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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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Raserei, so ist sie in Epigrammen die kürzeste" Wernicke) pbo_103.002
Unter dem Titel "Epigramm" (Aufschrift) faßt die antike pbo_103.003
Poetik alles zusammen, was in der kurzen knappen Form pbo_103.004
(gewöhnlich des einfachen Distichon: Hexameter und Pentameter pbo_103.005
s. S. 85) sich vereinigt. Da Kürze des Witzes Seele ist, pbo_103.006
so wird freilich die komische Pointe gerade hier vorzugsweise pbo_103.007
Bewährung suchen, wie wir es noch heute in den Stichelversen pbo_103.008
der Bergbewohner beobachten können. Komische Wendung pbo_103.009
zumal mit aggressiver Spitze (der "Stachel" des Epigrammes pbo_103.010
vgl. Goethe und Schillers "Xenien" nach dem pbo_103.011
Muster des römischen Epigrammatikers Martial) ist aber pbo_103.012
keineswegs der ausschließliche, ursprüngliche Charakter des pbo_103.013
Epigramms als eines kurzen "Sinngedichts." Getreu pbo_103.014
seiner Grundbedeutung als Aufschrift kann es ebenso ernste pbo_103.015
und empfehlende Wendungen bringen, als komische und tadelnde. pbo_103.016
Grab- und Lobschriften auf Denkmalen sind der sinnfällige pbo_103.017
Ausdruck dieser abweichenden Grundrichtungen des Epigramms. pbo_103.018
Das Epigramm bildet so den Ausgangspunkt für drei wesentliche pbo_103.019
Richtungen der Poesie, die auch unmittelbar ins dramatische pbo_103.020
und epische Gebiet übergreifen können: nämlich die pbo_103.021
satyrische, die elegische und die panegyrische Richtung.

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Jn der Satyre (von lat. satura lanx, volle Schüssel, pbo_103.023
jedenfalls unter Einwirkung der Namensform der komischen pbo_103.024
Wald- und Feldgottheiten) vereinigt sich gleichsam ein Schwarm pbo_103.025
von Stachelversen, um einen einzigen Gegenstand von allen pbo_103.026
Seiten anzufallen (Juvenal). Jn der Elegie (Erklärung pbo_103.027
ungewiß: von einem klagenden Refrain \e lege; eu legein?) pbo_103.028
knüpft sich eine Reihe ernster, nicht gerade immer schwermütiger pbo_103.029
Betrachtungen an eine einzige, gehaltene Empfindung pbo_103.030
abschließender Einsicht, notwendiger Resignation. Jhre Form pbo_103.031
ist das fortgesetzte Distichon des Epigramms (Elegeion).

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und epische Gebiet übergreifen können: nämlich die pbo_103.021
satyrische, die elegische und die panegyrische Richtung.

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jedenfalls unter Einwirkung der Namensform der komischen pbo_103.024
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[103/0107] pbo_103.001 Raserei, so ist sie in Epigrammen die kürzeste“ Wernicke) pbo_103.002 Unter dem Titel „Epigramm“ (Aufschrift) faßt die antike pbo_103.003 Poetik alles zusammen, was in der kurzen knappen Form pbo_103.004 (gewöhnlich des einfachen Distichon: Hexameter und Pentameter pbo_103.005 s. S. 85) sich vereinigt. Da Kürze des Witzes Seele ist, pbo_103.006 so wird freilich die komische Pointe gerade hier vorzugsweise pbo_103.007 Bewährung suchen, wie wir es noch heute in den Stichelversen pbo_103.008 der Bergbewohner beobachten können. Komische Wendung pbo_103.009 zumal mit aggressiver Spitze (der „Stachel“ des Epigrammes pbo_103.010 vgl. Goethe und Schillers „Xenien“ nach dem pbo_103.011 Muster des römischen Epigrammatikers Martial) ist aber pbo_103.012 keineswegs der ausschließliche, ursprüngliche Charakter des pbo_103.013 Epigramms als eines kurzen „Sinngedichts.“ Getreu pbo_103.014 seiner Grundbedeutung als Aufschrift kann es ebenso ernste pbo_103.015 und empfehlende Wendungen bringen, als komische und tadelnde. pbo_103.016 Grab- und Lobschriften auf Denkmalen sind der sinnfällige pbo_103.017 Ausdruck dieser abweichenden Grundrichtungen des Epigramms. pbo_103.018 Das Epigramm bildet so den Ausgangspunkt für drei wesentliche pbo_103.019 Richtungen der Poesie, die auch unmittelbar ins dramatische pbo_103.020 und epische Gebiet übergreifen können: nämlich die pbo_103.021 satyrische, die elegische und die panegyrische Richtung. pbo_103.022 Jn der Satyre (von lat. satura lanx, volle Schüssel, pbo_103.023 jedenfalls unter Einwirkung der Namensform der komischen pbo_103.024 Wald- und Feldgottheiten) vereinigt sich gleichsam ein Schwarm pbo_103.025 von Stachelversen, um einen einzigen Gegenstand von allen pbo_103.026 Seiten anzufallen (Juvenal). Jn der Elegie (Erklärung pbo_103.027 ungewiß: von einem klagenden Refrain \̓ε λέγε; εὖ λέγειν?) pbo_103.028 knüpft sich eine Reihe ernster, nicht gerade immer schwermütiger pbo_103.029 Betrachtungen an eine einzige, gehaltene Empfindung pbo_103.030 abschließender Einsicht, notwendiger Resignation. Jhre Form pbo_103.031 ist das fortgesetzte Distichon des Epigramms (Elegeion).

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/107>, abgerufen am 23.11.2024.