Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834.Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0080" n="68"/> Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos<lb/> weil ſie Achtung verdienen. Mir iſt Victor Hugo<lb/> ein ſolcher. Seine Vorzüge ſehe ich mit großen<lb/> Augen, ſeine Fehler wie zwiſchen Schlafen und Wa¬<lb/> chen an. Ich entſchuldige ſie und wenn ich das<lb/> Buch zu Ende geleſen, habe ich ſie vergeſſen. Aber<lb/> dieſes Mal kann ich nicht. Ich habe das vor<lb/> fünfzehen Jahren kommen ſehen, ich habe ſeitdem oft<lb/> davon geſprochen. Es herrſcht jetzt ein Terrorismus,<lb/> ein Sanscülotismus, ein Jacobinismus (drei Worte<lb/> wie Kampher, die Cenſurmotten abzuhalten) in der<lb/> franzöſiſchen Litteratur. Es iſt der Uebergang vom<lb/> Despotismus zur conſtitutionellen Freiheit. Sie haben<lb/> noch nicht gelernt Freiheit mit Ordnung paaren.<lb/> Jede Regel iſt ihnen Tyrannei, jeder Anſtand Ari¬<lb/> ſtokratismus, Tugend, Schönheit und Würde — in<lb/> der Kunſt — ſind ihnen Vorrechte. Sie nivelliren<lb/> alles, ſie dutzen alles. Sie ſagen: Bürger Gott,<lb/> Bürger Teufel, Bürger Pfarrer, Bürger Henker.<lb/> Sie dulden keine Kleidung an nichts, und hätte ſie<lb/> die Natur ſelbſt angemeſſen. So führt Despotie<lb/> auch in der Kunſt zur Anarchie. Die alte franzöſi¬<lb/> ſche Kunſt ging im Reifrocke; das war lächerlich, ab¬<lb/> geſchmackt, ungeſund, naturwidrig. Aber zwiſchen<lb/> Reifrock und Haut liegt noch manches Kleidungs¬<lb/> ſtück, man ſoll die Kunſt nicht bis auf das Hemd<lb/> ausziehen. Sie wollen es nackt — gut es ſei; man<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [68/0080]
Werke nämlich; liebt mit freier Liebe, nicht blos
weil ſie Achtung verdienen. Mir iſt Victor Hugo
ein ſolcher. Seine Vorzüge ſehe ich mit großen
Augen, ſeine Fehler wie zwiſchen Schlafen und Wa¬
chen an. Ich entſchuldige ſie und wenn ich das
Buch zu Ende geleſen, habe ich ſie vergeſſen. Aber
dieſes Mal kann ich nicht. Ich habe das vor
fünfzehen Jahren kommen ſehen, ich habe ſeitdem oft
davon geſprochen. Es herrſcht jetzt ein Terrorismus,
ein Sanscülotismus, ein Jacobinismus (drei Worte
wie Kampher, die Cenſurmotten abzuhalten) in der
franzöſiſchen Litteratur. Es iſt der Uebergang vom
Despotismus zur conſtitutionellen Freiheit. Sie haben
noch nicht gelernt Freiheit mit Ordnung paaren.
Jede Regel iſt ihnen Tyrannei, jeder Anſtand Ari¬
ſtokratismus, Tugend, Schönheit und Würde — in
der Kunſt — ſind ihnen Vorrechte. Sie nivelliren
alles, ſie dutzen alles. Sie ſagen: Bürger Gott,
Bürger Teufel, Bürger Pfarrer, Bürger Henker.
Sie dulden keine Kleidung an nichts, und hätte ſie
die Natur ſelbſt angemeſſen. So führt Despotie
auch in der Kunſt zur Anarchie. Die alte franzöſi¬
ſche Kunſt ging im Reifrocke; das war lächerlich, ab¬
geſchmackt, ungeſund, naturwidrig. Aber zwiſchen
Reifrock und Haut liegt noch manches Kleidungs¬
ſtück, man ſoll die Kunſt nicht bis auf das Hemd
ausziehen. Sie wollen es nackt — gut es ſei; man
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