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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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herangezogen, der den alten Hirten, den einzigen lebenden pbo_111.002
Zeugen seiner Aussetzung, kommen läßt, um, wie er hofft, endgültig pbo_111.003
von der Furcht vor dem Fluche befreit zu werden, aber pbo_111.004
grade durch ihn die Gewißheit seiner Herkunft und damit die pbo_111.005
furchtbare Begründung des Fluches erfährt. Wir können hier pbo_111.006
als ebenso auffallend die "Braut von Messina" unseres Schiller pbo_111.007
anführen, in der die feindlichen Brüder beide die friedliche pbo_111.008
Begleicherin ihres Geschicks gefunden zu haben wähnen, während pbo_111.009
der wissende Zuschauer ahnt, daß es die eigene Schwester pbo_111.010
und die letzte, tödliche Entfesslerin ihrer Rivalität sein müsse. pbo_111.011
Hinwiederum findet die ausgestoßene, um den ermordeten pbo_111.012
Vater und die geschändete Familienehre trauernde Elektra auf pbo_111.013
den Höhepunkt der Verzweiflung den Mann, den sie als pbo_111.014
rächenden, schützenden Bruder erkennt. Ebenso findet bei pbo_111.015
Goethe der von Furien verfolgte Orest in dem Augenblicke, pbo_111.016
da er geopfert werden soll, die Schwester Jphigenie als versöhnende pbo_111.017
Priesterin der ihn heilenden Göttin.

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Es ist schon aus diesen Beispielen klar, daß Erkennungen pbo_111.019
(Aristoteles: anagnoriseis) in der Peripetie eine pbo_111.020
große Rolle spielen werden. Und zwar nicht bloß Erkennungen pbo_111.021
der entscheidenden Personen an sich, sondern der um sie verflochtenen pbo_111.022
besonderen Bezüge und Verhältnisse, die den Gang pbo_111.023
des Dramas bestimmen. Die Dramatiker sichern sich gern pbo_111.024
die augenfällige Bewährung, Bestätigung der Erkennung durch pbo_111.025
Ringe, Briefe, körperliche, sonst verhüllte Kennzeichen, Male, pbo_111.026
Wundnarben. Doch darf dies äußere Erkennen nur ein letztes pbo_111.027
Siegel des inneren Erkennens der Sympathie, der gemütlichen pbo_111.028
Bezüge sein, nicht umgekehrt diese sich an jene anspinnen. pbo_111.029
Jn diesem Sinne grade eine auf das Trügliche der Erkennungsmerkmale pbo_111.030
gegründete Peripetie sollte die des unvollendeten pbo_111.031
Schillerschen "Demetrius" werden.

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Begleicherin ihres Geschicks gefunden zu haben wähnen, während pbo_111.009
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und die letzte, tödliche Entfesslerin ihrer Rivalität sein müsse. pbo_111.011
Hinwiederum findet die ausgestoßene, um den ermordeten pbo_111.012
Vater und die geschändete Familienehre trauernde Elektra auf pbo_111.013
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rächenden, schützenden Bruder erkennt. Ebenso findet bei pbo_111.015
Goethe der von Furien verfolgte Orest in dem Augenblicke, pbo_111.016
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Priesterin der ihn heilenden Göttin.

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Es ist schon aus diesen Beispielen klar, daß Erkennungen pbo_111.019
(Aristoteles: ἀναγνωρίσεις) in der Peripetie eine pbo_111.020
große Rolle spielen werden. Und zwar nicht bloß Erkennungen pbo_111.021
der entscheidenden Personen an sich, sondern der um sie verflochtenen pbo_111.022
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des Dramas bestimmen. Die Dramatiker sichern sich gern pbo_111.024
die augenfällige Bewährung, Bestätigung der Erkennung durch pbo_111.025
Ringe, Briefe, körperliche, sonst verhüllte Kennzeichen, Male, pbo_111.026
Wundnarben. Doch darf dies äußere Erkennen nur ein letztes pbo_111.027
Siegel des inneren Erkennens der Sympathie, der gemütlichen pbo_111.028
Bezüge sein, nicht umgekehrt diese sich an jene anspinnen. pbo_111.029
Jn diesem Sinne grade eine auf das Trügliche der Erkennungsmerkmale pbo_111.030
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Schillerschen „Demetrius“ werden.

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/115>, abgerufen am 30.04.2024.