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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834.

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duldet der Himmel? Das heißt nicht die Mensch¬
heit, daß heißt Gott selbst in den Koth treten. Aber
nicht an Nicolaus allein denke ich; so schuldig er ist,
er hat es nicht verdient unsern ganzen Fluch zu tra¬
gen. Er ist nur der gefällige Wirth, er gab seinen
königlichen Brüdern ein königliches Schauspiel. Denn
es ist kein Fürst in Europa, der nicht aus seiner
Lage dieses blutige Schauspiel mit Wollust ansähe,
und nicht dabei auf sein eignes Volk hinabschielte und
ihm den stummen Wunsch zugrinste: nun wohl be¬
komme euch diese Lehre!

Der Haß und der Ekel steigen mir manchmal bis
an den Hals hinauf und da werde ich meiner Wün¬
sche und selbst meiner Verwünschungen überdrüßig.
Es sind jetzt fünfzig Jahre daß die europäische
Menschheit aus ihrem Fieberschlummer erwachte, und
als sie aufstehen wollte, sich an Händen und Füßen
gekettet fand. Fesseln trug sie immer, aber sie hatte
es nicht gefühlt in ihrer Krankheit. Seitdem kämpf¬
ten die Völker mit ihren Unterdrückern. Und rechnet
man jetzt zusammen all das edle Blut das vergossen
worden, all den schönen Heldenmuth, all den Geist,
alle die Menschenkraft die verbraucht worden, alle
die Schätze, die Reichthümer, drei kommenden Ge¬
schlechtern abgeborgt, die verschlungen worden -- und
wofür? für das Recht frei zu sein, für das Glück,
auf den Punkt zu kommen wo man aufhört Schulden

duldet der Himmel? Das heißt nicht die Menſch¬
heit, daß heißt Gott ſelbſt in den Koth treten. Aber
nicht an Nicolaus allein denke ich; ſo ſchuldig er iſt,
er hat es nicht verdient unſern ganzen Fluch zu tra¬
gen. Er iſt nur der gefällige Wirth, er gab ſeinen
königlichen Brüdern ein königliches Schauſpiel. Denn
es iſt kein Fürſt in Europa, der nicht aus ſeiner
Lage dieſes blutige Schauſpiel mit Wolluſt anſähe,
und nicht dabei auf ſein eignes Volk hinabſchielte und
ihm den ſtummen Wunſch zugrinſte: nun wohl be¬
komme euch dieſe Lehre!

Der Haß und der Ekel ſteigen mir manchmal bis
an den Hals hinauf und da werde ich meiner Wün¬
ſche und ſelbſt meiner Verwünſchungen überdrüßig.
Es ſind jetzt fünfzig Jahre daß die europäiſche
Menſchheit aus ihrem Fieberſchlummer erwachte, und
als ſie aufſtehen wollte, ſich an Händen und Füßen
gekettet fand. Feſſeln trug ſie immer, aber ſie hatte
es nicht gefühlt in ihrer Krankheit. Seitdem kämpf¬
ten die Völker mit ihren Unterdrückern. Und rechnet
man jetzt zuſammen all das edle Blut das vergoſſen
worden, all den ſchönen Heldenmuth, all den Geiſt,
alle die Menſchenkraft die verbraucht worden, alle
die Schätze, die Reichthümer, drei kommenden Ge¬
ſchlechtern abgeborgt, die verſchlungen worden — und
wofür? für das Recht frei zu ſein, für das Glück,
auf den Punkt zu kommen wo man aufhört Schulden

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[120/0132] duldet der Himmel? Das heißt nicht die Menſch¬ heit, daß heißt Gott ſelbſt in den Koth treten. Aber nicht an Nicolaus allein denke ich; ſo ſchuldig er iſt, er hat es nicht verdient unſern ganzen Fluch zu tra¬ gen. Er iſt nur der gefällige Wirth, er gab ſeinen königlichen Brüdern ein königliches Schauſpiel. Denn es iſt kein Fürſt in Europa, der nicht aus ſeiner Lage dieſes blutige Schauſpiel mit Wolluſt anſähe, und nicht dabei auf ſein eignes Volk hinabſchielte und ihm den ſtummen Wunſch zugrinſte: nun wohl be¬ komme euch dieſe Lehre! Der Haß und der Ekel ſteigen mir manchmal bis an den Hals hinauf und da werde ich meiner Wün¬ ſche und ſelbſt meiner Verwünſchungen überdrüßig. Es ſind jetzt fünfzig Jahre daß die europäiſche Menſchheit aus ihrem Fieberſchlummer erwachte, und als ſie aufſtehen wollte, ſich an Händen und Füßen gekettet fand. Feſſeln trug ſie immer, aber ſie hatte es nicht gefühlt in ihrer Krankheit. Seitdem kämpf¬ ten die Völker mit ihren Unterdrückern. Und rechnet man jetzt zuſammen all das edle Blut das vergoſſen worden, all den ſchönen Heldenmuth, all den Geiſt, alle die Menſchenkraft die verbraucht worden, alle die Schätze, die Reichthümer, drei kommenden Ge¬ ſchlechtern abgeborgt, die verſchlungen worden — und wofür? für das Recht frei zu ſein, für das Glück, auf den Punkt zu kommen wo man aufhört Schulden

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/132>, abgerufen am 28.04.2024.