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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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Wechsel künstlicher Metren zu rhythmischer Eintönigkeit und pbo_090.002
der dadurch bedingten Forderung eines neuen, rein musikalischen pbo_090.003
Formungsmittels führte. Ein solches Mittel hatte die alte pbo_090.004
rhythmische Dichtung bereits in einer Art des Reims, dem pbo_090.005
schon gekennzeichneten Stabreim oder der Allitteration. pbo_090.006
Er ist ein Vorreim, der in jener primitiven Urrhythmik pbo_090.007
die Reihen strophisch zusammenhalten konnte, aber bei strengerer pbo_090.008
rhythmischen Ausgestaltung, wie wir sahen, in den Vers (die pbo_090.009
Langzeile) zurücksank.

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Nun stellte sich Ende des ersten Jahrtausends nach Christus, pbo_090.011
ganz gewiß selbständig, aber durch orientalischen (arabischen) pbo_090.012
Einfluß zweifellos gefördert, der minder wuchtige, aber klangvollere pbo_090.013
Endreim ein, um die Verszeilen strophisch zu binden. pbo_090.014
Er muß nach seiner Stellung am minder tönenden Wortausgang pbo_090.015
eine ganze Silbe für sich in Anspruch nehmen. pbo_090.016
Denn im Silbenvokal liegt seine bindende Macht; er kann pbo_090.017
daher auch als bloßer Vokalreim (Assonanz) auftreten und pbo_090.018
erscheint so wie der Stabreim in manchen dadurch gehobenen pbo_090.019
Redewendungen (Wissen und Willen, kurz und gut). Der pbo_090.020
gleiche konsonantische Ausgang, so wenig er an sich zur Reimung pbo_090.021
beiträgt, gehört aber zum Vollreim, der gleichfalls so auftritt pbo_090.022
(Knall und Fall, schlecht [schlicht] und recht). Dagegen pbo_090.023
berührt der gleiche konsonantische Anfang von Vollreimsilben pbo_090.024
das deutsche Ohr wenigstens, nicht so das romanische, als pbo_090.025
Luxus (reicher Reim), da er für uns meist nur das gleiche pbo_090.026
Wort oder eine stereotype Endsilbe (heit, keit, schaft) wiederbringt. pbo_090.027
Wie in Wissenschaft -- Rechenschaft, Eitelkeit pbo_090.028
-- Ehrlichkeit. Jn der orientalischen Strophenform der pbo_090.029
Gasele ist diese Art Reim über das gleiche Wort (ja sogar pbo_090.030
mehrere) hinaus alleiniges Band durch beliebig viel Verse:

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Wechsel künstlicher Metren zu rhythmischer Eintönigkeit und pbo_090.002
der dadurch bedingten Forderung eines neuen, rein musikalischen pbo_090.003
Formungsmittels führte. Ein solches Mittel hatte die alte pbo_090.004
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Er ist ein Vorreim, der in jener primitiven Urrhythmik pbo_090.007
die Reihen strophisch zusammenhalten konnte, aber bei strengerer pbo_090.008
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Langzeile) zurücksank.

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Nun stellte sich Ende des ersten Jahrtausends nach Christus, pbo_090.011
ganz gewiß selbständig, aber durch orientalischen (arabischen) pbo_090.012
Einfluß zweifellos gefördert, der minder wuchtige, aber klangvollere pbo_090.013
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Er muß nach seiner Stellung am minder tönenden Wortausgang pbo_090.015
eine ganze Silbe für sich in Anspruch nehmen. pbo_090.016
Denn im Silbenvokal liegt seine bindende Macht; er kann pbo_090.017
daher auch als bloßer Vokalreim (Assonanz) auftreten und pbo_090.018
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Luxus (reicher Reim), da er für uns meist nur das gleiche pbo_090.026
Wort oder eine stereotype Endsilbe (heit, keit, schaft) wiederbringt. pbo_090.027
Wie in Wíssenscháft — Réchenscháft, Éitelkéit pbo_090.028
— Éhrlichkeit. Jn der orientalischen Strophenform der pbo_090.029
Gasele ist diese Art Reim über das gleiche Wort (ja sogar pbo_090.030
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/94>, abgerufen am 05.05.2024.