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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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auch sie die strenge Messung der Silbe hat aufgeben müssen, pbo_055.002
die Freiheit, ihre Accente beliebig über den Vers und keineswegs pbo_055.003
bloß auf die guten Taktteile zu verteilen. Es hat lange pbo_055.004
gedauert, bis man (nachhaltig erst durch Opitz) zum theoretischen pbo_055.005
Bewußtsein dieser Unterschiede gekommen ist. Die Schwere pbo_055.006
und Korrektheit unserer Wortbetonung, die sich unter allen pbo_055.007
Umständen auf dieselben Silben, die Stammsilben wirft, hindert pbo_055.008
uns die andre Weise mitzumachen. Der alte deutsche Vers pbo_055.009
beschränkte sich ganz ausschließlich auf Jnnehaltung einer bestimmten pbo_055.010
Anzahl von starken Betonungen (Stäben), die er ursprünglich pbo_055.011
noch durch gleichen Anlaut (Allitteration) kenntlich pbo_055.012
machte, ohne gleiche Taktierung. Später wurden unter dem pbo_055.013
stetigen Einfluß der antiken und romanischen Metrik die Takte pbo_055.014
mehr ausgebaut, die Anzahl der den starktonigen Versstäben pbo_055.015
(Hebungen) beigegebenen schwach betonten Silben (Senkungen) pbo_055.016
beschränkt und ausgeglichen. Allein die Freiheit, den Schwachton pbo_055.017
(die Senkung) ganz auslassen zu dürfen, eine ganze Silbennote pbo_055.018
in den Takt zu setzen, behielt der deutsche Vers gleichsam pbo_055.019
als Wahrzeichen des ausschließlichen Starkton-(Hebungs)- pbo_055.020
prinzips in ganz anderer Ausdehnung bei, als sie sich analog pbo_055.021
in der antiken Silbenmessung findet. Ein viersilbiger Vers wie

pbo_055.022

[Musik]

pbo_055.023
hat vier Takte genau wie der zehnsilbige

pbo_055.024

[Musik]

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auch sie die strenge Messung der Silbe hat aufgeben müssen, pbo_055.002
die Freiheit, ihre Accente beliebig über den Vers und keineswegs pbo_055.003
bloß auf die guten Taktteile zu verteilen. Es hat lange pbo_055.004
gedauert, bis man (nachhaltig erst durch Opitz) zum theoretischen pbo_055.005
Bewußtsein dieser Unterschiede gekommen ist. Die Schwere pbo_055.006
und Korrektheit unserer Wortbetonung, die sich unter allen pbo_055.007
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uns die andre Weise mitzumachen. Der alte deutsche Vers pbo_055.009
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Anzahl von starken Betonungen (Stäben), die er ursprünglich pbo_055.011
noch durch gleichen Anlaut (Allitteration) kenntlich pbo_055.012
machte, ohne gleiche Taktierung. Später wurden unter dem pbo_055.013
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beschränkt und ausgeglichen. Allein die Freiheit, den Schwachton pbo_055.017
(die Senkung) ganz auslassen zu dürfen, eine ganze Silbennote pbo_055.018
in den Takt zu setzen, behielt der deutsche Vers gleichsam pbo_055.019
als Wahrzeichen des ausschließlichen Starkton-(Hebungs)- pbo_055.020
prinzips in ganz anderer Ausdehnung bei, als sie sich analog pbo_055.021
in der antiken Silbenmessung findet. Ein viersilbiger Vers wie

pbo_055.022

[Musik]

pbo_055.023
hat vier Takte genau wie der zehnsilbige

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[55/0059] pbo_055.001 auch sie die strenge Messung der Silbe hat aufgeben müssen, pbo_055.002 die Freiheit, ihre Accente beliebig über den Vers und keineswegs pbo_055.003 bloß auf die guten Taktteile zu verteilen. Es hat lange pbo_055.004 gedauert, bis man (nachhaltig erst durch Opitz) zum theoretischen pbo_055.005 Bewußtsein dieser Unterschiede gekommen ist. Die Schwere pbo_055.006 und Korrektheit unserer Wortbetonung, die sich unter allen pbo_055.007 Umständen auf dieselben Silben, die Stammsilben wirft, hindert pbo_055.008 uns die andre Weise mitzumachen. Der alte deutsche Vers pbo_055.009 beschränkte sich ganz ausschließlich auf Jnnehaltung einer bestimmten pbo_055.010 Anzahl von starken Betonungen (Stäben), die er ursprünglich pbo_055.011 noch durch gleichen Anlaut (Allitteration) kenntlich pbo_055.012 machte, ohne gleiche Taktierung. Später wurden unter dem pbo_055.013 stetigen Einfluß der antiken und romanischen Metrik die Takte pbo_055.014 mehr ausgebaut, die Anzahl der den starktonigen Versstäben pbo_055.015 (Hebungen) beigegebenen schwach betonten Silben (Senkungen) pbo_055.016 beschränkt und ausgeglichen. Allein die Freiheit, den Schwachton pbo_055.017 (die Senkung) ganz auslassen zu dürfen, eine ganze Silbennote pbo_055.018 in den Takt zu setzen, behielt der deutsche Vers gleichsam pbo_055.019 als Wahrzeichen des ausschließlichen Starkton-(Hebungs)- pbo_055.020 prinzips in ganz anderer Ausdehnung bei, als sie sich analog pbo_055.021 in der antiken Silbenmessung findet. Ein viersilbiger Vers wie pbo_055.022 [Abbildung] pbo_055.023 hat vier Takte genau wie der zehnsilbige pbo_055.024 [Abbildung]

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/59>, abgerufen am 06.05.2024.