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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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selbständigen Wortfügungen in die Taktreihe. Ganz pbo_061.002
besonders der deutsche Dichter bedarf ihrer. Bei der Natur pbo_061.003
seiner Sprache, deren Wortfügungen starrer als die der klassischen pbo_061.004
Sprachen (zumal der griechischen) ihren Lautbestand, pbo_061.005
auf das hartnäckigste aber grade ihren Tonfall gegenüber allen pbo_061.006
Anfällen des Verses wahren, würde es ihm anders oft kaum pbo_061.007
möglich sein, größere Vorwürfe charakteristisch im Verse zum pbo_061.008
Ausdruck zu bringen. Schon vor Einführung des gleichmäßigen pbo_061.009
Ausbaus der Verstakte durch die antike Metrik finden wir pbo_061.010
daher die versetzte Betonung mit Bewußtsein im deutschen pbo_061.011
Verse angewandt, später freilich (bei den Meistersingern) zu pbo_061.012
ratloser Mißbetonung verkehrt.

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Um den regelmäßigen Gang der Taktreihe dabei so wenig pbo_061.014
als möglich zu stören, ist es ein alter Kunstgriff, solche nötig pbo_061.015
werdenden Synkopierungen nach Möglichkeit an den Anfang pbo_061.016
des Verses zu verlegen, wie so oft bei Schiller:

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[Musik]

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Hier wirkt die Pause in der Mitte (vor und) ähnlich synkopisch, pbo_061.019
um eine leichte Silbe aus dem guten Takte zu rücken. Jedoch pbo_061.020
auch am Schluß stellen sie sich ein, wie beides in dem Verse:

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[Musik]

pbo_061.022
§ 47. Auftakt.

pbo_061.023
Der Auftakt muß darum im Verse von einschneidenderer pbo_061.024
Wirkung sein, als in der Tonreihe, weil die Taktkette pbo_061.025
im Verse enger und gleichförmiger aneinanderschließt, als bei

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selbständigen Wortfügungen in die Taktreihe. Ganz pbo_061.002
besonders der deutsche Dichter bedarf ihrer. Bei der Natur pbo_061.003
seiner Sprache, deren Wortfügungen starrer als die der klassischen pbo_061.004
Sprachen (zumal der griechischen) ihren Lautbestand, pbo_061.005
auf das hartnäckigste aber grade ihren Tonfall gegenüber allen pbo_061.006
Anfällen des Verses wahren, würde es ihm anders oft kaum pbo_061.007
möglich sein, größere Vorwürfe charakteristisch im Verse zum pbo_061.008
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Ausbaus der Verstakte durch die antike Metrik finden wir pbo_061.010
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Verse angewandt, später freilich (bei den Meistersingern) zu pbo_061.012
ratloser Mißbetonung verkehrt.

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Um den regelmäßigen Gang der Taktreihe dabei so wenig pbo_061.014
als möglich zu stören, ist es ein alter Kunstgriff, solche nötig pbo_061.015
werdenden Synkopierungen nach Möglichkeit an den Anfang pbo_061.016
des Verses zu verlegen, wie so oft bei Schiller:

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[Musik]

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Hier wirkt die Pause in der Mitte (vor und) ähnlich synkopisch, pbo_061.019
um eine leichte Silbe aus dem guten Takte zu rücken. Jedoch pbo_061.020
auch am Schluß stellen sie sich ein, wie beides in dem Verse:

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[Musik]

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§ 47. Auftakt.

pbo_061.023
Der Auftakt muß darum im Verse von einschneidenderer pbo_061.024
Wirkung sein, als in der Tonreihe, weil die Taktkette pbo_061.025
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/65>, abgerufen am 06.05.2024.