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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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Kapitel 2. Uebersicht der typischen Verse.
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§ 49. Jnnerer Bau des Verses.

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Vers nennen wir eine in sich abgeschlossene wiederkehrende pbo_066.004
(vergl. oben versus!) metrische (rhythmische) Taktreihe. Jhre pbo_066.005
Takteinheiten charakterisirt die Metrik als Füße (Schritte). pbo_066.006
Als ästhetisches Grundgesetz für die Versgestaltung gilt für pbo_066.007
alle Versgeschlechter, daß die einzelnen Wörter nicht regelmäßig pbo_066.008
mit den Versfüßen zusammenfallen, sondern nach Möglichkeit pbo_066.009
über sie hinausgreifen, sie durchbrechen.

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Also jambisch nicht:

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Wohlan | frischauf | gewagt

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sondern:

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Wir wol | len's freu | dig wag | en

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Wir haben hier nun wieder einen fühlbaren Ausdruck der oben pbo_066.015
im Eingange der Metrik erörterten idealen Zusammengehörigkeit pbo_066.016
von kunstmäßiger Wortfügung und Wortsinn. Die Sinnglieder, pbo_066.017
die Wörter, sollen nicht aus den Versgliedern gleichsam pbo_066.018
herausfallen, sondern sich in sie verschlingen, in sie pbo_066.019
förmlich verkettet sein. Und wie mit dem engsten Sinnglied, pbo_066.020
dem Worte, steht es auch mit den weiteren, Satzteil und Satz. pbo_066.021
Der mit ihnen verbundene Ruhepunkt soll lieber innerhalb pbo_066.022
der Glieder des Verses einschneiden (Caesur), als durch pbo_066.023
den Zusammenfall mit ihnen den Vers auseinanderreißen pbo_066.024
(Diärese). Also:

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Hinaus | in eu | re Schat | ten, || re | ge Wip | fel || Caesur.

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Doch sind gerade in der hier mit angeführten Versart die pbo_066.027
Caesuren oft diäretisch:

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Kapitel 2. Uebersicht der typischen Verse.
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§ 49. Jnnerer Bau des Verses.

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Vers nennen wir eine in sich abgeschlossene wiederkehrende pbo_066.004
(vergl. oben versus!) metrische (rhythmische) Taktreihe. Jhre pbo_066.005
Takteinheiten charakterisirt die Metrik als Füße (Schritte). pbo_066.006
Als ästhetisches Grundgesetz für die Versgestaltung gilt für pbo_066.007
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mit den Versfüßen zusammenfallen, sondern nach Möglichkeit pbo_066.009
über sie hinausgreifen, sie durchbrechen.

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Also jambisch nicht:

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Wohlán | frischáuf | gewágt

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sondern:

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Wir wól | len's freú | dig wág | en

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Wir haben hier nun wieder einen fühlbaren Ausdruck der oben pbo_066.015
im Eingange der Metrik erörterten idealen Zusammengehörigkeit pbo_066.016
von kunstmäßiger Wortfügung und Wortsinn. Die Sinnglieder, pbo_066.017
die Wörter, sollen nicht aus den Versgliedern gleichsam pbo_066.018
herausfallen, sondern sich in sie verschlingen, in sie pbo_066.019
förmlich verkettet sein. Und wie mit dem engsten Sinnglied, pbo_066.020
dem Worte, steht es auch mit den weiteren, Satzteil und Satz. pbo_066.021
Der mit ihnen verbundene Ruhepunkt soll lieber innerhalb pbo_066.022
der Glieder des Verses einschneiden (Caesur), als durch pbo_066.023
den Zusammenfall mit ihnen den Vers auseinanderreißen pbo_066.024
(Diärese). Also:

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Hinaús | in eú | re Schát | ten, ‖ ré | ge Wíp | fel ‖ Caesur.

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Doch sind gerade in der hier mit angeführten Versart die pbo_066.027
Caesuren oft diäretisch:

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[66/0070] pbo_066.001 Kapitel 2. Uebersicht der typischen Verse. pbo_066.002 § 49. Jnnerer Bau des Verses. pbo_066.003 Vers nennen wir eine in sich abgeschlossene wiederkehrende pbo_066.004 (vergl. oben versus!) metrische (rhythmische) Taktreihe. Jhre pbo_066.005 Takteinheiten charakterisirt die Metrik als Füße (Schritte). pbo_066.006 Als ästhetisches Grundgesetz für die Versgestaltung gilt für pbo_066.007 alle Versgeschlechter, daß die einzelnen Wörter nicht regelmäßig pbo_066.008 mit den Versfüßen zusammenfallen, sondern nach Möglichkeit pbo_066.009 über sie hinausgreifen, sie durchbrechen. pbo_066.010 Also jambisch nicht: pbo_066.011 Wohlán | frischáuf | gewágt pbo_066.012 sondern: pbo_066.013 Wir wól | len's freú | dig wág | en pbo_066.014 Wir haben hier nun wieder einen fühlbaren Ausdruck der oben pbo_066.015 im Eingange der Metrik erörterten idealen Zusammengehörigkeit pbo_066.016 von kunstmäßiger Wortfügung und Wortsinn. Die Sinnglieder, pbo_066.017 die Wörter, sollen nicht aus den Versgliedern gleichsam pbo_066.018 herausfallen, sondern sich in sie verschlingen, in sie pbo_066.019 förmlich verkettet sein. Und wie mit dem engsten Sinnglied, pbo_066.020 dem Worte, steht es auch mit den weiteren, Satzteil und Satz. pbo_066.021 Der mit ihnen verbundene Ruhepunkt soll lieber innerhalb pbo_066.022 der Glieder des Verses einschneiden (Caesur), als durch pbo_066.023 den Zusammenfall mit ihnen den Vers auseinanderreißen pbo_066.024 (Diärese). Also: pbo_066.025 Hinaús | in eú | re Schát | ten, ‖ ré | ge Wíp | fel ‖ Caesur. pbo_066.026 Doch sind gerade in der hier mit angeführten Versart die pbo_066.027 Caesuren oft diäretisch:

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/70>, abgerufen am 06.05.2024.