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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

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reissen. Cäthchen gab mir, immer mit dem Kind
auf dem Arm, trotz aller Furcht vor seinen Eltern,
das Geleit noch weit vor den Flecken hinaus. Wie der
Abscheid war, läßt sich denken. Thränen von Liebchen
trug ich auf meinen Wangen genug nach Haus. Wir
winkten einander mit Schürze und Schnupftüchern
unser Lebewohl mehr als hundertmal, und so weit wir
uns sehen konnten. O man verzeihe mir meine Thor-
heit! Gehören doch diese Tage zu den allerglücklich-
sten, und ihre Freuden zu den allerunschuldigsten mei-
nes Lebens. Denn mein guter Engel hatte mir ge-
gen dieß holde Mädchen ordentlich eben so viel Ehr-
furcht als Liebe eingeflößt; so daß ich sie, wie ein
Vater sein Kind, umarmte, und sie mich hinwieder,
wie eine Tochter ihren Erzeuger, sanft an ihren rei-
nen Busen drückte, und mein Gesicht mit ihren Küs-
sen deckte. --- Itzt war ich dem Leibe nach wieder bey
Haus, aber im Geiste immer mit diesem herzigen
Schätzgen beschäftigt, dem weiland Aennchen sogar
weit nachstuhnd. Indessen kam mir nur kem Gedanke
daran, daß ich jemals zu ihrem Besitz gelangen könn-
te; vielmehr sucht' ich mir alles Vorgegangene voll-
kommen aus dem Sinn zu schlagen, und es gelang
mir. Denn dieß war von jeher meine Art: Was
einen schnellen Eindruck auf mich machte, war auch
bald wieder vergessen, und von neuen Gegenständen
verdrängt. Allein, wer hätte daran gedacht? An ei-
nem schönen Abend brachte mir der Herisauer-Bot
ein Briefchen von meinem Cäthchen, worinn sie in
zärtlich verliebten und dabey recht kindisch naiven Aus-

reiſſen. Caͤthchen gab mir, immer mit dem Kind
auf dem Arm, trotz aller Furcht vor ſeinen Eltern,
das Geleit noch weit vor den Flecken hinaus. Wie der
Abſcheid war, laͤßt ſich denken. Thraͤnen von Liebchen
trug ich auf meinen Wangen genug nach Haus. Wir
winkten einander mit Schuͤrze und Schnupftuͤchern
unſer Lebewohl mehr als hundertmal, und ſo weit wir
uns ſehen konnten. O man verzeihe mir meine Thor-
heit! Gehoͤren doch dieſe Tage zu den allergluͤcklich-
ſten, und ihre Freuden zu den allerunſchuldigſten mei-
nes Lebens. Denn mein guter Engel hatte mir ge-
gen dieß holde Maͤdchen ordentlich eben ſo viel Ehr-
furcht als Liebe eingefloͤßt; ſo daß ich ſie, wie ein
Vater ſein Kind, umarmte, und ſie mich hinwieder,
wie eine Tochter ihren Erzeuger, ſanft an ihren rei-
nen Buſen druͤckte, und mein Geſicht mit ihren Kuͤſ-
ſen deckte. --- Itzt war ich dem Leibe nach wieder bey
Haus, aber im Geiſte immer mit dieſem herzigen
Schaͤtzgen beſchaͤftigt, dem weiland Aennchen ſogar
weit nachſtuhnd. Indeſſen kam mir nur kem Gedanke
daran, daß ich jemals zu ihrem Beſitz gelangen koͤnn-
te; vielmehr ſucht’ ich mir alles Vorgegangene voll-
kommen aus dem Sinn zu ſchlagen, und es gelang
mir. Denn dieß war von jeher meine Art: Was
einen ſchnellen Eindruck auf mich machte, war auch
bald wieder vergeſſen, und von neuen Gegenſtaͤnden
verdraͤngt. Allein, wer haͤtte daran gedacht? An ei-
nem ſchoͤnen Abend brachte mir der Heriſauer-Bot
ein Briefchen von meinem Caͤthchen, worinn ſie in
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[245/0261] reiſſen. Caͤthchen gab mir, immer mit dem Kind auf dem Arm, trotz aller Furcht vor ſeinen Eltern, das Geleit noch weit vor den Flecken hinaus. Wie der Abſcheid war, laͤßt ſich denken. Thraͤnen von Liebchen trug ich auf meinen Wangen genug nach Haus. Wir winkten einander mit Schuͤrze und Schnupftuͤchern unſer Lebewohl mehr als hundertmal, und ſo weit wir uns ſehen konnten. O man verzeihe mir meine Thor- heit! Gehoͤren doch dieſe Tage zu den allergluͤcklich- ſten, und ihre Freuden zu den allerunſchuldigſten mei- nes Lebens. Denn mein guter Engel hatte mir ge- gen dieß holde Maͤdchen ordentlich eben ſo viel Ehr- furcht als Liebe eingefloͤßt; ſo daß ich ſie, wie ein Vater ſein Kind, umarmte, und ſie mich hinwieder, wie eine Tochter ihren Erzeuger, ſanft an ihren rei- nen Buſen druͤckte, und mein Geſicht mit ihren Kuͤſ- ſen deckte. --- Itzt war ich dem Leibe nach wieder bey Haus, aber im Geiſte immer mit dieſem herzigen Schaͤtzgen beſchaͤftigt, dem weiland Aennchen ſogar weit nachſtuhnd. Indeſſen kam mir nur kem Gedanke daran, daß ich jemals zu ihrem Beſitz gelangen koͤnn- te; vielmehr ſucht’ ich mir alles Vorgegangene voll- kommen aus dem Sinn zu ſchlagen, und es gelang mir. Denn dieß war von jeher meine Art: Was einen ſchnellen Eindruck auf mich machte, war auch bald wieder vergeſſen, und von neuen Gegenſtaͤnden verdraͤngt. Allein, wer haͤtte daran gedacht? An ei- nem ſchoͤnen Abend brachte mir der Heriſauer-Bot ein Briefchen von meinem Caͤthchen, worinn ſie in zaͤrtlich verliebten und dabey recht kindiſch naiven Aus-

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Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/261>, abgerufen am 18.05.2024.