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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

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auf Erden treiben sollte. Indessen gab's noch ver-
schiedene Ruckfälle: Einmal wußt' ich 24. Stunden
lang nichts mehr von mir selber; aber dieß war die
Crists. Beym Erwachen fühlt' ich zwar meine Schmer-
zen wieder, doch in weit geringerm Grade; und was
für mich viel wichtiger war, die bangen angsthaften
Gedanken blieben völlig aus. Der Doktor fieng an
Hoffnung zu schöpfen, und ich nicht minder; und
kurz, es ließ sich täglich mehr zur Besserung an,
bis ich (Gott und meinem geschickten Arzt sey's ewig
gedankt) freylich erst nach etlichen Wochen, wieder
ganz auf die Beine kam. Aber das Thiermensch,
das wir im Haus hatten, und dulden mußten *),
war mir jtzt unausstehlicher als jemals. Mich und
alle meine Geschwister überhäufte es mit den un-
fläthigsten Schimpfworten. Während meiner Krank-
heit sagte es mir oft ins Gesicht: Ich sey ein muth-
williger Bankert; es fehle mir nichts; man sollte
mir statt Arzneyen die Ruthe geben, u. d. gl. Ich
bat also meinen Vater, so hoch ich konnte: Er soll
doch die Creatur uns vom Hals schaffen, sonst könnt'
ich in Ewigkeit nicht vollkommen gesund werden. Aber
es war unmöglich; vor einmal wollt' sie uns niemand
abnehmen. Wenn sie's gar zu schlimm machte,

*) In unsern Schweitzerlanden (wo von einheimischen Ar-
men, auch von dem Auskehrigt selbstverschuldeten Elends,
niemand ganz rath- und hülflos sich selbst überlassen wird)
ist es nichts seltenes, daß, zumal in den geringern Dorfs-
eommunen, wo von Gemeind wegen für solche Geschöpfe
nicht gesorgt werden kann, der Private, bald der Kehre
nach unentgeldlich, bald um ein geringes Jährliches, ihnen
Dach und Kost geben muß.

auf Erden treiben ſollte. Indeſſen gab’s noch ver-
ſchiedene Ruckfaͤlle: Einmal wußt’ ich 24. Stunden
lang nichts mehr von mir ſelber; aber dieß war die
Criſts. Beym Erwachen fuͤhlt’ ich zwar meine Schmer-
zen wieder, doch in weit geringerm Grade; und was
fuͤr mich viel wichtiger war, die bangen angſthaften
Gedanken blieben voͤllig aus. Der Doktor fieng an
Hoffnung zu ſchoͤpfen, und ich nicht minder; und
kurz, es ließ ſich taͤglich mehr zur Beſſerung an,
bis ich (Gott und meinem geſchickten Arzt ſey’s ewig
gedankt) freylich erſt nach etlichen Wochen, wieder
ganz auf die Beine kam. Aber das Thiermenſch,
das wir im Haus hatten, und dulden mußten *),
war mir jtzt unausſtehlicher als jemals. Mich und
alle meine Geſchwiſter uͤberhaͤufte es mit den un-
flaͤthigſten Schimpfworten. Waͤhrend meiner Krank-
heit ſagte es mir oft ins Geſicht: Ich ſey ein muth-
williger Bankert; es fehle mir nichts; man ſollte
mir ſtatt Arzneyen die Ruthe geben, u. d. gl. Ich
bat alſo meinen Vater, ſo hoch ich konnte: Er ſoll
doch die Creatur uns vom Hals ſchaffen, ſonſt koͤnnt’
ich in Ewigkeit nicht vollkommen geſund werden. Aber
es war unmoͤglich; vor einmal wollt’ ſie uns niemand
abnehmen. Wenn ſie’s gar zu ſchlimm machte,

*) In unſern Schweitzerlanden (wo von einheimiſchen Ar-
men, auch von dem Auskehrigt ſelbſtverſchuldeten Elends,
niemand ganz rath- und hülflos ſich ſelbſt überlaſſen wird)
iſt es nichts ſeltenes, daß, zumal in den geringern Dorfs-
eommunen, wo von Gemeind wegen für ſolche Geſchöpfe
nicht geſorgt werden kann, der Private, bald der Kehre
nach unentgeldlich, bald um ein geringes Jährliches, ihnen
Dach und Koſt geben muß.
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[57/0073] auf Erden treiben ſollte. Indeſſen gab’s noch ver- ſchiedene Ruckfaͤlle: Einmal wußt’ ich 24. Stunden lang nichts mehr von mir ſelber; aber dieß war die Criſts. Beym Erwachen fuͤhlt’ ich zwar meine Schmer- zen wieder, doch in weit geringerm Grade; und was fuͤr mich viel wichtiger war, die bangen angſthaften Gedanken blieben voͤllig aus. Der Doktor fieng an Hoffnung zu ſchoͤpfen, und ich nicht minder; und kurz, es ließ ſich taͤglich mehr zur Beſſerung an, bis ich (Gott und meinem geſchickten Arzt ſey’s ewig gedankt) freylich erſt nach etlichen Wochen, wieder ganz auf die Beine kam. Aber das Thiermenſch, das wir im Haus hatten, und dulden mußten *), war mir jtzt unausſtehlicher als jemals. Mich und alle meine Geſchwiſter uͤberhaͤufte es mit den un- flaͤthigſten Schimpfworten. Waͤhrend meiner Krank- heit ſagte es mir oft ins Geſicht: Ich ſey ein muth- williger Bankert; es fehle mir nichts; man ſollte mir ſtatt Arzneyen die Ruthe geben, u. d. gl. Ich bat alſo meinen Vater, ſo hoch ich konnte: Er ſoll doch die Creatur uns vom Hals ſchaffen, ſonſt koͤnnt’ ich in Ewigkeit nicht vollkommen geſund werden. Aber es war unmoͤglich; vor einmal wollt’ ſie uns niemand abnehmen. Wenn ſie’s gar zu ſchlimm machte, *) In unſern Schweitzerlanden (wo von einheimiſchen Ar- men, auch von dem Auskehrigt ſelbſtverſchuldeten Elends, niemand ganz rath- und hülflos ſich ſelbſt überlaſſen wird) iſt es nichts ſeltenes, daß, zumal in den geringern Dorfs- eommunen, wo von Gemeind wegen für ſolche Geſchöpfe nicht geſorgt werden kann, der Private, bald der Kehre nach unentgeldlich, bald um ein geringes Jährliches, ihnen Dach und Koſt geben muß.

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Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/73>, abgerufen am 22.11.2024.