicht das Recht
haben, die Schwangeren, deren häusliche Verhältnisse das nur zu
oft nöthig machen würden, in Entbindungsanstalten und die jungen
Mütter in Wöchnerinnenasyle und, mit ihren Kindern, in Säuglings-
heimen unterzubringen. Die Arbeiterinnen sind also, trotz der viel-
gepriesenen deutschen Sozialreform, nicht nur nach wie vor ge-
zwungen, bis kurz vor der Entbindung dem Erwerb nachzugehen,
und zwar mit um so stärkerer Anspannung aller ihrer Kräfte, als
die Sorge für das erwartete Kind außerordentliche Ausgaben er-
fordert, sie müssen auch in den weitaus meisten Fällen nach der
Entbindung so bald wie möglich aufstehen, um ihr Hauswesen zu
besorgen und irgend einen Nebenverdienst zu suchen, noch ehe die
gesetzlich vorgeschriebene Frist ablief. Der Säugling aber, der noch
auf Monate hinaus so dringend der Ernährung und der Pflege durch
die Mutter bedarf, lernt in der Wiege schon das Elend der Armuth
kennen: verlassen zu sein, zu darben nach Nahrung und Liebe. Aber
die spärlichen Segnungen der Krankenversicherung erfahren noch
eine weitere starke Einschränkung dadurch, daß sie, wie der

Die Voraussetzung dafür ist, daß die Betheiligten selbst ihn bahnen
helfen. Das gilt auf einem Gebiet, dem der Krankenversicherung,
besonders für die Frauen, weil sie, wie wir sehen werden, im höchsten
Grade daran interessirt sein müssen. Hier haben sie auch die Macht
dazu; denn hier besitzen sie Rechte, die ihnen in Deutschland sonst
nirgends gewährt worden sind: das Krankenversicherungs-Gesetz hat
ihnen nämlich das aktive und passive Wahlrecht zugestanden, d. h.
mit anderen Worten: sie können sich nicht nur an der Wahl der
Verwaltungen betheiligen, sie können auch selbst hineingewählt
werden. Was das für die Frauen bedeutet, läßt sich aus den Auf-
gaben ersehen, die die Krankenkassen zu erfüllen haben. Es sind,
kurz zusammengefaßt, folgende: sie müssen den Versicherten freie
ärztliche Behandlung und Arznei auf die Dauer von höchstens
13 Wochen – nach dem neuen Gesetzentwurf auf die Dauer von
höchstens 26 Wochen –, oder statt dessen Krankengeld bis zu 75 pCt.
des Lohnes, Wochenbett-Unterstützung bis auf die Dauer von
6 Wochen – nach dem neuen Gesetzentwurf volle 6 Wochen –,
eine bis zu einem Jahre auszudehnende Rekonvaleszentenpflege
und den Hinterbliebenen ein Sterbegeld, das das 20-40 fache des
Tagelohnes betragen kann, gewähren. Das Alles ist zweifellos besser
als nichts und entspricht doch nicht im mindesten dem, was noth-
wendig ist. Wenn eine kranke Arbeiterin oder Wöchnerin wöchent-
lich zwischen 4 und 6 Mk. bekommt, so ist dadurch der Lohnausfall
für die Familie, deren Ernährerin sie vielleicht ist, natürlich nicht
gedeckt, noch weniger aber ist sie in den Stand gesetzt, sich gehörig
zu pflegen und gut zu ernähren. An eine Hilfskraft zur Besorgung
des Hausstandes und zur Wartung des Neugeborenen ist schon gar
nicht zu denken; dazu kommt, daß die Wöchnerinnen keinen Anspruch
auf freie ärztliche Behandlung und die Krankenkassen nicht das Recht
haben, die Schwangeren, deren häusliche Verhältnisse das nur zu
oft nöthig machen würden, in Entbindungsanstalten und die jungen
Mütter in Wöchnerinnenasyle und, mit ihren Kindern, in Säuglings-
heimen unterzubringen. Die Arbeiterinnen sind also, trotz der viel-
gepriesenen deutschen Sozialreform, nicht nur nach wie vor ge-
zwungen, bis kurz vor der Entbindung dem Erwerb nachzugehen,
und zwar mit um so stärkerer Anspannung aller ihrer Kräfte, als
die Sorge für das erwartete Kind außerordentliche Ausgaben er-
fordert, sie müssen auch in den weitaus meisten Fällen nach der
Entbindung so bald wie möglich aufstehen, um ihr Hauswesen zu
besorgen und irgend einen Nebenverdienst zu suchen, noch ehe die
gesetzlich vorgeschriebene Frist ablief. Der Säugling aber, der noch
auf Monate hinaus so dringend der Ernährung und der Pflege durch
die Mutter bedarf, lernt in der Wiege schon das Elend der Armuth
kennen: verlassen zu sein, zu darben nach Nahrung und Liebe. Aber
die spärlichen Segnungen der Krankenversicherung erfahren noch
eine weitere starke Einschränkung dadurch, daß sie, wie der

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[20/0019] Die Voraussetzung dafür ist, daß die Betheiligten selbst ihn bahnen helfen. Das gilt auf einem Gebiet, dem der Krankenversicherung, besonders für die Frauen, weil sie, wie wir sehen werden, im höchsten Grade daran interessirt sein müssen. Hier haben sie auch die Macht dazu; denn hier besitzen sie Rechte, die ihnen in Deutschland sonst nirgends gewährt worden sind: das Krankenversicherungs-Gesetz hat ihnen nämlich das aktive und passive Wahlrecht zugestanden, d. h. mit anderen Worten: sie können sich nicht nur an der Wahl der Verwaltungen betheiligen, sie können auch selbst hineingewählt werden. Was das für die Frauen bedeutet, läßt sich aus den Auf- gaben ersehen, die die Krankenkassen zu erfüllen haben. Es sind, kurz zusammengefaßt, folgende: sie müssen den Versicherten freie ärztliche Behandlung und Arznei auf die Dauer von höchstens 13 Wochen – nach dem neuen Gesetzentwurf auf die Dauer von höchstens 26 Wochen –, oder statt dessen Krankengeld bis zu 75 pCt. des Lohnes, Wochenbett-Unterstützung bis auf die Dauer von 6 Wochen – nach dem neuen Gesetzentwurf volle 6 Wochen –, eine bis zu einem Jahre auszudehnende Rekonvaleszentenpflege und den Hinterbliebenen ein Sterbegeld, das das 20-40 fache des Tagelohnes betragen kann, gewähren. Das Alles ist zweifellos besser als nichts und entspricht doch nicht im mindesten dem, was noth- wendig ist. Wenn eine kranke Arbeiterin oder Wöchnerin wöchent- lich zwischen 4 und 6 Mk. bekommt, so ist dadurch der Lohnausfall für die Familie, deren Ernährerin sie vielleicht ist, natürlich nicht gedeckt, noch weniger aber ist sie in den Stand gesetzt, sich gehörig zu pflegen und gut zu ernähren. An eine Hilfskraft zur Besorgung des Hausstandes und zur Wartung des Neugeborenen ist schon gar nicht zu denken; dazu kommt, daß die Wöchnerinnen keinen Anspruch auf freie ärztliche Behandlung und die Krankenkassen nicht das Recht haben, die Schwangeren, deren häusliche Verhältnisse das nur zu oft nöthig machen würden, in Entbindungsanstalten und die jungen Mütter in Wöchnerinnenasyle und, mit ihren Kindern, in Säuglings- heimen unterzubringen. Die Arbeiterinnen sind also, trotz der viel- gepriesenen deutschen Sozialreform, nicht nur nach wie vor ge- zwungen, bis kurz vor der Entbindung dem Erwerb nachzugehen, und zwar mit um so stärkerer Anspannung aller ihrer Kräfte, als die Sorge für das erwartete Kind außerordentliche Ausgaben er- fordert, sie müssen auch in den weitaus meisten Fällen nach der Entbindung so bald wie möglich aufstehen, um ihr Hauswesen zu besorgen und irgend einen Nebenverdienst zu suchen, noch ehe die gesetzlich vorgeschriebene Frist ablief. Der Säugling aber, der noch auf Monate hinaus so dringend der Ernährung und der Pflege durch die Mutter bedarf, lernt in der Wiege schon das Elend der Armuth kennen: verlassen zu sein, zu darben nach Nahrung und Liebe. Aber die spärlichen Segnungen der Krankenversicherung erfahren noch eine weitere starke Einschränkung dadurch, daß sie, wie der

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Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/19>, abgerufen am 28.03.2024.