Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos weil sie Achtung verdienen. Mir ist Victor Hugo ein solcher. Seine Vorzüge sehe ich mit großen Augen, seine Fehler wie zwischen Schlafen und Wa¬ chen an. Ich entschuldige sie und wenn ich das Buch zu Ende gelesen, habe ich sie vergessen. Aber dieses Mal kann ich nicht. Ich habe das vor fünfzehen Jahren kommen sehen, ich habe seitdem oft davon gesprochen. Es herrscht jetzt ein Terrorismus, ein Sanscülotismus, ein Jacobinismus (drei Worte wie Kampher, die Censurmotten abzuhalten) in der französischen Litteratur. Es ist der Uebergang vom Despotismus zur constitutionellen Freiheit. Sie haben noch nicht gelernt Freiheit mit Ordnung paaren. Jede Regel ist ihnen Tyrannei, jeder Anstand Ari¬ stokratismus, Tugend, Schönheit und Würde -- in der Kunst -- sind ihnen Vorrechte. Sie nivelliren alles, sie dutzen alles. Sie sagen: Bürger Gott, Bürger Teufel, Bürger Pfarrer, Bürger Henker. Sie dulden keine Kleidung an nichts, und hätte sie die Natur selbst angemessen. So führt Despotie auch in der Kunst zur Anarchie. Die alte französi¬ sche Kunst ging im Reifrocke; das war lächerlich, ab¬ geschmackt, ungesund, naturwidrig. Aber zwischen Reifrock und Haut liegt noch manches Kleidungs¬ stück, man soll die Kunst nicht bis auf das Hemd ausziehen. Sie wollen es nackt -- gut es sei; man
Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos weil ſie Achtung verdienen. Mir iſt Victor Hugo ein ſolcher. Seine Vorzüge ſehe ich mit großen Augen, ſeine Fehler wie zwiſchen Schlafen und Wa¬ chen an. Ich entſchuldige ſie und wenn ich das Buch zu Ende geleſen, habe ich ſie vergeſſen. Aber dieſes Mal kann ich nicht. Ich habe das vor fünfzehen Jahren kommen ſehen, ich habe ſeitdem oft davon geſprochen. Es herrſcht jetzt ein Terrorismus, ein Sanscülotismus, ein Jacobinismus (drei Worte wie Kampher, die Cenſurmotten abzuhalten) in der franzöſiſchen Litteratur. Es iſt der Uebergang vom Despotismus zur conſtitutionellen Freiheit. Sie haben noch nicht gelernt Freiheit mit Ordnung paaren. Jede Regel iſt ihnen Tyrannei, jeder Anſtand Ari¬ ſtokratismus, Tugend, Schönheit und Würde — in der Kunſt — ſind ihnen Vorrechte. Sie nivelliren alles, ſie dutzen alles. Sie ſagen: Bürger Gott, Bürger Teufel, Bürger Pfarrer, Bürger Henker. Sie dulden keine Kleidung an nichts, und hätte ſie die Natur ſelbſt angemeſſen. So führt Despotie auch in der Kunſt zur Anarchie. Die alte franzöſi¬ ſche Kunſt ging im Reifrocke; das war lächerlich, ab¬ geſchmackt, ungeſund, naturwidrig. Aber zwiſchen Reifrock und Haut liegt noch manches Kleidungs¬ ſtück, man ſoll die Kunſt nicht bis auf das Hemd ausziehen. Sie wollen es nackt — gut es ſei; man
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0080"n="68"/>
Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos<lb/>
weil ſie Achtung verdienen. Mir iſt Victor Hugo<lb/>
ein ſolcher. Seine Vorzüge ſehe ich mit großen<lb/>
Augen, ſeine Fehler wie zwiſchen Schlafen und Wa¬<lb/>
chen an. Ich entſchuldige ſie und wenn ich das<lb/>
Buch zu Ende geleſen, habe ich ſie vergeſſen. Aber<lb/>
dieſes Mal kann ich nicht. Ich habe das vor<lb/>
fünfzehen Jahren kommen ſehen, ich habe ſeitdem oft<lb/>
davon geſprochen. Es herrſcht jetzt ein Terrorismus,<lb/>
ein Sanscülotismus, ein Jacobinismus (drei Worte<lb/>
wie Kampher, die Cenſurmotten abzuhalten) in der<lb/>
franzöſiſchen Litteratur. Es iſt der Uebergang vom<lb/>
Despotismus zur conſtitutionellen Freiheit. Sie haben<lb/>
noch nicht gelernt Freiheit mit Ordnung paaren.<lb/>
Jede Regel iſt ihnen Tyrannei, jeder Anſtand Ari¬<lb/>ſtokratismus, Tugend, Schönheit und Würde — in<lb/>
der Kunſt —ſind ihnen Vorrechte. Sie nivelliren<lb/>
alles, ſie dutzen alles. Sie ſagen: Bürger Gott,<lb/>
Bürger Teufel, Bürger Pfarrer, Bürger Henker.<lb/>
Sie dulden keine Kleidung an nichts, und hätte ſie<lb/>
die Natur ſelbſt angemeſſen. So führt Despotie<lb/>
auch in der Kunſt zur Anarchie. Die alte franzöſi¬<lb/>ſche Kunſt ging im Reifrocke; das war lächerlich, ab¬<lb/>
geſchmackt, ungeſund, naturwidrig. Aber zwiſchen<lb/>
Reifrock und Haut liegt noch manches Kleidungs¬<lb/>ſtück, man ſoll die Kunſt nicht bis auf das Hemd<lb/>
ausziehen. Sie wollen es nackt — gut es ſei; man<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[68/0080]
Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos
weil ſie Achtung verdienen. Mir iſt Victor Hugo
ein ſolcher. Seine Vorzüge ſehe ich mit großen
Augen, ſeine Fehler wie zwiſchen Schlafen und Wa¬
chen an. Ich entſchuldige ſie und wenn ich das
Buch zu Ende geleſen, habe ich ſie vergeſſen. Aber
dieſes Mal kann ich nicht. Ich habe das vor
fünfzehen Jahren kommen ſehen, ich habe ſeitdem oft
davon geſprochen. Es herrſcht jetzt ein Terrorismus,
ein Sanscülotismus, ein Jacobinismus (drei Worte
wie Kampher, die Cenſurmotten abzuhalten) in der
franzöſiſchen Litteratur. Es iſt der Uebergang vom
Despotismus zur conſtitutionellen Freiheit. Sie haben
noch nicht gelernt Freiheit mit Ordnung paaren.
Jede Regel iſt ihnen Tyrannei, jeder Anſtand Ari¬
ſtokratismus, Tugend, Schönheit und Würde — in
der Kunſt — ſind ihnen Vorrechte. Sie nivelliren
alles, ſie dutzen alles. Sie ſagen: Bürger Gott,
Bürger Teufel, Bürger Pfarrer, Bürger Henker.
Sie dulden keine Kleidung an nichts, und hätte ſie
die Natur ſelbſt angemeſſen. So führt Despotie
auch in der Kunſt zur Anarchie. Die alte franzöſi¬
ſche Kunſt ging im Reifrocke; das war lächerlich, ab¬
geſchmackt, ungeſund, naturwidrig. Aber zwiſchen
Reifrock und Haut liegt noch manches Kleidungs¬
ſtück, man ſoll die Kunſt nicht bis auf das Hemd
ausziehen. Sie wollen es nackt — gut es ſei; man
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/80>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.