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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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Kapitel 1. Lyrik.
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§ 61. Musikalische Beziehung.

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Jn der Strophe erreicht die poetische Form den Punkt pbo_099.004
der Reife, wo sie das schließende Gefäß für den in sie ausströmenden pbo_099.005
Jnhalt wird. Diese vollständige Deckung der poetischen pbo_099.006
Absicht mit ihrem engsten Ausdruck scheint nur möglich pbo_099.007
in jenem ursprünglichen Momente poetischer Aussprache, wobei pbo_099.008
die Beziehung auf das musikalische Moment in ihr noch als pbo_099.009
eine notwendige und unmittelbare empfunden wird. Die Gattung pbo_099.010
poetischen Schaffens, welche hieran Teil hat, führt ihren pbo_099.011
Namen vom Gesangbegleitungsinstrument der Griechen: pbo_099.012
lyrische Dichtung, Lyrik.

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§ 62. Der Dichter selbst als Held des lyrischen Gedichts.

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"Jch singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen pbo_099.015
wohnet, das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, pbo_099.016
der reichlich lohnet" bekennt der Goethische "Sänger". Er pbo_099.017
hat damit den Kern aller Dichtung bloßgelegt, der in der pbo_099.018
Lyrik am reinsten, noch völlig unverhüllt vom umschließenden pbo_099.019
Weltstoff des Epos und Dramas, zu Tage tritt. Der Dichter pbo_099.020
selbst ist der Held des lyrischen Gedichts. Sein Lieben und pbo_099.021
Hassen, seine Lust und Qual, sein Erkennen und Wollen selbst pbo_099.022
wird Gegenstand der poetischen Anschauung. Sich davon zu pbo_099.023
befreien, die Stürme seines menschlichen Jchs aus dem reinen pbo_099.024
inneren Selbst auszuscheiden und so zu bemeistern, darum pbo_099.025
singt der echte Dichter. Es giebt keine Beziehung und pbo_099.026
keinen Zustand menschlichen Gefühls, keinen Grad menschlicher pbo_099.027
Leidenschaft, der in der Lyrik nicht zum Ausdruck gelangen pbo_099.028
könnte.

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/103>, abgerufen am 30.04.2024.