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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

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drücken mir sagte: Wie's ihr sey seit unserm Ab-
schied; wie sie mich gern wieder sehen --- noch ein-
mal mit mir reden möchte --- und, wenn das nicht
möglich wäre, mich wenigstens zu einem schriftlichen
Verkehr auffodere. Ich küßte das Papier, las es
wohl hundertmal, und trug's immer in der Tasche,
bis es ganz verschmutzt und zersetzt war. Also --- ich
flog eilends nach Herisau -- Nein! Ich antwortete
auf der Stelle. --- Nein! auch das nicht; kein Wort.
Kurz ich gieng nicht, und schrieb nicht. Warum? Daß
ich gerade damals kein Geld hatte, dessen erinnere ich
mich; daß sonst noch etwas dazwischen kam, weiß ich
auch; die eigentliche Ursach' aber ist mir aus dem
Gedächtniß entfallen. Genug, ich vergaß meinen
Herisauer-Schatz, worüber ich mir nachwerts man-
chen bittern Vorwurf gemacht. Endlich, erst nach
zwanzig Jahren, dacht' ich wieder einmal dieser Be-
gebenheit so lange und so ernsthaft nach, und die Be-
gierde, zu erfahren, ob das liebe Kind noch lebe, und
was aus ihr geworden sey, ward so stark in mir, daß
ich eigens deswegen auf Herisau gieng, (ungeach-
tet ich in der Zwischenzeit manchmal mich Tage lang
dort aufhielt, ohne daß mir nur ein Sinn an sie
kam,) nach ihrer Wohnung fragte, und bald erfuhr,
daß sie schon Mutter von zehn Kindern, und auf
einem Wirthshaus sey. Ich flog dahin. Der Mann
war eben nicht zu Hause. Ich sprach sie um Nacht-
herberg an, setzte mich zu Tisch, und beguckte mein ---
nun nicht mehr mein Cäthchen. Himmel! wie das
arme Ding ganz verlottert war. Und doch erkannt'

druͤcken mir ſagte: Wie’s ihr ſey ſeit unſerm Ab-
ſchied; wie ſie mich gern wieder ſehen --- noch ein-
mal mit mir reden moͤchte --- und, wenn das nicht
moͤglich waͤre, mich wenigſtens zu einem ſchriftlichen
Verkehr auffodere. Ich kuͤßte das Papier, las es
wohl hundertmal, und trug’s immer in der Taſche,
bis es ganz verſchmutzt und zerſetzt war. Alſo --- ich
flog eilends nach Heriſau -- Nein! Ich antwortete
auf der Stelle. --- Nein! auch das nicht; kein Wort.
Kurz ich gieng nicht, und ſchrieb nicht. Warum? Daß
ich gerade damals kein Geld hatte, deſſen erinnere ich
mich; daß ſonſt noch etwas dazwiſchen kam, weiß ich
auch; die eigentliche Urſach’ aber iſt mir aus dem
Gedaͤchtniß entfallen. Genug, ich vergaß meinen
Heriſauer-Schatz, woruͤber ich mir nachwerts man-
chen bittern Vorwurf gemacht. Endlich, erſt nach
zwanzig Jahren, dacht’ ich wieder einmal dieſer Be-
gebenheit ſo lange und ſo ernſthaft nach, und die Be-
gierde, zu erfahren, ob das liebe Kind noch lebe, und
was aus ihr geworden ſey, ward ſo ſtark in mir, daß
ich eigens deswegen auf Heriſau gieng, (ungeach-
tet ich in der Zwiſchenzeit manchmal mich Tage lang
dort aufhielt, ohne daß mir nur ein Sinn an ſie
kam,) nach ihrer Wohnung fragte, und bald erfuhr,
daß ſie ſchon Mutter von zehn Kindern, und auf
einem Wirthshaus ſey. Ich flog dahin. Der Mann
war eben nicht zu Hauſe. Ich ſprach ſie um Nacht-
herberg an, ſetzte mich zu Tiſch, und beguckte mein ---
nun nicht mehr mein Caͤthchen. Himmel! wie das
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[246/0262] druͤcken mir ſagte: Wie’s ihr ſey ſeit unſerm Ab- ſchied; wie ſie mich gern wieder ſehen --- noch ein- mal mit mir reden moͤchte --- und, wenn das nicht moͤglich waͤre, mich wenigſtens zu einem ſchriftlichen Verkehr auffodere. Ich kuͤßte das Papier, las es wohl hundertmal, und trug’s immer in der Taſche, bis es ganz verſchmutzt und zerſetzt war. Alſo --- ich flog eilends nach Heriſau -- Nein! Ich antwortete auf der Stelle. --- Nein! auch das nicht; kein Wort. Kurz ich gieng nicht, und ſchrieb nicht. Warum? Daß ich gerade damals kein Geld hatte, deſſen erinnere ich mich; daß ſonſt noch etwas dazwiſchen kam, weiß ich auch; die eigentliche Urſach’ aber iſt mir aus dem Gedaͤchtniß entfallen. Genug, ich vergaß meinen Heriſauer-Schatz, woruͤber ich mir nachwerts man- chen bittern Vorwurf gemacht. Endlich, erſt nach zwanzig Jahren, dacht’ ich wieder einmal dieſer Be- gebenheit ſo lange und ſo ernſthaft nach, und die Be- gierde, zu erfahren, ob das liebe Kind noch lebe, und was aus ihr geworden ſey, ward ſo ſtark in mir, daß ich eigens deswegen auf Heriſau gieng, (ungeach- tet ich in der Zwiſchenzeit manchmal mich Tage lang dort aufhielt, ohne daß mir nur ein Sinn an ſie kam,) nach ihrer Wohnung fragte, und bald erfuhr, daß ſie ſchon Mutter von zehn Kindern, und auf einem Wirthshaus ſey. Ich flog dahin. Der Mann war eben nicht zu Hauſe. Ich ſprach ſie um Nacht- herberg an, ſetzte mich zu Tiſch, und beguckte mein --- nun nicht mehr mein Caͤthchen. Himmel! wie das arme Ding ganz verlottert war. Und doch erkannt’

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Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/262>, abgerufen am 22.11.2024.